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Sonntag, 18. Juni 2023

Sturz bei begleiteten Spaziergang in Tagespflegeeinrichtung

Die Klägerin ist Erbin ihrer verstorbenen Mutter (Geschädigte). Sie machte materielle und immaterielle Schadenersatzansprüche im Hinblick auf einen Sturz der Geschädigten geltend. Die Geschädigte befand sich in einer Tagespflgeeinrichtung der Beklagten. Bei einem Spaziergang der Geschädigten mit einer weiteren Seniorin in Begleitung der bei der Einrichtung beschäftigten Praktikantin stürzte die Geschädigte und zog sich dabei einen Oberschenkelhalsbruch zu. Die Klägerin vertrat die beklagtenseits bestrittene Auffassung, der Spaziergang hätte wegen Glätte und des körperlichen Zustandes der Geschädigten nicht durchgeführt werde dürfen, zudem sei die Praktikantin nicht ausreichend qualifiziert gewesen und eingewiesen worden. Die Geschädigte hätte allenfalls untergehakt laufen dürfen, was nicht erfolgte. Es läge ein der Beklagten zuzurechnendes Pflege- bzw. Organisationsverschulden vor. Das Landgericht wies, nach Beweiserhebung zu den Witterungsverhältnissen, die Klage ab. Die dagegen eingelegte Berufung beabsichtigte das Oberlandesgericht (OLG) mit dem hier besprochenen Beschluss nach § 522 ZPO zurückzuweisen.

Es sei nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht davon auszugehen, dass die Geschädigte wegen witterungsbedingter Glätte stürzte. Eine allgemeine Glättegefahr ließe noch keine Schlussfolgerung zu, dass an einer bestimmten Stelle Glätte war. Nach Angaben u.a. der Praktikantin sei bereits der städtische Winterdienst tätig gewesen. Der Sturz selbst belege keine Glätte an der Unfallstelle, da auch andere Ursachen möglich wären und die Praktikantin ein Stolpern der Geschädigten über ihre eigenen Beine geschildert habe. Da im Bereich der Unfallstelle auch Glatteisbildung nicht mit ausreichender Sicherheit festgestellt werden könne, läge für Glätte an der Unfallstelle auch kein Beweis des ersten Anscheins vor.

Danach könne auch keine Pflichtverletzung der beklagten in der Durchführung des Spaziergangs festgestellt werden. Es ermangele an einem von der Klägerin zu beweisenden haftungsbegründenden Pflichtwidrigkeitszusammenhang zwischen einem (hier unterstellend zugunsten der Klägerin) pflichtwidrig trotz Glatteis durchgeführten Spaziergang und dem zum Schaden führenden Sturzgeschehen, da (wie oben festgestellt) nicht davon ausgegangen werden könne, dass die Geschädigte wegen des Glatteises stürzte.

Auch mit dem Vorwurf, dass die Praktikantin die Geschädigte zum Zeitpunkt des Sturzes nicht untergehakt habe, konnte die Klägerin nicht durchdringen. Es sei nicht dargetan, weshalb das Landgericht hätte davon ausgehen müssen, dass die Geschädigte nur untergehakt hätte gehen dürfen.

Die Beweiserleichterung des § 630h Abs. 1 BGB, die auch im Bereich der Pflege Anwendung fände, greife hier nicht. Nach § 630h Abs. 1 BGB würde ein Fehler des Behandlers vermutet, wenn sich ein allgemeines und für den Behandelnden voll beherrschbares Behandlungsrisiko verwirkliche. Ein Sturz bei einem begleiteten Spaziergang im Rahmen der Betreuung in einer Tagespflegeeinrichtung stelle kein „voll beherrschbares Behandlungsrisiko iSv. § 630h Abs. 1 BGB dar. Zwar sah das OLG neben den typischen Fallgestaltungen der Fehlerhaftigkeit von medizinischen Geräten und von Hygienemängeln grundsätzlich auch die Gefahr von Stürzen im Rahmen von pflegerischen Maßnahmen als ein vollbeherrschbares Risiko an. Vorliegend sei es aber nicht um pflegerische Maßnahme im engeren Sinne gegangen, sondern ein begleiteter Spaziergang, bei dem kein voll beherrschbarer Gefahrenbereich vorläge. Voll beherrschbare Risiken seien dadurch gekennzeichnet, dass sie durch den Klinik-/Praxisbetrieb gesetzt würden und durch dessen ordnungsgemäße Gestaltung ausgeschlossen werden könnten und müssten. Diese seien abzugrenzen von den Gefahren, die aus den Unwägbarkeiten des menschlichen Organismus bzw. den Besonderheiten des Eingriffs in diesen Organismus erwachsen und deshalb der Patientensphäre zuzurechnen seien. Denn die Vorgänge im lebenden Organismus könnten auch vom besten Arzt bzw. hier der besten Pflegekraft nicht immer so beherrscht werden, dass der ausbleibende Erfolg oder auch ein Fehlschlag auf eine fehlerhafte Behandlung hindeuten würde (BGH, Beschluss vom 16.08.2016 - VI ZR 634/15 -). Danach stelle sich der Spaziergang, auch wenn er in Begleitung einer Pflegekraft erfolge, nicht als ein spezifisch durch den Pflegebetrieb gesetztes Risiko dar, welches durch eine ordnungsgemäße Gestaltung ausgeschlossen werden könne oder ausgeschlossen werden müsse. Der begleitete Spaziergang setze ein zwar unterstütztes aber eigenständiges Laufen der betreuten Person voraus, weshalb die Sturzgefahr durch die begleitende Person zwar minimiert, aber nicht ausgeschlossen würde (zur ähnlichen Problematik bei einer Gangschulung durch einen Physiotherapeuten OLG Frankfurt, Urteil vom 29.08.2017 - 8 U 172/16 -).

