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Freitag, 27. September 2024

Verletzung rechtlichen Gehörs: Urteilsgrundlage Kenntnisse des Gerichts aus einem Vorprozess

Die Beklagten hatten von der Klägerin Räume zum Betrieb eines Shisha-Cafés angemietet (Mietvertrag vom 06.09.2018). Die Beklagten erklärten am 10.09.2018 nach Abschluss des Mietvertrages mit anwaltlichen Schreiben die Anfechtung des Mietvertrags. Die Klägerin kündigte mit Schreiben vom 24.10.2018 das Mietverhältnis wegen Zahlungsverzugs fristlos und forderte die Beklagten zur Räumung und Herausgabe der Schlüssel auf; zu einer Schlüsselrückgabe kam es nicht. Mit rechtskräftigen Urteil des Landgerichts vom 20.04.2020 stellte dieses fest, dass die Anfechtung des Mietvertrages durch die Beklagten wegen arglistiger Täuschung wirksam gewesen sei.

Mit ihrer Klage in 2021 forderte die Klägerin die Zahlung eines Betrages, der der Miete für den Zeitraum Oktober 2018 bis Juni 2019 entsprach. Die Klage wurde vom Landgericht abgewiesen. Das Oberlandesgericht erhob im Rahmen der von der Klägerin eingelegten Berufung Beweis zu der beklagtenseits behaupteten versuchten Schlüsselübergabe und wies sodann die Berufung zurück. Dagegen legte die Klägerin Nichtzulassungsbeschwerde ein, mit der sie die Zulassung der Revision begehrte.

Der BGH beschloss nach § 544 Abs. 9 ZPO die Revision zuzulassen und hob gleichzeitig die Aufhebung des Urteils des OLG und Zurückverweisung des Rechtstreits an das OLG. Nach § 544 Abs. 9 ZPO kann der BGH verfahren, wenn das Berufungsgericht den Anspruch des Beschwerdeführers in rechtserheblicher Weise verletzt hat.

Diese Verletzung des rechtlichen Gehörs nahm der BGH an:

Das OLG habe zwar festgesellt, dass die Beklagten mir ihrer Rückgebeverpflichtung in Verzug gekommen seien, da sie die Schlüssel nicht zurückgegeben hätten. Auch könne ein verzugsbedingter kausaler Schaden der Klägerin dadurch entstanden sein, da sie als Zwischenmieterin weiter zur Zahlung der Miete an die Vermieterin verpflichtet gewesen sei. Aber die Klägerin habe nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme endgültig in einem Telefonat mit dem Zeugen F. die die angebotene Rückgabe der Schlüssel abgelehnt. Der Zeuge F. habe auch als vertretungsberechtigt für die Klägerin angesehen werden können (wenn er auch nicht Geschäftsführer gewesen sei), da er der maßgebliche Gesprächspartner auf Seiten der Klägerin gewesen sei, wie sich aus dem Vorprozess ergebe.

Art. 103 Abs. 1 GG gewähre den Parteien ein Recht darauf, dass sie Gelegenheit erhalten müssten, im Prozess zu Wort zu kommen und das nur die Tatsachen und Beweismittel verwertet werden. zu denen auch Stellung bezogen werden könne. Indem das OLG unter Bezugnahme auf den Vorprozess feststellte, der Zeuge F. sei maßgeblicher Ansprechpartner auf Seiten der Klägerin, ohne der Klägerin zuvor die Möglichkeit im anhängenden Verfahren zu geben, dazu Stellung zu nehmen, sei dieses Recht verletzt worden. So seien hier im Verfahren weder das im Vorprozess ergangene Urteil noch andere Schriftstücke aus diesem Verfahren vorgelegt worden, noch sei die Beiziehung der Akte des Vorprozesses angeregt oder beantragt worden. Selbst wenn es sich um eine gerichtskundige Tatsache gehandelt haben sollte, dürfe ein Gericht wegen Art. 103 Abs. 1 GG diese Tatsache nicht seiner Entscheidung zugrunde legen, ohne den Parteien Gelegenheit zur Stellungnahme zu gewähren (BVerfG, Beschluss vom 17.09.2020 - 2 BvR 1605/26 -).

Für die prozessuale Folge der Aufhebung des Urteils und Zurückverweisung ist neben der Verletzung des rechtlichen Gehörs auch erforderlich, dass das Urteil darauf beruht. Dies bejahte der BGH, da nicht ausgeschlossen werden könne, dass bei Vermeidung dieses Verstoßes ein Schadensersatzanspruch der Klägerin wegen Verzugs gem. §§ 280 Abs. 1 und 2m 286 BGB bejaht und der Klage damit stattgegeben worden wäre.

BGH, Beschluss vom 29.11.2023 - XII ZR 36/23 -

Mittwoch, 8. Mai 2024

Ohne vorherigen Hinweis unterlassene (vorgesehene) Beweisaufnahme

Streitgegenständlich war der Vorsteuerabzug aus einer Rechnung der N-GmbH. Hier wurde der Zeuge D. vom Finanzgericht (FG) zum Beweisthema „Dienstleistungen der N-GmbH an den Kläger im Zeitraum Januar 2016 bis einschließlich September 2016“ zur mündlichen Verhandlung geladen, erschien aber nicht. Der Kläger beantragte hilfsweise, den Zeugen erneut zu laden und zum Beweisthema zu vernehmen. Das FG wies die Klage ab. Die Beschwerde des Klägers führte zur Aufhebung des Urteils und Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Finanzgericht.

Es läge ein Verfahrensmangel iSv. § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO vor. Da das FG habe den Zeugen zur mündlichen Verhandlung geladen; wolle es von dessen Vernehmung dann absehen, müsse es die beteiligten vor Erlass des Urteils unmissverständlich darauf hinweisen. Würde dieser Hinweis unterbleiben, sei der Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt. Dies wurde vom BFH damit begründet, dass mit dem (förmlichen) Beweisbeschluss eine Verfahrenslage entstünde, auf welche die Beteiligten ihre Prozessführung einrichten dürften mit der Folge, dass sie davon ausgehen dürften, dass klein Urteil vor vollständiger Ausführung des Beweisbeschlusses ergehen würde. Wolle das Gericht von einer (weiteren) Beweisaufnahme absehen, müsse es daher vor Erlass des Urteils unmissverständlich zum Ausdruck bringen, dass es den Beweisbeschluss als erledigt betrachte.  Dies gelte auch dann, wenn kein Beweisbeschluss ergingen sei, aber ein Zeuge gem. § 79 Abs. 1 FGO S. 2 Nr. 6 FGO zum Termin geladen worden sei (wie im vorliegenden Verfahren).  

Der Hinweis sei nur entbehrlich, wenn das Gericht aufgrund besonderer objektiver Umstände ausnahmsweise davon ausgehen durfte, dass sich die Beweisaufnahme auch aus Sicht der Beteiligten zweifelsfrei erledigt habe, ohne dass es eines entsprechenden Hinweises bedürfte.

Bei Annahme einer Gehörsverletzung ergäbe sich der Verfahrensmangel, auf dem das Urteil nach § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO beruhen müsse, direkt aus § 119 Nr. 3 FGO. Selbst würde man § 119 Nr. 3 FGO nicht anwenden, würde das Urteil auf dem Verfahrensmangel beruhen, da dafür die vorliegend zu bejahende Möglichkeit ausreiche, dass die Entscheidung bei Erhebung des Beweises anders ausgefallen wäre (BFH, Beschluss vom 19.09.2014 - IX B 101/13 -). Dabei sei vom BFH berücksichtigt worden, dass das FG seine Entscheidung auch mit ernstlichen Zweifeln an der tatsächlichen Leistungserbringungen begründet habe und den Kläger als „feststellungsbelastet“ angesehen habe, weshalb bei einer Zeugenvernehmung eine anderweitige Beurteilung möglich gewesen sei.

Nicht zu entscheiden sei, ob darüber hinaus ein Verstoß gegen die Sachaufklärungspflicht vorlag.

BFH, Beschluss vom 04.04.2024 - V B 12/23 -

Dienstag, 16. April 2024

Zulassung einer Rechtsbeschwerde (§ 70 FamFG) nach Anhörungsrüge ?

Im Rahmen eines Streits über eine Betreuervergütung hatte die Beteiligte zu 1. gegen die Festsetzung durch das Amtsgericht Beschwerde eingelegt, die vom Landgericht zurückgewiesen wurde und die Zulassung der Rechtsbeschwerde abgelehnt. Auf die Anhörungsrüge hin hatte das Landgericht zwar dieser in der Sache den Erfolg versagt, allerdings mit der Begründung die Rechtsbeschwerde zugelassen, da es zur Zulassungsentscheidung das rechtliche Gehör der Beteiligten zu 1. verletzt habe, insoweit es die in der Rügeschrift benannten Fundstellen abweichender rechtlicher Beurteilungen zur Sache nicht berücksichtigt habe.  

Der BGH hatte (gleichwohl) die Rechtsbeschwerde mangels wirksamer Zulassung nach § 70 FamFG als nicht statthaft und damit unzulässig verworfen. Danach hat der BGH die Ordnungsgemäßheit der Zulassung der Rechtsbeschwerde, die nach einer Anhörungsrüge erfolge, selbst insoweit zu prüfen, ob diese die Voraussetzungen für die Zulassung begründe.

Zulässig sei eine Rechtsbeschwerde nach § 70 Abs. 1 FamFG dann, wenn diese in der Beschlussformel oder den Gründen vom Beschwerdegericht zugelassen würde. Dies war hier nicht der Fall gewesen. Vielmehr erfolgte erst nachträglich, nachdem die Beteiligte zu 1. Anhörungsrüge erhoben hatte. Diese nachträgliche Zulassung würde aber den BGH entgegen § 70 Abs. 2 S. 2 FamFG nicht binden; die nachträgliche Zulassung sie entbehre einer verfahrensrechtlichen Grundlage. Zwar könne das Beschwerdegericht auch nachträglich im Rahmen einer ordnungsgemäßen Anhörungsrüge (§ 44 FamFG) eine Rechtsbeschwerde bindend zulassen, wenn ein Verstoß gegen das zu gewährende rechtliche Gehör eines Beteiligten vorgelegen habe (BGH, Beschluss vom 14.06.2023 - XII ZB 517/22 -). Vom Grundsatz könne das Unterlassen einer Rechtsbeschwerde nicht das rechtliche Gehör verletzen, weshalb die nachträgliche Zulassung, wenn das Beschwerdegericht bei seiner ursprünglichen Entscheidung über die Nichtzulassung der Rechtsbeschwerde Vortrag der Verfahrensbeteiligten im Hinblick auf die Zulassungsentscheidung verfahrensfehlerhaft übergangen habe oder infolge der Anhörungsrüge das Verfahren fortgesetzt werde und sich erst dann aus dem sodann gewährtem rechtlichen Gehör ein Grund für die Zulassung ergäbe (BGH, Beschluss vom 14.06.2023 - XII ZB 517/22 -).

Beide Varianten lagen im vorliegenden Fall nicht vor. Es wurde im Rahmen der ursprünglichen Entscheidung über die Nichtzulassung der Rechtsbeschwerde durch das Beschwerdegericht kein Vortrag der beteiligten zu 1. übergangen. Erstmals im Rahmen der Anhörungsrüge seien von der Beteiligten zu 1. Fundstelen für abweichende rechtliche Beurteilungen im Hinblick auf die Sachentscheidung benannt worden, die in der Beschwerdeentscheidung nicht einbezogen worden seien. Eine Gehörsverletzung schloss der BGH aus, da es sich nicht um Vortrag im Rahmen des Beschwerdeverfahrens bis zur Beschwerdeentscheidung gehandelt habe, dieser also nicht habe übergangen werden können, sondern erstmals im Rahmen der Anhörungsrüge eingeführt worden sei. Von daher habe nicht gestützt darauf die Zulassung der Rechtsbeschwerde erfolgen können. Da zudem das Beschwerdegericht das Verfahren auch mangels eines Gehörsverstoßes nicht fortgesetzt habe (§ 44 Abs. 5 FamFG), habe sich ein Zulassungsgrund für die Rechtsbeschwerde auch nicht im Rahmen einer Fortsetzung des Verfahrens ergeben können. Der BGH wies aber auch darauf hin, dass selbst bei einer Fortsetzung des Verfahrens durch das Beschwerdegericht vorliegend nicht die Zulassung der Rechtsbeschwerde hätte rechtfertigen können, da eine Gehörsverletzung durch die Beteiligte zu 1. nicht dargelegt worden sei und damit das Verfahren nicht hätte fortgeführt werden dürfen mit der Folge, dass eine Zulassung der Rechtsbeschwerde wegen dieses Verfahrensverstoßes auch unzulässig wäre. Die Entscheidung des Beschwerdegerichts zur Frage der Fortführung nach einer Anhörungsrüge entfalte keine Bindungswirkung und sei vom BGH selbst zu überprüfen.

BGH, Beschluss vom 18.10.2023 - XII ZB 169/23 -

Sonntag, 14. April 2024

Verletzung rechtlichen Gehörs bei Verzicht auf Einholung eines Sachverständigengutachtens

Vorliegend ging es um Schadensersatzansprüche der klagenden Dienstherrin  aus einem Verkehrsunfall, den diese durch Fortzahlung von Bezügen und Versorgungsleistungen an den Geschädigten (städtischer Feuerwehrbeamter) erlitten haben will. Das OLG hatte im Berufungsverfahren statt der für einen Zeitraum vom 01.04.2011 bis 31.12.2016 geltend gemachten Bezüge nur solche für einen Zeitraum vom 01.04.2011 bis 31.08.2012 zuerkannt. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin hatte insoweit Erfolg und führte dazu, dass das Urteil des OLG aufgehoben und das Verfahren an dieses zurückverwiesen wurde.

Das OLG habe seine teilweise Klageabweisung darauf gestützt, dass der Geschädigte gegen seine Obliegenheit zur Schadensminderung (§ 254 Abs. 2 BGB) verstoßen habe (was relevant wäre, da ein Mitverschulden des Beschäftigten im Regress des Arbeitgebers zu Lasten des Arbeitgebers zu berücksichtigen wäre, vgl. z.B. § 6 Abs. 2 EntgFG). Voraussetzung für eine Kürzung der Schadensersatzansprüche des Geschädigten wegen unzureichender Anstrengungen zur Aufnahme einer erneuten Erwerbstätigkeit sei zunächst die Feststellung, dass der Geschädigte nach der Verletzung noch oder wieder arbeitsfähig sei. Diesbezüglich sei der Schädiger darlegungs- und beweisbelastet. Erst im zweiten Schritt, soweit die Frage der Möglichkeit des Einsatzes der festgestellten verbliebenen Arbeitskraft in Rede stünde, treffe den Geschädigten (bzw. bei auf den Arbeitgeber/Dienstherrn übergegangenen Ansprüchen diesen) die sekundäre Darlegungslast. Der Geschädigte habe sei er wieder (teil-) arbeitsfähig in der Regel den Schädiger über die für ihn zumutbaren Arbeitsmöglichkeiten ebenso wie zu seinen Bemühungen, einen angemessenen Arbeitsplatz zu finden, zu informieren. 

Vorliegend habe das OLG aus einer Bescheinigung des Hausarztes des Geschädigten sowie einem Befundbericht der den Geschädigten behandelnden Psychotherapeutin zwar die dort benannten gesundheitlichen Beeinträchtigungen als gegeben unterstellt, allerdings nicht die auf diesen Diagnosen beruhende Einschätzung der behandelnden Ärzte zur Arbeitsfähigkeit des Geschädigten. So habe der Hausarzt angegeben, dass für den Geschädigten aufgrund von Hand- und Rückensituation körperlich belastenden Tätigkeiten und administrative Tätigkeiten allenfalls drei Stunden/Tag möglich seien und ebenso Minijobs mit leichter körperlicher Belastung; die Psychotherapeutin sei zu dem Ergebnis gelangt, wegen vorhandener und nicht revisibler psychischer Beeinträchtigungen sei für den Zeitraum 2012 bis 31.12.2016 von einer anhaltenden Erwerbsunfähigkeit auszugehen. 

Das OLG habe sich damit bei der Beurteilung der Arbeitsfähigkeit „medizinische Sachkunde angemaßt“, deren Voraussetzungen es den Parteien nicht offengelegt habe; es sei das rechtliche Gehör (Art. 103 GG) verletzt worden. Bei den vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen handele es sich auch nicht - wie vom OLG vertreten – um „bloße Behauptungen“ der Klägerin, sondern um einen qualifizierten Sachvortrag zur Arbeitsfähigkeit des Geschädigten, weshalb das OLG nicht eine Arbeitsfähigkeit nicht hätte bejahen dürfen, ohne sich auf das Gutachten eines hinsichtlich der berührten medizinischen Bereiche fachärztlich qualifizierten Sachverständigen zu stützen. Hier wäre der vom Gericht zu beauftragende medizinische Sachverständige zu befragen gewesen, ob die vom Kläger ausgeübten Tätigkeiten aus medizinischer Sicht gegen die Annahme einer eingeschränkten Arbeitsfähigkeit des Geschädigten sprechen. Die Angaben des Geschädigten zu diesen Tätigkeiten, Vermietung einer Ferienwohnung zusammen mit seiner Frau bei einem wöchentlichen Zeitaufwand von zwei Stunden, die Öffnung einer vom Geschädigten betriebenen Galerie lediglich an Wochenenden, seien (was die Nichtzulassungsbeschwerde gerügt hatte) vom OLG übergangen worden und wären in dem vorgenannten Zusammenhang zu berücksichtigen. Der Schluss des OLG von der Ausübung einer geringfügigen Tätigkeit für die Caritas auf eine Arbeitsfähigkeit bis zum Umfang einer Vollbeschäftigung sei - unabhängig von der dem OLG fehlenden medizinischen Sachkunde -  auf der Grundlage der vom OLG getroffenen Feststellungen auch nicht nachvollziehbar, wobei auch hier das OLG nicht auf den Einwand der Klägerin eingegangen sei, der Geschädigte sei selbst von dieser Tätigkeit körperlich und psychisch überfordert gewesen. 

Zudem sei auch die Auffassung des OLG unzutreffend, dass im Falle der Feststellung unzureichender Erwerbsbemühungen durch den Geschädigten, sich dessen Anspruch (und damit der Anspruch der Dienstherrin aus übergegangenen Recht) nicht beziffern ließe. Es seien hier die erzielbaren (fiktiven) Einkünfte auf den (unter Beachtung der Darlegungs- und Beweislast des Anspruchsstellers festzustellenden) Verdienstausfallschaden anzurechnen. Entsprechend der Darlegungslast zum Obliegenheitsverstoß sei auch die Höhe der fiktiven Einkünfte bei hinreichenden Erwerbsbemühungen des Geschädigten grundsätzlich vom Schädiger darzulegen (BGH, Urteil vom 24.01.2023 - VI ZR 152/21 -). 

BGH, Beschluss vom 12.03.2023 - VI ZR 283/21 -

Freitag, 1. März 2024

Überraschungsentscheidung bei Ausbleiben des Klägers im Termin beim Finanzgericht

Im Streit war die Zurechnung von Einkünften aus Vermietung und Verpachtung. Die Klägerin behauptete, der Beigeladene habe die Vermietung (in dem in ihrem Eigentum stehenden Haus) als Eigengeschäft behandelt, demgegenüber das Finanzamt (FA) die Einkünfte der Klägerin zurechnete. Zu dem vom Finanzgericht anberaumten Termin erschien die Klägerin nicht (was bei einem Verfahren vor dem Finanzgericht für die Beteiligten grundsätzlich nicht notwendig ist). Die Klage wurde vom Finanzgericht (FG)als unbegründet abgewiesen. Zwar habe der Beigeladene bei Abschluss und Durchführung der Mietverträge im eigenen Namen gehandelt, doch seien die Einkünfte ihr aus einem Treuhandverhältnis zuzurechnen. Diese Annahme sei gerechtfertigt, da die Klägerin die Einnahmen aus Vermietung und Verpachtung über Jahre erklärt habe und erstmals im Streitjahr in Abrede gestellt habe. 

Die gegen das Urteil eingelegte Beschwerde zum BFH hatte Erfolg und führte zur Zurückweisung an das Finanzgericht. Der BFH sah in dem Urteil eine Überraschungsentscheidung, weshalb der Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör verletzt worden sei. 

 Eine Überraschungsentscheidung läge vor, wenn das FG sein Urteil auf einen bis dahin nicht erörterten oder bekannt rechtlichen Gesichtspunkt stütze und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gebe, mit der ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretener Auffassungen nicht rechnen müsse. Dies sei insbesondere der Fall, wenn der entscheidungserhebliche Umstand erst im Endurteil benannt würde (BFH, Beschluss vom 23.02.2017 - IX B 2/17 -). Zwar müsse ein (wie hier gar durch einen Steuerberater sachkundig vertretener) Verfahrensbeteiligter alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte in Betracht ziehen und seinen Vortrag darauf einstellen, auch wenn die Rechtsalge umstritten oder problematisch sei (BVerfG, Beschluss vom 19.05.1992 –-1 BvR 986/91 -). Allerdings müsse er nicht damit rechnen, dass seine Klage aus einem Grund abgewiesen würde, der weder die Beteiligten noch das Gericht zuvor in das Verfahren eingeführt hätten. 

Zudem müsse das FG im Falle des Ausbleibens eines Beteiligten nach pflichtgemäßen Ermessen prüfen, ob es gleichwohl in der Sache entscheidet oder den Termin vertagt. Im Rahmen dessen sei es verpflichtet zu vertagen, wenn die Entscheidung aufgrund tatsächlicher oder rechtlicher Gesichtspunkte erfolgen könnte, zu denen den Beteiligten bisher kein rechtliches Gehör gewährt wurde (BFH, Beschluss vom 19.05.2020 - VII B 114/19 -). 

Vorliegend habe das FG den Gesichtspunkt des Treuhandverhältnisses erstmals im Urteil in das Verfahren eingeführt. Vorher sei dies weder im Veranlagungs- noch im Einspruchsverfahren und auch nicht in wechselseitigen Schriftsätzen im Verfahren angesprochen worden. Ebenso lässt sich aus dem Protokoll der Verhandlung nicht ersehen, dass ein Hinweis erfolgt wäre. 

Da in der Nichtteilnahme an der mündlichen Verhandlung kein Verzicht auf die Einhaltung von Verfahrensvorschriften iSv. § 295 ZPO iVm. § 155 FGO läge, habe die Klägerin ihr Rügerecht nicht durch Unterlassen einer rechtzeitigen Rüge beim FG verloren. Denn auch wenn die Klägerin an der Verhandlung teilgenommen hätte, hätte sie erst aus dem Urteil erfahren, dass sich das FG auf einen bisher nicht erörterten Gesichtspunkt stützt. 

Das FG würde nun unter Berücksichtigung des Vortrags der Parteien zu prüfen haben, ob und in welchem Umfang das von ihm angenommene Treuhandverhältnis den Anforderungen der Rechtsprechung (so BFH, Urteil vom 12.07.2016 – IX R 21/15 -) sowie den Anforderungen an Verträgen zwischen Angehörigen (§ 15 Abs. 2 Nr. 1 AO) entspreche. 

BFH, Beschluss vom 10.01.2024 - IX B 9/23 -

Samstag, 18. November 2023

Rechtliches Gehör: Übergehen des Kerninhalts des eingeführten Privatgutachtens

Die Klägerin machte aus nach § 86 VVG die auf sie übergegangenen Schadensersatzansprüche im Zusammenhang mit einem Brandschaden gegen die beklagte Herstellerin einer Geschirrspülmaschine geltend, die nach der Behauptung der Klägerin ursächlich für den Brand gewesen sein soll. Die Klage und die Berufung gegen das klageabweisende Urteil wurden zurückgewiesen. Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin hob der BGH das Berufungsurteil des OLG auf und verwies den Rechtsstreit an dieses zurück.

Die Aufhebung und Zurückverwesung erfolgte, da sich das OLG als Berufungsgericht nach Auffassung des BGH mit dem wesentlichen Vortrag der Klägerin zum konkreten Brandherd hinter einem Bedientableau der Geschirrspülmaschine sowie zum Ausschluss anderweitiger Brandursachen nicht auseinandergesetzt und dadurch die Klägerin in entscheidungserheblicher Weise in ihrem Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 GG) verletzt habe. Das Gebot des rechtlichen Gehörs verpflichte Gerichte dazu, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in ihre Erwägungen einzubeziehen. Zwar müsse sich das Gericht nicht mit jedem von einer Partei vorgebrachten Gesichtspunkt auseinandersetzen (vgl. auch § 313 Abs. 2 ZPO), doch müsse es auf den Kern der Tatsachenvortrages einer Partei eingehen, der für das Verfahren von zentraler Bedeutung sei (BVerfG, Beschluss vom 25.09.2020 - 2 BvR 854/20 -), was sich aus den Entscheidungsgründen erkennen lassen müsse (BGH, Beschluss vom 13.01.2015 - VI ZR 204/14 -).

Zwar habe das OLG im Tatbestand seines Urteils die Einwendungen der Klägerin umfassend aufgeführt, allerdings ließen die Entscheidungsgründe eine Auseinandersetzung mit den Argumenten der Klägerin nicht erkennen.

Soweit das OLG darauf hingewiesen habe, dass die elektrische Anlage nicht untersucht worden sei, fehle es an einer Auseinandersetzung mit dem auf dem Privatgutachten gestützten Vortrag der Klägerin, wonach die Ursächlichkeit der „elektrischen Anlage“ bzw. der „Elektroinstallation“ bereits aufgrund der zur Verfügung stehenden Bilder des Brandortes, der Auskunft des Netzbetreibers bzw. der im Einzelnen ausgeführten technischen Erwägungen ausgeschlossen werden könne.

Gestützt auf das Privatgutachten hatte die Klägerin im Einzelnen u.a. vorgetragen, dass sich das Feuer ausgehend von der hinter dem Bedienfeld befindlichen Platine nach oben entwickelt habe und dass im unmittelbaren Brandumfeld neben der Geschirrspülmaschine keine weitere Brandursache in Betracht käme. Das Brandbild, welches sich entwickelt habe, könne nur von der bis zum Bedientableau unter Spannung gestandenen Geschirrspülmaschine entwickelt worden sein und nur aufgrund eines technischen Defekts eines elektronischen Bauteils derselben entstanden sein, da andere Zündquellen nicht ersichtlich seien. Auch habe es nach (vorgelegter) Auskunft des Netzbetreibers keine Überspannung gegeben.

Die Erwägung des OLG, die Geschirrspülmaschine sei mittlerweile  entsorgt worden und könne nicht mehr begutachtet werden, weshalb sich die Brandursache nicht mehr feststellen lasse, stelle sich auch nicht als Auseinandersetzung mit dem Vortrag der Klägerin dar, die unter Zugrundlegung des Privatgutachtens darauf hinwies dass mit den Lichtbildern des Brandortes und den – von den Zeugen bekundeten – Erkenntnissen vor Ort ausreichend Indizien für die Brandursächlichkeit eines Produktfehlers bestünden.

Eine Gehörsverletzung muss, damit die Rüge Erfolg hat, entscheidungserheblich sein. Das bejahte der BGH vorliegend, da nicht auszuschließen sei, dass das OLG bei gebotener Auseinandersetzung mit dem privatsachverständig gestützten Vortrag der Klägerin zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre.

Der BGH wies das OLG für das weitere Verfahren darauf hin, dass der Geschädigte nur beweisen müsse, dass ein Schaden im Organisations- und Gefahrenbereich des Herstellers durch einen objektiven Mangel oder Zustand der Verkehrswidrigkeit ausgelöst sei. Nicht aufklären müsse der Geschädigte, ob der Produktfehler auf eine von dem Hersteller zu verantwortende Verletzung der Sorgfaltspflicht zurückzuführen sei und auf welche Weise die (etwaige) Pflichtverletzung zur Fehlerentstehung geführt habe (BGH, Urteil vom 30.04.1991 - VI ZR 178/90 -). Würden nach dem Ergebnis einer Beweisaufnahme alle verbleibenden möglichen Ursachen erwiesenermaßen aus dem Verantwortungsbereich des Herstellers stammen, sei ein Produktfehler nachgewiesen. Dabei käme es nicht darauf an, ob es sich um einen Konstruktions- oder Fabrikationsfehler handele (BGH, Urteil vom 24.11.1976 -VIII ZR 137/75 -).  Der Umstand, dass der angeblich produktfehlerhafte Gegenstand nicht mehr vorhanden sei, schließe den Beweis eines Produktfehlers nicht grundsätzlich aus.

BGH, Beschluss 28.03.2023 - VI ZR 29/21 -

Freitag, 27. Oktober 2023

Videoverhandlung und rechtliches Gehör für präsente Partei

Die Prozessordnungen sehen (teils seit vielen Jahren) die Möglichkeit vor, dass eine Teilnahme an mündlichen Verhandlungen vor Gerichten in Form der Videozuschaltung erfolgt. Seit Corona nimmt diese Art der Verfahrensteilnahme zu. Aber auch hier sind rechtstaatliche Grundsätze zu achten, sowohl im Hinblick auf den per Video zugeschalteten Teilnehmer der Verhandlung, wie auch (wie der der hiesigen Besprechung zugrunde liegende Fall zeigt) der im Gericht anwesenden Teilnehmer.

 Die Klägerin, die Akteneinsicht begehrte und diesbezüglich vor dem Finanzgericht (FG) Klage erhob, nahm an dem vom FG anberaumten Verhandlungstermin vor Ort (in der Person ihres Geschäftsführers) im Gerichtssaal teil. Dem Vertreter des Finanzamtes (FA) war auf Antrag gestattet worden, aus dem Dienstgebäude des FA heraus mittels Videokonferenz an der Verhandlung teilzunehmen, § 91a Abs. 1 S. 1 FGO. Die Klage wurde abgewiesen. Mit der dagegen eingelegten Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision machte die Klägerin u.a. als Verfahrensfehler geltend, dass während der Videoverhandlung das Bild des FA nicht vor ihr auf einem Bildschirm erschien, sondern nur hinter ihr an die Wand projiziert worden sei. Daher habe sich der Geschäftsführer umsehen müssen und so abwechselnd zwischen Richterbank und dem FA wechseln müssen. Das sei unzulässig, da so nicht die Möglichkeit bestanden habe, die Mimik und Gestik aller Teilnehmer der mündlichen Verhandlung zu erfassen. Auch habe der Geschäftsführer einem Redebeitrag des FA erst nach Körperdrehung folgen können, wenn dieser bereits begonnen habe. Das FA wandte u.a. ein, der Geschäftsführer habe die benannten Umstände während der Verhandlung nicht gerügt.

Der BFH gab der Beschwerde statt. Er sah hier eine Verletzung rechtlichen Gehörs (Art. 103 GG), weshalb er das Urteil des FG aufhob und den Rechtsstreit dorthin zurückverwies.

Rechtliches Gehör werde u.a. durch die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung gewährt; Art. 103 Abs. 1 GG setze voraus, dass sich die Verfahrensbeteiligten bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt über den gesamten Verfahrensstoff informieren können (BVerfG, Beschluss vom 08.06.1993 – 1 BvR 878/90 -).  Das Gericht könne den Beteiligten auf Antrag die Teilnahme in Form der „Videoübertragungstechnik“ erlauben, die „ohne Verlust an rechtsstaatlicher Qualität“ genutzt werden dürfe (BT-Drucks. 17/112, S. 10). Das Geschehen müsse vollständig übermittelt werden (dürfe sich also nicht auf einzelne Beteiligte beschränken) und jeder Beteiligte müsse zeitgleich die anderen Beteiligten visuell und akustisch wahrnehmen können.

Zur Verletzung des rechtlichen Gehörs bei Videoübertragungen stellte der BFH fest: Jeder Beteiligte müsse zeitgleich die Richterbank du die anderen Beteiligten visuell und akustisch wahrnehmen können. Daran ermangele es, wenn ein anwesender Beteiligter einen zugeschalteten Beteiligten nur sehen könne, wenn er sich selbst um 180° wenden würde. Dem Geschäftsführer sei es ohne sich entsprechend zu wenden nicht möglich gewesen, den Vertreter des FA bzw. die Richterbank zu sehen; ein zeitgleiches Sehen sei ausgeschlossen gewesen. Damit könnten ihm Einzelheiten, wie Mimik und Gestik, entgehen und - anders als im Rahmen einer Verhandlung in Anwesenheit aller Beteiligter – mögliche nonverbale Kommunikationen zwischen einem Beteiligten und der Richterbank entgehen. Selbst wenn im Regelfall die Beteiligten (Kläger / Beklagte) bei Präsenzverhandlungen nebeneinander sitzen würden, würden sie doch aus den Augenwinkeln eine entsprechende nonverbale Kommunikation mitbekommen können. Auch bestünde durch das widerholte Hin- und herschauen die Gefahr, dass der Geschäftsführer abgelenkt würde und deshalb seine Konzentration auf den Prozessstoff beeinträchtigt würde.

Auch wenn das Finanzgericht in Abwesenheit eines Beteiligten verhandeln und entscheiden könne (§ 91 Abs. 2 FGO), würde der per Videoverhandlung Beteiligte nicht abwesend sein und müsse daher der andere Beteiligte in der Lage sein, dessen verbalen und nonverbalen Äußerungen umfassend wahrzunehmen.

Die Klägerin sei mit ihrer Rüge auch nicht ausgeschlossen. Zwar würde grundsätzlich das Rügerecht gem. § 295 Abs. 1 ZPO iVm. § 155 S. 1 FGO verlorengehen, wenn ein verzichtbares Verfahrensrecht betroffen sei, wobei für den Verlust ausreichend sei, wenn eine rechtzeitige Rüge unterlassen würde. Allerdings würde dies nur in den Fällen angenommen, in denen der Kläger rechtskundig vertreten würde (BFH, Beschluss vom 29.10.2004 – XI B 213/02 -). Im finanzgerichtlichen Verfahren sei die Klägerin nicht rechtskundig vertreten gewesen. Zudem sei bei einer Parallelwertung in der Laiensphäre ein Verfahrensmangel im Hinblick auf den Rahmen der Videoverhandlung nicht ohne weiteres erkennbar.

BFH, Beschluss vom 18.08.2023 - IX B 104/22 -

Samstag, 21. Oktober 2023

Zur Frage des zulässigen Beweismittels: Kamera filmt Beschädigung am abgestellten Kfz

Mit seinem Urteil vom 15.08.2018 - VI ZR 233/17 - hatte der BGH entschieden, dass die permanente und anlasslose Aufzeichnung des Verkehrsgeschehens mit datenschutzrechtlichen Regelungen nicht vereinbar sei. Die Nutzung von Dashcam-Aufzeichnungen, die ein Unfallbeteiligter vom Unfallgesehen gefertigt habe, sei in einem Unfallhaftpflichtprozess gleichwohl verwertbar. Daran anknüpfend entschied das AG Lörrach einen Fall, bei dem mittels einer aufgestellten Wildkamera festgestellt werden sollte, wer ein Fahrzeug durch Beibringung von Kratzern schädigt.

Der Beklagte ist Eigentümer, der Kläger und der Drittwiderbeklagte sind Mieter einer Immobilie, in der neben den benannten auch die Eltern des Klägers und des Beklagten wohnen. Am Fahrzeug des auf dem Grundstück abgestellten Fahrzeugs des Klägers (dessen Eigentum vom Beklagten bestritten wurde) kam es im Zeitraum Oktober und November 2020 zu immer neuen Kratzern an dem Fahrzeug, weshalb der Drittwiderbeklagte am 26.11.2020 (im Einvernehmen mit dem Kläger), nachdem zuletzt neue Kratzer am 20.11.2020 festgestellt wurden, eine Wildkamera aufstellte, die das Fahrzeug und den Hauseingang filmte. Diese nahm nur auf, wenn der Bewegungssensor derselben Bewegungen feststellte. Am 30.11.2020 ist der Beklagte sichtbar, wie er sich - mit einem Schlüssel – am Heck des Fahrzeugs befindet. Den Schaden durch Kratzer verlangte der Kläger vom Beklagten; die Kratzer habe der Beklagte mit einem spitzen Gegenstand, wie einem Schlüssel, hineingeritzt.  Der Beklagte bestritt dies; er habe sich das Fahrzeug nur auf Wunsch seiner Mutter angesehen; zudem sei das Video der Wildkamera unverwertbar. Drittwiderklagend beantragte er festzustellen, dass der Drittwiderbeklagte keine Schadensersatzansprüche gegen ihn im Zusammenhang mit der Schädigung habe. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem Amtsgericht (AG) wurde das sich in der beigezogenen staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakte befindliche Video angesehen.

Das AG stellte zunächst fest, dass der Kläger Eigentümer des Fahrzeugs sei (was bestritten war). Mangels Eigentums hätte ansonsten seine Klage abgewiesen werden müssen. Das AG kam aufgrund der Videoaufzeichnung zu dem Ergebnis, dass der Schaden vom Beklagten verursacht wurde. Damit stellte sich die Frage der Verwertbarkeit der Aufzeichnung.

Dahingestellt ließ das AG, ob die Aufnahmen rechtmäßig waren. Es spräche allerdings vieles dafür, dass sie nach Art. 6 Datenschutzverordnung (DSGVO) unrechtmäßig erfolgten, wobei insbesondere zu berücksichtigen sei, dass die Aufnahmen auf dem Grundstück des Beklagten erfolgten und dieser mithin ohne Kenntnis in seinem privaten Bereich gefilmt wurde. Allerdings würden auch rechtswidrig erlangte Aufnahme nicht zwingend zu einem Beweisverwertungsverbot führen. Das Interesse des Klägers an der Durchsetzung seiner zivilrechtlichen Ansprüche, verankert im Grundgesetz mit dem Anspruch auf rechtliches Gehör gem. Art. 103 GG iVm. dem Interesse an einer funktionierenden Zivilrechtspflege und einer materiell richtigen Entscheidung auf der einen Seite, sei mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Beklagten aus Art. 2 Abs. 1 GG iVm. Art, 1 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Recht auf informelle Selbstbestimmung und ggf. als Recht am eigenen Bild, soweit er auf einer Aufnahme erkennbar sei, abzuwägen (BGH, Urteil vom 15.05.2018 – VI ZR 233/17 -). Nach Maßgabe einer abgestuften Schutzwürdigkeit, in denen sich die Persönlichkeit verwirkliche, würden die sogen. sensitiven Daten (zugeordnet der Intim- und Geheimsphäre) besonderen Schutz genießen. Geschützt sei aber auch das Recht auf Selbstbestimmung bei der Offenbarung persönlicher Lebenssachverhalte, die lediglich zur Sozial- und Privatsphäre gehören würden.

Da die Kamera auf dem eigenen Grundstück des Beklagten aufgestellt gewesen sei und auch der Eingangsbereich des Hauses (und damit das Rein- und Rausgehen des Beklagten) zu sehen sei, sei ein sensibler Bereich betroffen. Man könne davon ausgehen, dass das eigene Grundstück ein geschützter Bereich sei, auf dem auch keine ungenehmigten Videoaufzeichnungen gefertigt werden dürfen. Zu berücksichtigen sei aber dass nur ein kleiner Bereich gefilmt worden sei und im Vordergrund das Fahrzeug zu sehen sei. Auch würde nur ein Teil gefilmt, bei dem man idR. nur kurz durchlaufen würde und keine besondere die Persönlichkeit entfaltende Tätigkeit vornehme. Damit sei die Privatsphäre des Beklagten hier nur in einem untergeordneten Maße betroffen gewesen.

Auf der anderen Seite sei der Kläger in schwerer Beweisnot gewesen. Er hatte in einem kurzen Zeitraum mehrere Beschädigungen an seinem Fahrzeug entdeckt und habe mit weiteren zu rechnen gehabt. Für ihn sei auch nicht auszuschließen gewesen, dass der Beklagte der Täter war (was hier vom AG nicht weiter ausgeführt wurde). Es sei bei dem Kläger das Rechtsgut Eigentum durch Sachbeschädigung betroffen, was als gewichtig anzusehen sei. Er und der Drittwiderbeklagte seien eingriffsschonend vorgegangen; so sei nur eine Wildkamera mit Bewegungssensor aufgestellt worden. Diese sie am 26.11. aufgestellt worden und am 30.11.2022 hätten sich der Kläger und der Drittwiderbeklagte mit dieser Aufnahme begnügt. Es sei ihnen also nur um die Beweissicherung der erfolgten Beschädigung gegangen.

Einer Verwertung der Aufzeichnung stünde nicht das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Beklagten entgegen. Die Privatsphäre des Beklagten sei nicht stark betroffen. Demgegenüber sei die Beweisnot des Klägers als hoch anzusehen. Der Umstand, dass auch Dritte von den Aufnahmen betroffen sein könnten, ändere an der Abwägung nichts. Ihrem Schutz sei durch die Regelungen des Datenschutzes selbst auch Rechnung getragen (BGH aaO.). Für den Kläger spreche dessen Interesse an der materiellen Wahrheit im Zivilprozess. Das Recht am eigenen Bild des Beklagten ändere auch nichts an der Abwägung, da ein Verbreiten nach § 22 KunstUrhG nicht beabsichtigt gewesen sei und auch nicht stattgefunden habe.

Der Beklagte könne sich auch nicht auf das einen ähnlichen Sachverhalt betreffende Urteil des OLG Karlsruhe vom 08.11.2001 – 12 U 180/21 – berufen, da diese vor dem Urteil des BGH zur Dashcam (aaO.). berufen- Das OLG habe auf das Interesse unbeteiligter Dritter abgestellt, was aber nach der BGH-Entscheidung nicht mehr stark zu gewichten sei. Bei dem beklagtenseits benannten Urteil des OLG Köln vom 05.07.2005 – 24 U 12/05 – sei es um Aufzeichnungen in einer Waschküche, und damit einem sensiblen Bereich gegangen, wie er hier nicht vorgelegen habe. Ebenso wenig greife das Urteil des LG Mühlhausen vom 12.05.2020 – 6 O 486/18 – zugunsten des Beklagten, da es sich dort um anlasslose Aufnahmen gehandelt habe, demgegenüber hier die kurzzeitigen Aufnahmen unter schwerer Beweisnot des Klägers bei zu befürchtenden weiteren Schädigungen erfolgt seien.

Der Klage wurde stattgegeben, der Drittwiderklage wurde stattgegeben (darauf wurde oben nicht näher eingegangen).

AG Lörrach, Urteil vom 27.02.2023 - 3 C 111/22 -

Sonntag, 13. August 2023

Schadensersatz für angemietete Ersatzräume und übergangener Beweisantrag zur Gleichwertigkeit

Nachdem ein Mietvertrag nicht durchgeführt werden konnte, stritten die Parteien um die Mehrkosten einer Ersatzimmobilie, die die Mieterin (Klägerin) gegenüber dem mit der Vermieterin (Beklagte) vereinbarten Mietzins aufbringen musste. Hintergrund war die Anmietung von noch vom Vermieter herzustellenden Gewerberäumen in W. (383 qm in einem zur Sanierung vorgesehenen alten Wasserwerk) nebst zwei Pkw-Stellplätzen). Die auf fünf Jahre befristete Mietzeit sollte am 01.07.2019 beginnen, der Mietzins netto € 4.215,59/Monat (entspricht € 10,99/qm) zuzüglich € 70,00 für die Stellplätze betragen. Der Beklagten gelang die Finanzierung nicht. Im Februar 2019 mietete die Beklagte im Hafenviertel von D. gelegene Räumlichkeiten (454 qm) an, und zwar zu € 12,00/qm, wobei ein Teilbetrag davon Entgelt für eine ca. 279 qm große Gemeinschaftsfläche war, zuzüglich € 200,00 für vier Tiefgaragenstellplätze. Mietbeginn war der 01.10.2019, die Mietzeit auf fünf Jahre beschränkt. Am 30.07.2019 erklärte die Beklagte mit der Begründung der Nichtgewährung des vertragsgemäßen Gebrauchs die fristlose Kündigung des Mietvertrages mit der Beklagten und machte Schadenersatzansprüche u.a. in Höhe von € 410,41/Monat für fünf Jahre im Hinblick auf die Mietdifferenz zwischen dem nunmehr angemieteten Objekt und dem von der Beklagten vermieteten Objekt geltend (§ 259 ZPO). Das Landgericht gab der Klage statt. Die Berufung der Beklagten war erfolgreich; das Oberlandesgericht (OLG) hob das Urteil auf und wies die Klage ab. Das OLG negierte die Gleichwertigkeit (bei Annahme eines höheren Gebrauchs- und Nutzwertes der Immobilie in D.) der Mieträume, ohne einen diesbezüglich Sachverständigenbeweis der Klägerin zu erheben. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten führte zur Aufhebung des Urteils des OLG und Zurückverweisung an dieses (§ 544 Abs. 2 9 ZPO).

Der BGH sah die Voraussetzungen für die Zulassung einer Revision als gegeben an, da dies gem. § 543 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 Alt. 2 ZPO zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung geboten sei. Es läge ein Verstoß gegen Art. 103 GG (Verletzung  rechtlichen Gehörs) vor, da das OLG nicht den beklagtenseits angebotenen Sachverständigenbeweis erhoben habe. Nach Art. 103 Abs. 1 GG habe das Gericht die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und zu erwägen. Danach gebiete Art. 103 Abs. 1 GG in Verbindung mit den Grundsätzen der Zivilprozessordnung auch die Berücksichtigung erheblicher Beweisanträge. Deren Nichtberücksichtigung verstoße, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze fände, gegen Art. 103 GG (BGH, Beschluss vom 10.03.2021 - XII ZR 54/20 -). Dies gelte insbesondere auch dann, wenn der Beweisantrag wegen einer bereits gewonnenen Überzeugung kein Gewicht mehr beimesse (BGH, Beschluss vom 10.03.2021 - XII ZR 54/20 -).

Die Klägerin hatte den Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens zum Beweis der Tatsache gestellt, dass die ursprünglich in W. angemieteten Gewerberäume nach Art und Lage gleichwertig mit den in D. gemieteten Gewerberäume sind; sie habe das Übergehen dieses Beweisangebots durch das OLG im Rahmen der Nichtzulassungsbeschwerde gerügt. Dieses Übergehen fände, so der BGH, in der Prozessordnung keine Stütze.

Das Gericht dürfe von der Einholung eines beantragten Sachverständigengutachtens zu entscheidungserheblichen Parteivortrag nur absehen, wenn es selbst über die notwendige Sachkunde zur Beurteilung des Wahrheitsgehalts der unter Beweis gestellten Behauptung verfüge (z.B. BGH, Beschluss vom 09.01.2018 - VI ZR 106/17 -; ständige Rechtsprechung); diese liegen Sachkunde sei in der Entscheidung darzulegen (z.B. BGH, Beschluss vom 12.05.2021 - XII ZR 153/19 - ständige Rechtsprechung). Dem habe das OLG nicht Rechnung getragen und den angebotenen Sachverständigenbeweis erheben müssen, statt eine eigene Wertung vorzunehmen.

Der Mieter, dem die angemieteten Räume nicht zur Verfügung gestellt werden, könne in diesem Fall zur Anmietung von Ersatzräumen berechtigt sein und gegebenenfalls Mehrkosten als Schadensersatz beim Vermieter geltend machen (BGH, Urteil vom 02.11.2016 - XII ZR 153/15 -). Voraussetzung sei, dass der Mieter die Vertragsverletzung des Vermieters berechtigterweise zum Anlass nähme, den Umständen nach angemessene neue Räume anzumieten (BGH aaO.). Vorliegend habe die Klägerin bereits in der Klageschrift die Einholung eines Sachverständigengutachtens dazu beantragt, dass die angemieteten Gewerberäume und das Ersatzobjekt nach Art und Lage gleichwertig seien. Dieser Beweisantrag sei erheblich, da die behauptete Gleichwertigkeit der Räumlichkeiten in D. und W. für die Beurteilung der Angemessenheit der Ersatzräume von Bedeutung sei.

Ohne den Beweisantrag der Klägerin anzusprechen und eine eigene Sachkunde für die Bewertung der Räumlichkeiten darzulegen, habe das OLG den höheren Mietzins der Gewerberäume in D. auf deren höheren Nutz- und Gebrauchswert zurückgeführt. Dies aber käme einer vorweggenommen Beweiswürdigung gleich, die dem Prozessrecht fremd sei.

Bei dem unter Sachverständigenbeweis gestellten Vortrag der Klägerin handele es sich um eine dem Beweis zugängliche Tatsachenfrage. Die Frage der Gleichwertigkeit sei zwar von einer Wertung abhängig, die aber an beweisbare Eigenschaften der Mieträumlichkeiten sowie Bedürfnisse und Wertvorstellungen der maßgeblichen Verkehrskreise, mithin innere und äußere Tatsachen, anknüpfe. Es bedürfe daher regelmäßig zur Ermittlung einer Gebrauchswertdifferenz der Einholung eines Sachverständigengutachtens (BGH, Urteil vom 29.03.2017 - VIII ZR 44/16 -:

„Insbesondere hat das Berufungsgericht nicht berücksichtigt, dass die Feststellung eines streitigen Mietdifferenzschadens nach unberechtigter Wohnungskündigung regelmäßig nur mittels eines Gutachtens eines mit dem örtlichen Mietmarkt vertrauten Sachverständigen möglich sein wird und dieser die erforderlichen (wertenden) Feststellungen zum Wohnwert üblicherweise nach einer Besichtigung zumindest der neuen Wohnung trifft. Es stellte daher eine Überspannung der Substantiierungsanforderungen dar, von der Partei vorab konkrete Darlegungen zur Vergleichbarkeit der Wohnwerte zu verlangen und die Durchführung einer Beweisaufnahme davon abhängig zu machen.“).

Für die Bewertung von Gewerbeimmobilien bedürfe es regelmäßig besonderer Erfahrungen und Kenntnisse über ortsbezogene und wirtschaftliche Begleitumstände sowie die Interessen der am Wirtschaftsleben beteiligten Verkehrskreise, die sich nicht aus einer allgemeinen Lebenserfahrung ergäben und die auch nicht bei den an der Berufungsentscheidung beteiligten Richtern aufgrund ihrer richterlichen Tätigkeit zu unterstellen sei. Eine unterschiedliche Wertigkeit, die evtl. eine Mietdifferenz gerechtfertigt hätte, ergäbe sich nicht bereits aus der Lage der Immobilien und von (vom LG angesprochenen) Nutzungsvorteilen der Ersatzimmobilie. Der Gebrauchswert, auf den es entscheidend ankäme, ergäbe sich aus einer Gesamtschau einer Vielzahl von Faktoren von gegebenenfalls unterschiedlichen Gewicht. Eine einzelne Eigenschaft von Räumlichkeiten (z.B. eine besonders hervorstechendes, einzigartiges Erscheinungsbild) könne den Wert anderer Eigenschaften auf- oder überwiegen und daher den Gebrauchswert maßgeblich bestimmen. Die für de Entscheidung erforderliche Vergleichsbetrachtung könne sich daher nicht in einer Gegenüberstellung einzelner wertbildender Eigenschaften erschöpfen.

BGH, Beschluss vom 26.04.2023 - XII ZR 83/22 -

Donnerstag, 27. April 2023

Anhörungsrüge gegen Beschluss zur vorangegangenen Anhörungsrüge ?

Die Berufung des Klägers gegen ein Urteil eines Arbeitsgerichts wurde vom Landesarbeitsgericht als unzulässig verworfen. Das Landesarbeitsgericht hatte die Revision nicht zugelassen. Hiergegen wurde vom Kläger Nichtzulassungsbeschwerde (§ 72a ArbGG) zum Bundesarbeitsgericht (BAG) eingelegt. Diese wurde vom BAG nicht angenommen. Gemäß § 78a ArbGG erhob der Kläger Anhörungsrüge, die vom BAG zurückgewiesen wurde. Gegen den Zurückweisungsbeschluss erhob der Kläger ebenfalls Anhörungsrüge; diese wurde vom BAG als unzulässig zurückgewiesen.

Die Anhörungsrüge gem. § 78a ArbGG entspricht der Anhörungsrüge nach § 321a ZPO und nach § 178a SGG, 152a VwGO, 133a FGO. Das BAG zeigte die Grenzen der Anhörungsrüge auf, die sich auch aus Sinn und Zweck der Normen erklärt. Sie kann von dem Rechtssuchenden erhoben werden, wenn gegen eine Entscheidung eines Gerichts kein ordentliches Rechtsmittel mehr möglich ist und r der Ansicht ist, die Entscheidung beruht auf einer Verletzung rechtlichen Gehörs (so dem Übergehen von Vortrag und/oder Beweisangeboten).

Vom BAG wurde ausgeführt, dass die weitere Anhörungsrüge unzulässig sei, da ein erneuter Rechtsbehelf gegen einen Beschluss, mit dem eine Anhörungsrüge als unzulässig verworfen bzw. als unbegründet zurückgewiesen wurde, unanfechtbar sei und von daher die Unanfechtbarkeit dieses Beschlusses gem. § 78a Abs. 4 S. 4 ArbGG der erneuten Rüge entgegenstehen würde (BAG, Beschluss vom 19.11.2014 - 10 AZN 618/14 (A); entsprechend zu § 321a Abs. 4 S. 4 ZPO BGH Beschluss vom 02.03.2015 - V ZR 219/13 -). Dies sei auch vom Bundesverfassungsgericht so gesehen worden (BVerfG, Beschluss vom 26.04.2011 - 2 BvR 597/11 -).

Das gelte auch dann, wenn die (erste) Anhörungsrüge wegen Fristversäumnis (es gilt hier eine Notfrist von zwei Wochen, die mit Kenntnis [Zustellung] der Entscheidung, zu der die Anhörungsrüge erhoben wird) zurückgewiesen worden sei und damit keine inhaltliche Entscheidung getroffen wurde.

§ 78a ArbGG (und entsprechendes gilt auch für § 321a ZPO) trage dem Rechtsstaatsprinzip Rechnung, demzufolge dem Rechtssuchenden die Möglichkeit gewährt werden müsse, eine behauptete Verletzung des rechtlichen Gehörs durch das Gericht (also eine Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG) einer einmaligen gerichtlichen Kontrolle zu unterziehen. Käme dies nicht zum Tragen, da es dem Rechtssuchenden nicht gelinge, die gesetzlich vorgeschriebene Formalien einzuhalten, sei das vom Gesetzgeber eröffnete Mindestmaß an Rechtsschutz gewahrt und trete nunmehr das auch im Rechtsstaatsprinzip verankerte Gebot der Rechtssicherheit in den Vordergrund (BVerfG, Beschluss vom 30.04.2003 - 1 PBvU 1/02 -).

Der Beschluss des BVerfG vom 30.04.2003 war Auslöser für die Einfügung der §§ 321a ZPO und 78a ArbGG, da das BVerfG - wohl in Ansehung der Flut von Verfassungsbeschwerden wegen Verletzung rechtlichen Gehörs durch die Fachgerichte - darauf verwies, dass das Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit dem Grundsatz des rechtlichen Gehörs die Möglichkeit fachgerichtlicher Abhilfe im Falle der Verletzung rechtlichen Gehörs fordere und insoweit dem Gesetzgeber eine Frist setzte, dies zu schaffen. Nimmt mithin der Rechtssuchende an, eine Entscheidung eines Gerichts beruhe auf der Verletzung rechtlichen Gehörs, ist nach den nunmehr in den einschlägigen Gesetzen geregelten Gehörsrüge der Rechtssuchende gehalten, eine Anhörungsrüge zu erheben, in der er unter Einhaltung der Frist darlegen muss, worin die Verletzung rechtlichen Gehörs liegt und welche Auswirkungen diese angenommene Verletzung auf den Ausgang des Prozesses hat. Eine Verfassungsbeschwerde wegen der Verletzung rechtlichen Gehörs ist demgegenüber subsidiär, kann also nur erhoben werden, wenn zuvor (erfolglos) die Anhörungsrüge erhoben wurde. Wird der Anhörungsrüge vom Fachgericht nicht stattgegeben, gleich aus welchen Gründen, ist damit auch dann eine weitere Anhörungsrüge ausgeschlossen, wenn das Fachgericht tatsächlich auch bei dieser das rechtliche Gehör verletzt haben würde (was aber dann nicht der Fall wäre, wenn die Anhörungsrüge nicht Frist- und Formgericht erhoben wurde du deshalb zurückgewiesen wurde). Auch weiterhin ist mithin eine Verfassungsbeschwerde gegen eine nicht rechtmittelfähige Entscheidung eines Fachgerichts möglich (§ 13 Nr. 8a BVerfGG iVm. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG). Wird also im Rahmen der Anhörungsrüge durch das Fachgericht dem Erfordernis des rechtlichen Gehörs nicht entsprochen oder beruht die Zurückweisung der Anhörungsrüge als unbegründet (neuerlich) auf einer Verletzung rechtlichen Gehörs, ist nunmehr grundsätzlich für den Rechtssuchenden die Verfassungsbeschwerde eröffnet.

BAG, Beschluss vom 21.03.2023 - 6 AZN 56/23 (F) -

Freitag, 21. April 2023

Substantiierungsanforderung der Geltendmachung von Werklohn auf Stundenlohnbasis

Die Klägerin machte Vergütungsansprüche auf Basis von behaupteten aufgewandten Stunden geltend, die sie mit e 38,00/Stunde netto abrechnete. In der Schlussrechnung wurden die in mehreren Rechnungen bereits berechneten Leistungen Rechnungen von ihr zusammengefasst und die Stunden aufgelistet. Die Auftragserteilungen sollen teilweise durch den Geschäftsführer der Beklagten, teilweise dessen Bauleiter erfolgt sein. Das Landgericht wies die Klage ohne Beweisaufnahme ab, das Oberlandesgericht (OLG) die Berufung mit Beschluss nach § 522 ZPO zurück.

Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin führte zur Aufhebung des Beschlusses des OLG und zur Zurückverweisung an das OLG. Das OLG habe entscheidungserheblich den Anspruch der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt, Art. 103 Abs. 1 GG. Nach Art. 103 Abs. 1 GG müsse das Gericht die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis nehmen und in seine Erwägungen einbeziehen. Dazu gehöre auch, den Kern des Vorbringens der Partei zu erfassen und, wenn es sich um eine zentrale Frage handele, in den Entscheidungsgründen zu bescheiden.  Das rechtliche Gehör sei verletzt, wenn die Begründung nur den Schluss zulasse, dass sie auf einer allenfalls den äußeren Wortlaut, aber nicht den Sinn des Vortrags der Partei erfassenden Wahrnehmung beruht (BGH, Beschluss vom 17.06.2020 - VII ZR 111/19 -).

Zwar wurde von der Klägerin nicht vorgetragen, dass der Bauleiter von der Beklagten bevollmächtigt gewesen sei. Dies sei aber der unter Beweis gestellte Kern der Angaben der Klägerin, in denen sie behauptete, ab dem 13.05.2016 vom Bauleiter oder dem Geschäftsführer der Klägerin oder beiden gemeinschaftlich mit zusätzliche Malerarbeiten beauftragt worden zu sein und der Geschäftsführer der Beklagten haben von den Arbeiten der Klägerin Kenntnis genommen.

Zu den Stundenlohnarbeiten beruhe die Verletzung rechtlichen Gehörs darin, dass das OLG überspannte Substantiierungsanforderungen gestellt habe und deshalb den Sachvortrag der Parteien nicht zur Kenntnis genommen und die angebotenen Beweise erhoben zu haben (BGH, Beschluss vom 10.08.2022 - VII ZR 243/19 -).

Der nach Zeitaufwand abrechnende Unternehmer müsse im Ausgangspukt nur darlegen und gegebenenfalls beweisen, wie viele Stunden er für die Erbringung der Vertragsleistungen mit welchem Stundensatz angefallen seien. Nicht erforderlich sei für eine schlüssige Abrechnung eines Stundenlohnvertrages eine Differenzierung dergestalt, dass die abgerechneten Arbeitsstunden einzelnen Tätigkeiten zugeordnet und/oder nach zeitlichen Abschnitten aufgeschlüsselt würden, auch wenn dies sinnvoll sein mag. Erforderlich sei dies nicht, weil die Bemessung und damit die im Vergütungsprozess angestrebte Rechtsfolge nicht davon abhängig sei, wenn der Unternehmer welche Tätigkeiten ausführte, weshalb eine entsprechende Angabe nur erforderlich sei, wenn die Vertragsparteien eine entsprechende detaillierte Abrechnung vereinbart hätten (BGH, Urteil vom 17.04.2009 - VII ZR 164/07 -). Ohne eine entsprechende Vereinbarung sei es Sache des Bestellers, eine Begrenzung der Stundenlohnvergütung dadurch zu bewirken, dass er Tatsachen vorträgt, aus denen sich die Unwirtschaftlichkeit der Betriebsführung des Unternehmers ergebe (BGH, Urteil vom 17.04.2009 - VII ZR 164/07 -).

Damit seien die Angaben der Klägerin zur Anspruchshöhe schlüssig gewesen. Sie habe angegeben, dass sie für insgesamt 15 Häuser Malerarbeiten durchgeführt habe, bei den Häusern 1 - 6 und 15 sowohl im Innen- wie auch im Außenbereich, bei den Häusern 7 - 14 nur im Außenbereich. Sie habe auch ausgeführt, wie viele Stunden auf welche Gewerke entfallen wären. Soweit im Streitstünde, ob es sich bei den abgerechneten Stunden um Nachbesserungsarbeiten gehandelt habe, obläge es der Beklagten als Besteller, diese Umstände darzulegen.

BGH, Beschluss vom 01.02.2023 - VII ZR 882/21 -

Donnerstag, 6. Oktober 2022

Arzthaftung: Anhörung des Patienten zum Entscheidungskonflikt bei korrekter Aufklärung

Der Kläger wurde vom beklagten Augenarzt behandelt. Es erfolgte ein refraktiver Eingriff bei Kurzsichtigkeit. In Vollnarkose erfolgte eine LASIK-Laserbehandlung, bei der es infolge des Kneifens des Auges zu einer Dezentrierung des Laserschnitts kam. Der Beklagte brach daraufhin die LASIK-Behandlung ab und führte  eine photoreaktive EXCIMER-Laserbehandlung (PRK) durch. Einige Zeit später behandelte er das andere Auge des Klägers ebenfalls eine Revisions-PRK durch.  Der Kläger machte fortbestehende Sehbeschwerden und Augentrockenheit als Folge der Behandlung geltend; er rügte eine vom Beklagten unterlassene Aufklärung über die Risiken der Operation. Das Landgericht wies die Klage ab; die Berufung des Klägers wurde mit Beschluss nach § 522 ZPO zurückgewiesen. Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers bei dem BGH wurde der Beschluss des OLG aufgehoben und der Rechtsstreit an dieses zurückverwiesen.

Das OLG unterstellte zugunsten des Klägers eine unterlassene Aufklärung des Klägers über die Risiken einer PRK-Operationstechnik, ferner, dass es sich dabei um eine Behandlungsalternative zum LASIK-Verfahren handele. Eine Anhörung des Klägers sei nicht erforderlich, da eine hypothetische Einwilligung des Klägers vorläge; einen Entscheidungskonflikt habe der Kläger nicht plausibel schriftsätzlich dargelegt. Diese Ausführungen des OLG, so der BGH, würden den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör (Art. 103 GG) entscheidungserheblich verletzen.

Genüge die ärztliche Aufklärung nicht den an sie zu stellenden Anforderungen könne der behandelnde Arzt geltend machen, dass der Patient auch bei einer ordnungsgemäßen Aufklärung in die verwandte Behandlungsmethode eingewilligt hätte, § 630h Abs. 2 S. 2 BGB. Die Nachweispflicht dafür obläge dem Arzt. Allerdings setze dies voraus, dass zuvor der Patient zur Überzeugung des Tatrichters plausibel mache, dass er bei einer rechtzeitigen ordnungsgemäßen Aufklärung über Risiken des Eingriffs vor einem echten Entscheidungskonflikt gestanden hätte (so bereits BGH, Urteil vom 21.05.2019 - VI ZR 119/18 -). Dabei könnten an die Substantiierungsanforderung zu einem solchen Konflikt keine zu hohen Anforderungen gestellt werden. Entscheidend sei die persönliche Entscheidungssituation des jeweiligen Patienten; nicht käme es darauf an, was aus ärztlicher Sicht erforderlich oder sinnvoll sei und wie ein „vernünftiger Patient“ entscheiden würde. Das Gericht dürfe seine persönliche Beurteilung nicht an die Stelle des Patienten setzen. Gedankliche Voraussetzung des Entscheidungskonflikts wie der hypothetischen Einwilligung insgesamt sei stets die Hypothese einer ordnungsgemäßen, insbesondere auch vollständigen Aufklärung.

Die Entscheidung, wie der Patient unter der genannten Voraussetzung entschieden hätte und darüber, ob für ihn eine Entscheidungskonflikt vorlag, dürfe der Tatrichter nicht ohne persönliche Anhörung des Patienten treffen. So würde verhindert, dass das Gericht vorschnell auf bei objektiver Betrachtung als naheliegend oder vernünftig  erscheinende Umstände abstelle. Er müsse auch möglicherweise weniger naheliegende oder auch unvernünftig erscheinende Erwägungen des Patienten in Betracht ziehen. Durch die persönliche Anhörung soll es dem Gericht ermöglicht werden, den anwaltlich vorgetragenen Gründen für und gegen einen Entscheidungskonflikt  durch konkrete Nachfragen nachzugehen und sie aufgrund des gewonnenen persönlichen Eindrucks vom Patienten sachgerecht bewerten zu können. Nur dann, wenn die unstreitigen äußeren Umstände eine sichere Beurteilung der hypothetischen Entscheidungssituation erlauben würden, könne von der Anhörung des Patienten abgesehen werden.

Vorliegend sei schriftsätzlich vorgetragen worden, der Kläger hätte sich gegen eine PRK ausgesprochen, da diese nach seiner Kenntnis nicht unter Vollnarkose durchgeführt würde. Das sei wenig plausibel, da sie vorliegend unter Vollnarkose durchgeführt worden sei. Allerdings sei deswegen ohne Anhörung des Klägers eine sichere Beurteilung nicht ausnahmsweise möglich gewesen, da die äußeren Umstände der Aufklärung und der tatsächlichen Entscheidungssituation des Klägers nicht unstreitig geblieben seien; insbesondere habe das OLG nicht den Inhalt der im Streitfall gebotenen vollständigen Aufklärung definiert und es sei nicht erkennbar, ob der Kläger bei seinen Ausführungen zum Entscheidungskonflikt von der Hypothese einer entsprechenden vollständigen Aufklärung ausgegangen sei.

BGH, Beschluss vom 21.06.2022 - VI ZR 310/21 -

Montag, 12. September 2022

Probleme des Käufers bei Löschung des Nacherbenvermerks im Grundbuch

Im Grundbuch war in Abt. II ein Nacherbenvermerk eingetragen, den der Käufer (Beschwerdeführer) als nunmehr eingetragener Eigentümer gelöscht haben wollte. Nach dem Nacherbenvermerk war die JW in E befreite (Mit-) Vorerbin nach FW, und die ehelichen Abkömmlinge von ihr sollten Nacherben sein, ersatzweise wurden Dritte als Nacharben benannt. Zur Begründung seines Löschungsantrags verwies der Beschwerdeführer darauf, dass in 1963 die die JW und eine weitere Mitvollerbin die Immobilie an G und KL veräußert und aufgelassen worden, wodurch diese aus dem der Nacherbschaft unterliegenden Nachlass ausgeschieden und der grundbuchliche Nacherbenvermerk unrichtig geworden sei. Das Grundbuchamt wies den Löschungsantrag mit der Begründung zurück, vor der Löschung sei rechtliches Gehör zu gewähren, doch seien die (insbesondere ehelichen) Abkömmlinge von JW nicht zu ermitteln und auch kein Zustellungsvertreter oder Pfleger für die unbekannten Nacherben bestellt worden und es sei Sache des Antragstellers (jetzigen Beschwerdeführers) hier die Ermittlungen durchzuführen.

Die Beschwerde dagegen war erfolgreich und führte zur Aufhebung des Beschlusses des Grundbuchamtes und Zurückverweisung an dieses. Sie war zulässig, da hier in Ansehung der §§ 71 ff GBO die Beschränkungen des § 69 Abs. 1 FamFG nicht gelten würden.

Grundsätzlich zutreffend sei die Auffassung des Grundbuchamtes, dass der Nacherbenvermerk u.a. dann gelöscht werden könne, wenn die Unrichtigkeit des Grundbuchs (§ 22 GBO) in der Form des § 29 GBO nachgewiesen sei. Wenn das Grundstück aus dem der Nacherbschaft unterliegenden Nachlass ausgeschieden sei, könne dies der Fall sein. Dass sei dann der Fall, wenn die Verfügung des Vorerben auch ohne Zustimmung der Nacherben wirksam war, da der Vorerbe in vollem Umfang entgeltlich verfügt habe (so auch OLG Düsseldorf, Beschluss vom 19.03.2012 - 3 Wx 299/11 -).

Ebenfalls zutreffend sei die Auffassung des Grundbuchamtes, dass die durch eine Löschung betroffenen Nacherben vor der Löschung anzuhören seien.  

Fehlerhaft sei es allerdings gewesen, dass das Grundbuchamt die Ermittlung der zu beteiligenden Nacherben dem antragstellenden Beteiligten aufgegeben habe. Die materielle Ermittlung träfe das Grundbuchamt, welches dieses von Amts wegen vorzunehmen habe (OLG Düsseldorf aaO.), und dem es bisher nicht vollumfänglich nachgekommen sei. Das Grundbuchamt habe lediglich die alten Grundbuchakten angefordert und über das Grundbuchamt versucht festzustellen, ob die befreite Mitvorerben JW noch im Melderegister eingetragen sei und dort ihre aktuelle Anschrift verzeichnet sei, ferner(vergeblich), ob Nachlassvorgänge zu JW vorhanden seien. Es habe auch die Nachlassakte des Erblassers FW angefordert. Dies sei nicht ausreichend.

So habe das Grundbuchamt nicht abgewartet, bis die angeforderte Nachlassakte des FW vorlag. Aus dessen Testament könnten sich Anschriften ergeben, weshalb sich nach der Einsicht weitere Ermittlungsansätze ergeben könnten. Ferner habe das Grundbuchamt Ermittlungen über das für JW zuständige Standesamt unterlassen (Geburtseintraf, ggf. vorhandener Eintrag in das Eheregister und dort ggf. verzeichnete eheliche Kinder). Auch wären Nachfragen bei den Erben der 2008 verstorbenen Ersatzerbin JS und dem weiteren Ersatzerben für die weitere Ermittlung erforderlich.

Wenn alle Ermittlungsmöglichkeiten fruchtlos ausgeschöpft worden seien, sei vom Grundbuchamt von Amts wegen eine Pflegschaft für unbekannte Beteiligte (§ 1913 BGB) beim zuständigen Gericht anzuregen. Lediglich wenn die Einrichtung einer Pflegschaft vom zuständigen Gericht abgelehnt würde, könne dem Beschwerdeführer im Wege der Zwischenverfügung die Möglichkeit gegeben werden, selbst für eine Pflegerbestellung zu sorgen (OLG Stuttgart, Beschluss vom 13.09.2018 - 20 W 197/18 -; a.A. für den Fall, dass alle Nacharben erst mit dem Eintritt des Nacherbfalls feststehen würden, OLG Frankfurt, Beschluss vom 13.09.2018 - 20 W 197/18 -).

OLG Hamm, Beschluss vom 22.04.2022 - I-15 W 76/22 -

Samstag, 27. August 2022

Zum Substantiierungserfordernis bei Zeugenbenennung

Die Klägerin war im Empfang des von der Beklagten betriebenen Krankenhauses tätig. Im Januar teilte die Beklagte ihr mit, sie wolle sie im Früh- und Spätdienst eisnetzen. Unter Hinweis auf den Grad der Behinderung von 50 begehrte von der Beklagten als Arbeitgeberin, aus gesundheitlichen Gründen nur im Frühdienst eingesetzt zu werden; sie sei nicht in der Lage im Spätdienst bzw. im Wechsel im Früh- wie auch im Spätdienst tätig zu werden und verwies dazu auf Stellungnahmen ihrer behandelnden Ärzte. Eine entsprechende gesundheitliche Beeinträchtigung bestritt die Beklagte unter Verweis auf die Einschätzung ihrer Betriebsärztin. Das Arbeitsgericht gab der Klage statt. Die Berufung der beklagten wurde zurückgewiesen. Auf die Nichtzulassungsbeschwerde zum Bundesarbeitsgericht (BAG) der Beklagten wurde das Berufungsurteil des Landesarbeitsgerichts (LAG) aufgehoben und der Rechtsstreit an dieses zurückverwiesen.

Mit der Nichtzulassungsbeschwerde machte die Beklagte die Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 GG) geltend, da das LAG  von der Vernehmung der von ihr als sachverständigen Zeugin benannten Betriebsärztin abgesehen habe.

Das BAG verwies auf die Rechtsprechung des BGH (Urteile vom 14.01.2020 - VI ZR 97/19 - und vom 15.10.2019 - VI ZR 377/18 -), demzufolge ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG vorläge, wenn das Gericht die an eine hinreichende Substantiierung zu stellenden Anforderungen überspanne und deshalb den Beweis nicht erhebe. § 373 ZPO würde von der Partei, die die Zeugeneinvernahme beantrage, verlangen, den Zeugen zu benennen und die Tatsachen zu bezeichnen, über die der Zeuge vernommen werden soll. Es verlange von der Partei nicht sich dazu zu äußern, welche Anhaltspunkte sie für die Richtigkeit der in das Wissen des Zeugen gestellten Behauptung habe. Die Substantiierungspflicht eines Sachvortrags hänge vom Kenntnisstand der Partei ab (BGH, Urteil vom 14.01.2020, aaO.). Die Partei sei nicht verpflichtet, Ermittlungen von ihr unbekannten Umständen (oder solchen Umständen, die ihr unbekannt sein könnten) vorzunehmen.

Das LAF sei, ohne die Zeugin zu vernehmen, davon ausgegangen, dass die Zeugin nur Schlussfolgerungen tätigen könne, die für die Überzeugungsfindung des Gerichts nicht erheblich seien, da die Beklagte nicht mitgeteilt habe, auf welchen Tatsachen die Schlussfolgerungen beruhen würden. Darin läge der Gehörsverstoß, da nicht ausgeschlossen werden könne, dass das LAG nach deren Vernehmung zu der Überzeugung (§ 286 ZPO) gelangt wäre, dass der Einsatz der Klägerin im Spätdienst bzw. im Wechsel zwischen Früh- und Spätdienst möglich ist.

Das BAG wies ergänzend darauf hin, dass die Klägerin die Betriebsärztin von ihr Schweigepflicht befreien müsse, du für den Fall, dass sie dies unterlässt, dieser Umstand im Rahmen der Beweiswürdigung durch das LAG im Rahmen des § 286 ZPO berücksichtigt werden müsse.

Anmerkung: Nach dem Inhalt des Beschlusses des BAG bezog sich die Klägerin lediglich auf schriftliche Gutachten behandelnder Ärzte, die Beklagte auf das Zeugnis des Betriebsarztes. Bei allen Ärzten handelte es sich um sachverständige Zeugen, wobei die schriftlichen Angaben der die Klägerin behandelnden Ärzte allenfalls als Privaturkunden im Verfahren verwertet werden können (§ 416 ZPO). Die unterschriebene Privaturkunde bezeugt aber grundsätzlich nur, dass sie von dem unterschreibenden Aussteller stammt, nicht deren inhaltliche Richtigkeit (anders öffentliche Urkunden, § 418 ZPO). Ein sachverständiger Zeuge ist auch nur Zeuge, nicht Sachverständiger gem. §§ 402 ff ZPO. Der sachverständige Zeuge ist nicht berufen, Schlussfolgerungen zu ziehen, sondern kann aufgrund seines Sachverstandes nur die Grundlagen klären, die dann letztlich von einem Sachverständigen zu würdigen wären. Mithin könnte nach der Beweiserhebung durch die als Zeugin benannte Betriebsärztin lediglich geklärt werden, welche gesundheitlichen Einschränkungen es bei der Klägerin gibt, dürfte aber nicht geklärt werden, ob dies auch einem Spät- oder Wechseldienst entgegensteht. Dies wäre letztlich durch ein Sachverständigengutachten zu klären. Bestreitet zudem die Beklagte die Richtigkeit der Feststellungen und die Richtigkeit der Schlussfolgerungen in den von der Klägerin vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen, wäre die Klägerin auch hier beweisbelastet für die Richtigkeit, wobei auch insoweit wiederum für die Schlussfolgerung an sich ein Sachverständigengutachten erforderlich wäre.

BAG, Beschluss vom 06.04.2022 -5 AZN 700/21 -

Montag, 3. Januar 2022

Rechtliches Gehör und Kündigung wegen geringer Mietdifferenz über längere Zeit

Die Parteien (Brüder) hatten einen schriftlichen Mietvertrag mit einer Bruttomiete von € 562,42 vereinbart. Nach Darstellung des Beklagten soll die Miethöhe mündlich reduziert worden sein. Der Kläger kündigte fristlos wegen einer Mietdifferenz von € 162,42/Monat für den Zeitraum Januar 2015 bis Januar 2018 und machte die offene Mietdifferenz von € 9.709,54 geltend. Die Klage wurde - auch im Berufungsverfahren vor dem Landgericht - diesbezüglich abgewiesen, da die Beweisaufnahme ergeben habe, dass eine Mietreduzierung vereinbart worden sei. . Auf die Nichtzulassungsbeschwerde hin hob der BGH das Urteil auf und verwies den Rechtsstreit an eine andere Kammer des Landgerichts zurück, § 544 Abs. 9 ZPO.

Der BGH sah eine verfahrenserhebliche Verletzung rechtlichen Gehörs (Art. 103 GG) darin, dass das Landgericht das Vorbringen des Klägers nicht berücksichtigt habe, dass auch bei Zugrundelegung der Zeugenaussagen eine monatliche Mietdifferenz von € 12,42 vorliege. Es läge daher eine nach seiner Ansicht ein nach § 573 Abs. 1 Nr. 2 BGB relevanter Mietrückstand von (mehr als) einer Monatsmiete seit März 2017 vor, der auch bei Ausspruch der Kündigung bestanden habe und bis zu diesem Zeitpunkt noch angestiegen sei. 

Das Gebot des rechtlichen Gehörs erfordere vom erkennenden Gericht, die Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen, ohne dass es allerdings gehalten sei, sich ausdrücklich mit jedem Vorbringen in den Entscheidungsgründen zu befassen. Wenn allerdings im Einzelfall besondere Umstände vorlägen, aus denen sich ergebe, dass tatsächliches Vorbringen nicht zur Kenntnis genommen oder bei der Entscheidung nicht erwogen worden seien, sei ein Verstoß gegen die Pflicht aus Art. 103 Abs. 1 GG gegeben. Hier habe das Landgericht nicht den vom Kläger geltend gemachten Umstand berücksichtigt, dass sich bei der Berechnung der Mietreduzierung von € 562,42 um € 300,00 noch ein Betrag von € 312,42 ergäbe, nicht lediglich von € 300,00, wie vom Beklagten gezahlt. Zudem wurde vom Kläger auf ein Schreiben des Beklagtenvertreters verwiesen, demzufolge der Beklagtenvertreter in einem Schreiben vom 17.09.2009 (unstreitig) eine geschuldete Miete von € 312,00 benannt habe und weder dort noch im Rahmen der Verhandlung vor dem Amtsgericht erklärt hätte, warum er, wenn sich die Miete um € 250,00/Monat reduziert habe, nicht den Differenzbetrag von € 312,42 sondern nur € 300,00 zahle. Zudem habe er geltend gemacht, dass ausgehend von einer Miete in Höhe von € 312,00 im Zeitraum von Januar 2015 bis Januar 2018 ein Mietrückstand von € 444,00 bestünde und damit die fristlose, hilfsweise die ordentliche Kündigung gerechtfertigt sei. Damit und mithin mit der Kernfrage des Rechtsstreits für die (noch) rechtshängigen Ansprüche auf Räumung und Herausgabe und Zahlung von rückständiger Miete) habe sich das Landgericht nicht auseinandergesetzt, also mit der Frage, welche konkrete Miete letztlich geschuldet würde. Es habe das Vorbringen des Klägers ausgeblendet.  Es habe damit einen wesentlichen Punkt des Berufungsvorbringens des Klägers nicht nur im Kern, sondern vollständig übergangen. 

Dies sei aber sowohl für die Berechnung des Zahlungsanspruchs für die Miete als auch für die am 23.01.2018 erklärte (ordentliche) Kündigung von Relevanz gewesen. Bei Beachtung dieses Vorbringens hätte das Berufungsgericht nicht zur vollständigen Abweisung der Berufung gelangen können. Ausgehend von einer Miete in Höhe von € 312,42 hätte sich ein Mietrückstand für die Zeit Januar 2015 bis Januar 2018 von € 459,54 ergeben, was zwar für eine fristlose Kündigung nach § 543 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 Buchst. a und b BGB nicht ausreichend gewesen wäre, allerdings die Voraussetzungen für eine ordentliche Kündigung nach § 573 Abs. 2 Nr. 1 BGB erfüllt hätte, die hilfsweise ausgesprochen worden war, da bis zum Zugang der Kündigungserklärung vom 23.01.2018 ab März 2017 ununterbrochen mehr als € 312,42 an Miete offen gestanden habe (BGH, Urteil vom 10.10.2012 - VIII ZR 107/12 -). Damit hätte das Mietverhältnis mit Ablauf des 31.10.2019 geendet. 

Der BGH ging auch auf die Subsidiarität der Rüge der Gehörsverletzung ein. Danach hätten die Prozessbeteiligten alle nach Lage der Sache zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten zu ergreifen, um eine Korrektur der geltend gemachten Gehörsverletzung zu erwirken oder eine solche zu verhindern (z.B. BGH, Urteil vom 09.02.2011 - VIII ZR 285/09 -). Dies entspräche dem sich aus § 295 ZPO ersichtlichen Rechtsgedanken, wonach eine Gehörsverletzung nicht mehr gerügt werden könne, wenn nach Erkennen derselben die verbliebene Möglichkeit einer Äußerung nicht genutzt würde. Hier sei sie vom Kläger im Rahmen zulässig im Rahmen der Berufung genutzt worden. 

Es sei auch vorliegend nicht auszuschließen, dass das Berufungsgericht bei Berücksichtigung des Vortrages des Klägers, anders entschieden hätte, wenn es den Vortrag des Klägers zum amtsgerichtlichen Urteil in Bezug auf die  Diskrepanz im Beklagtenvortrag berücksichtigt hätte, nach dem das Landgericht der Darstellung des Beklagten nach Beweisaufnahme folgte, und nicht aufgeklärt und damit offen gelassen habe, ob nur € 281,21 (die Hälfte von € 562,42), € 300,00 (so die letzte Überweisung) oder € 312,42 (€ 564,42 abzüglich € 250,00) als Miete geschuldet würden. 

Das Berufungsgericht sei schon deswegen nicht nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO an die Beweiswürdigung des Amtsgerichts gebunden gewesen, da dieses nur unvollständig und zur Höhe der geschuldeten Miete widersprüchlich (€ 562,42 abzüglich € 250,00 ergeben nicht die Hälfte von € 562,42) sei. Selbst bei Zugrundelegung des vom Berufungsgericht angenommenen, auf das Vorliegen von Rechtsfehlern iSv. § 286 Abs. 1 ZPO beschränkten Prüfungsmaßstabs gehalten gewesen sei, eigene Feststellungen zu treffen. Zudem handele es sich bei dem Berufungsverfahren um eine zweite Tatsacheninstanz, die das erstinstanzliche Urteil nicht nur auf Rechtsfehler zu überprüfen habe. Auch als „eingeschränkte Tatsacheninstanz“ bestünde seine Aufgabe in der Gewinnung von „fehlerfreien und überzeugenden“ und damit „richtigen“ Entscheidungen (BGH, Urteil vom 26.05.2020 - VIII ZR 64/19 -). 

BGH, Beschluss vom 10.11.2020 - VIII ZR 18/20 -

Dienstag, 10. August 2021

Kapitalanlage: Substantiierung einer Anlagenberatung entgegen Prospektangaben

Der Kläger beteiligte sich im März 2005 an einen in Form einer GmbH & Co. KG geführten geschlossenen Schiffsfonds, bei dem die beklagten zu 1 und 2 die Gründungskommanditisten, die Beklagte zu 3 die Treuhänderin war. Mit seiner Klage begehrte er Zahlung von € 85.500,00 zuzüglich Nebenforderungen Zug um Zug gegen Abtretung aller Rechte aus seiner Beteiligung. U.a. machte er eine den Beklagten zurechenbare nicht anlagegerechte Beratung durch den Zeugen S. geltend. Klage und Berufung blieben erfolglos. Auf die Nichtzulassungsbeschwerde hob der BGH das Urteil des Berufungsgerichts (Hanseatisches OLG Hamburg) auf und wies den Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an dieses zurück. Die Zurückweisung beruhte darauf, dass nach Ansicht des BGH das OLG das rechtliche Gehör des Klägers (Art. 103 GG) verletzt habe, indem es nicht den Berater (den zeugen S.) und die vom Kläger benannte Ehefrau des Klägers zu einer vom Kläger behaupteten und dazu benannten, vom Prospekt abweichenden Beratung als Zeugen vernahm.

Das OLG habe die Auffassung vertreten, der Kläger habe dazu widersprüchlich und damit nicht hinreichend substantiiert vorgetragen. So habe er schriftsätzlich vorgetragen, der Prospekt sei bei dem Anlagegespräch mit dem Berater durchgeblättert worden, andrerseits, der Berater habe die Anlage als sicher und für die Altersvorsorge geeignet dargestellt. Das Landgericht habe den Kläger im Termin darauf hingewiesen, dass doch zumindest die Lektüre des Prospekts erhebliche Zweifel an der Richtigkeit der Angaben des Beraters hätten wecken können, da der Prospekt auf die unternehmerische Natur der Beteiligung verwies und damit verbundene erhebliche Risiken. Der Kläger habe dazu (auch im Berufungsverfahren) keine Ausführungen gemacht.

Nach Auffassung des BGH stellte sich die Nichtberücksichtigung der Beweisangebote als entscheidungserhebliche Verletzung rechtlichen Gehörs dar, Art. 104 GG, § 544 Abs. 9 ZPO.

Würde ein Beweisangebot, welches erheblich ist, ohne Stütze im Prozessrecht abgelehnt verstoße dies gegen Art. 103 GG. Dies sei auch dann der Fall, wenn die fehlende Berücksichtigung des Beweisangebots darauf beruhe, dass das Gericht verfahrensfehlerhaft überspannte Anforderungen an den Vortrag einer Partei stelle. In diesem Fall verschließe sich das Gericht dem Umstand, dass eine Partei ihrer Darlegungslast schon dann genüge, wenn sie Tatsachen vortrage, die in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet seien, das geltend gemachte Recht als in ihrer Person entstanden erscheinen zu lassen (BGH, Urteil vom 22.06.2009 - II ZR 143/08 -). Garde dieser Anforderung habe aber der Vortrag des Klägers zu abweichenden Angaben des Beraters genügt. Dabei berücksichtigte der BGH den Umstand, dass das OLG offen ließ, ob die Beklagten für eine nicht anlagegerechte Beratung durch den Berater haften würden (weshalb dies für das Revisionsverfahren zu unterstellen ist).

Auch könne nicht darauf abgestellt werden, dass der Kläger nicht auf den Hinweis einer angeblichen Widersprüchlichkeit reagiert habe. Darauf hätte er nicht eingehen müssen. Genügt der Vortrag den Anforderungen an die Substantiierung könne Vortrag zu weiteren Einzeltatsache nicht verlang werden; das Gericht müsse nur in die Lage versetzt werden zu entscheiden, ob aufgrund des tatsächlichen Vorbringens die gesetzlichen Voraussetzungen für das geltend gemachte Recht vorliegen.

Das Landgericht und ihm folgend das OLG hätten die Substantiierungsanforderungen überspannt. Auch wenn in dem Prospekt eine Aufklärung des Beitrittsinteressenten (hier zu Risiken) erfolgte, schließe dies nicht aus, unzutreffende (davon abweichende) Angaben des Vermittlers dem Gründungsgesellschafter zuzurechnen. Die zutreffenden Angaben und Aufklärung im Prospekt stelle sich nicht als Freibrief dar, Risiken hiervon abweichend darzustellen und ein Bild zu zeichnen, welches die Hinweise im Prospekt für die Entscheidung des Anlegers entwerte oder mindere (u.a. BGH, Urteil vom 06.11.2018 – II ZR 57&16 -). Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass der Klägers, obwohl er mit dem Berater gemeinschaftlich den Prospekt durchblätterte, den davon abweichenden Angaben des Vermittlers vertraut habe. Ein Anleger, der die besonderen Erfahrungen und Kenntnisse des Beraters oder Vermittlers in Anspruch nehme, würde den Ratschlägen, Auskünften und Mitteilungen dieser Person, die diese ihm in einem persönlichen Gespräch unterbreite, ein besonderes Gewicht beimessen, gegenüber dem Prospektangaben, die in der Regel allgemein gehalten und mit Fachbegriffen versehen seien, in den Hintergrund treten würden  (BGH, Urteil vom 14.04.2011 - III ZR 27/10 -).

Damit war das Urteil aufzuheben, da nicht auszuschließen sei, dass das OLG bei Erhebung der angebotenen Beweise anders entscheiden hätte.

BGH, Beschluss vom 23.03.2021 - II ZR 5/20 -

Sonntag, 2. August 2020

Ist vor Erlass einer einstweiligen Verfügung dem Gegner Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben ?


Der Betroffene mahnte die Beschwerdeführerin wegen eines in ihrer Zeitschrift „W“ am 10.05.2020 veröffentlichten Artikels  zu einem J., der an der Veröffentlichung eines Videos beteiligt gewesen sein sollte, das zum Rücktritt des österreichischen Politikers Strache führte, am 11.05.2020 mit einem 15-seitigen Schreiben ab; gegen J. wird seit der Veröffentlichung in Österreich strafrechtlich ermittelt. Der Beschwerdeführer reagierte am Abend des gleichen Tages auf die Abmahnung und wies diese unter Darlegung der Gründe und Beifügung von Anlagen zurück. Am Morgen des 12.05.2020 beantragte er eine einstweilige Verfügung mit einer bei dem LG Berlin eingereichten 26-seitigen Antragsschrift, die gegenüber der Abmahnung ausgebaut wurde, auf Argumente der Abmahnerwiderung reagierte und zwei eidesstattliche Versicherungen des Betroffenen ergänzte. Nach dem Abruf des Schutzschriftregisters gegen Mittag erließ das LG Berlin im Wege der einstweiligen Verfügung einen Beschluss (ohne Begründung), mit dem der Beschwerdeführerin die weitere Verbreitung des Artikels (so über digitale Kanäle, insbesondere auch im Online-Archiv) untersagt wurde. Gegen diesen Beschluss lehnte die Beschwerdeführerin nach Zustellung am 14.05.2020 am 19.05.2020 die erkennenden Richter des LG Berlin als Befangen ab und legte am 20.05.2020 gegen den Beschluss Widerspruch zusammen mit einem Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ein. Sodann erhob die Beschwerdeführerin mit der Begründung, es läge eine offenkundige und bewusste Verletzung ihrer prozessualen Waffengleichheit vor und begehrte die Aussetzung der einstweiligen Verfügung.


Nach Anhörung des Betroffenen (des Antragstellers im Verfahren vor dem LG Berlin) gab das BVerfG dem Antrag der Beschwerdeführerin statt.

Obwohl grundsätzlich zunächst vor einer Verfassungsbeschwerde der Rechtsweg ausgeschöpft sein muss, sieht hier das BVerfG die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde als gegeben an. Dies begründet es mit der Besonderheit des Verfahrens und die darauf bezogene Begründung: Geltend gemacht würde eine Rechtsverletzung unmittelbar durch die Handhabung des Prozessrechts im Verfahren über den Erlass der einstweiligen Verfügung durch (bewusstes) Übergehen ihrer prozessualen Rechte. Insbesondere könne sie mit dem Antrag auf einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung aus dem Beschluss die Missachtung des Verfahrensrechts nicht geltend machen (BVerfG, Beschluss vom 03.06.2020 - 1 BvR 1246/20 -), da dieser Antrag von der Erfolgsaussicht des Widerspruchs abhängig sei. Auch i übrigen gäbe es keine Rechtsmittel, mit denen die Verletzung der prozessualen Waffengleichheit geltend gemacht werden könne, weshalb es hier ausnahmsweise zulässig sei, unmittelbar gegen die einstweilige Verfügung Verfassungsbeschwerde zu erheben.  Da die Rechtsbeeinträchtigung durch den Unterlassungstitel fortdaure, benötige die Beschwerdeführerin auch kein besonders gewichtiges Feststellungsinteresse (BVerfG aaO.).

Die von der Beschwerdeführerin benannte Verletzung der prozessualen Waffengleichheit wurde vom BVerfG als grundrechtsgleiches Recht bejaht. Auch im Verfahren der einstweiligen Verfügung, selbst wenn eine Verfügung wegen besonderer Dringlichkeit ohne mündliche Verhandlung ergehen dürfe, bedürfe es der Einbeziehung der Gegenseite im verfahren (BVerfG, Beschluss vom 30.09.2018 - 1 BvR 1783/17 -; BVerfG, Beschluss vom 03.06.2020 aaO.). Diese Einbeziehung des Gegners sei nur entbehrlich, wenn der eingereichte Antrag mit der Abmahnung identisch sei und die Erwiderung des Gegners auf die Abmahnung mit eingereicht würde. Läge erkennbar eine Identität nicht vor, da der Betroffene auf die Erwiderung der Gegenseite in seiner Antragsschrift inhaltlich eingehen würde und repliziere, müsse das Gericht dem Antrag zu Gehör der Gegenseite bringen (BVerfG vom 30.09.2018 aaO.; BVerfG vom 03.06.2020 aaO.).

An diese Vorgaben habe sich das LG Berlin nicht gehalten und deshalb das grundrechtsgleiche Recht auf prozessuale Waffengleichheit aus Art. 3 Abs. 1 iVm Art. 20 Abs. 3 GG verletzt. Es habe die Gleichwertigkeit seiner prozessualen Stellung gegenüber der Beschwerdeführerin als Verfahrensgegner nicht mehr gewährleistet. Die Antragsschrift sei ausdrücklich auf die Einwände der Beschwerdeführerin in deren außergerichtlicher Stellungnahme eingegangen, woraus sich bereits für das Gericht im Sinne gleichwertiger Äußerungs- und Verteidigungsmöglichkeit hätte ergeben müssen, der Beschwerdeführerin (evtl. auch fernmündlich oder E-Mail) Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Hinzu käme, dass die Antragsbegründung – unabhängig von unterschiedlichen Anforderungen an ein anwaltliches Schreiben im Vergleich zu einem Verfahrensschriftsatz – umfassender und differenzierter war als das Abmahnschreiben, welches auch neue Gesichtspunkte enthielt. Erstmals sei zudem hier auch ausdrücklich die Tatsachengrundlage der im Artikel benannten Vorwürfe bestritten, demgegenüber im Abmahnschreiben noch auf deren Nachweislichkeit anhand der Aktenlage verwiesen worden sei. Damit habe keine Kongruenz zwischen dem Abmahnschreiben und der Antragsschrift bestanden.

Auch kann nach Ansicht des BVerfG der Beschwerdeführerin nicht vorgeworfen werden, keine Schutzschrift im elektronischen Schutzschriftregister zu hinterlegen. Es könne dem Gegner nicht zugemutet werden, auf einen ihn unbekannten Vortrag vorsorglich zu erwidern.

Auch wenn die Frist zu einer Stellungnahme der Beschwerdeführerin im Verfahren über die einstweilige Verfügung hätte kurz bemessen werden können, sei es unzulässig,  wegen dadurch bedingter Verzögerungen gänzlich von einer Einbeziehung der Gegenseite abzusehen und ihn bis zu einer auf den Widerspruch hin anzuberaumenden mündlichen Verhandlung  mit einer einseitig erstrittenen gerichtlichen Unterlassungsverfügung zu belasten und die zudem auch ohne Begründung ist (Anm.: und nicht haben muss), weshalb der Beschwerdeführerin nicht ersichtlich sei, ob ihr Vortrag überhaupt Berücksichtigung gefunden habe bzw. unter welchen Gesichtspunkten er hintenangestellt worden sei.  

BVerfG, Beschluss vom 17.06.2020 - 1 BvR 1380/20 -