Nach der Auffassung des OLG käme es vorliegend nicht darauf an, ob die Praktikantin hinreichend qualifiziert gewesen sei, da nicht ersichtlich sei, weshalb eine nicht ausreichende Qualifikation für den Sturz kausal gewesen sein sollte. Die Beweiserleichterung des § 640h Abs. 4 BGB, die auch für den nichtärztlichen Bereich anwendbar sei, greife hier nicht. Danach würden dieser Beweiserleichterung nur solche (für den Schaden kausal gewordenen) Handlungen unterfallen, für die auch tatsächlich eine spezifische Ausbildung erforderlich sei. Das begleitete Spaziergehen, welcher offenkundig (§ 291 ZPO) von jeder gesunden erwachsenen Person mit einem durchschnittlichen Maß an Verantwortungsgefühl ausgeübt werden könne (das OLG wies darauf hin, dass auch die Klägerin selbst mit der geschädigten regelmäßig spazieren gegangen sei), sei keine spezifische Ausbildung erforderlich.

OLG Bamberg, Beschluss vom 21.02.2023 - 4 U 222/22 -

Donnerstag, 6. Oktober 2022

Arzthaftung: Anhörung des Patienten zum Entscheidungskonflikt bei korrekter Aufklärung

Der Kläger wurde vom beklagten Augenarzt behandelt. Es erfolgte ein refraktiver Eingriff bei Kurzsichtigkeit. In Vollnarkose erfolgte eine LASIK-Laserbehandlung, bei der es infolge des Kneifens des Auges zu einer Dezentrierung des Laserschnitts kam. Der Beklagte brach daraufhin die LASIK-Behandlung ab und führte  eine photoreaktive EXCIMER-Laserbehandlung (PRK) durch. Einige Zeit später behandelte er das andere Auge des Klägers ebenfalls eine Revisions-PRK durch.  Der Kläger machte fortbestehende Sehbeschwerden und Augentrockenheit als Folge der Behandlung geltend; er rügte eine vom Beklagten unterlassene Aufklärung über die Risiken der Operation. Das Landgericht wies die Klage ab; die Berufung des Klägers wurde mit Beschluss nach § 522 ZPO zurückgewiesen. Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers bei dem BGH wurde der Beschluss des OLG aufgehoben und der Rechtsstreit an dieses zurückverwiesen.

Das OLG unterstellte zugunsten des Klägers eine unterlassene Aufklärung des Klägers über die Risiken einer PRK-Operationstechnik, ferner, dass es sich dabei um eine Behandlungsalternative zum LASIK-Verfahren handele. Eine Anhörung des Klägers sei nicht erforderlich, da eine hypothetische Einwilligung des Klägers vorläge; einen Entscheidungskonflikt habe der Kläger nicht plausibel schriftsätzlich dargelegt. Diese Ausführungen des OLG, so der BGH, würden den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör (Art. 103 GG) entscheidungserheblich verletzen.

Genüge die ärztliche Aufklärung nicht den an sie zu stellenden Anforderungen könne der behandelnde Arzt geltend machen, dass der Patient auch bei einer ordnungsgemäßen Aufklärung in die verwandte Behandlungsmethode eingewilligt hätte, § 630h Abs. 2 S. 2 BGB. Die Nachweispflicht dafür obläge dem Arzt. Allerdings setze dies voraus, dass zuvor der Patient zur Überzeugung des Tatrichters plausibel mache, dass er bei einer rechtzeitigen ordnungsgemäßen Aufklärung über Risiken des Eingriffs vor einem echten Entscheidungskonflikt gestanden hätte (so bereits BGH, Urteil vom 21.05.2019 - VI ZR 119/18 -). Dabei könnten an die Substantiierungsanforderung zu einem solchen Konflikt keine zu hohen Anforderungen gestellt werden. Entscheidend sei die persönliche Entscheidungssituation des jeweiligen Patienten; nicht käme es darauf an, was aus ärztlicher Sicht erforderlich oder sinnvoll sei und wie ein „vernünftiger Patient“ entscheiden würde. Das Gericht dürfe seine persönliche Beurteilung nicht an die Stelle des Patienten setzen. Gedankliche Voraussetzung des Entscheidungskonflikts wie der hypothetischen Einwilligung insgesamt sei stets die Hypothese einer ordnungsgemäßen, insbesondere auch vollständigen Aufklärung.

Die Entscheidung, wie der Patient unter der genannten Voraussetzung entschieden hätte und darüber, ob für ihn eine Entscheidungskonflikt vorlag, dürfe der Tatrichter nicht ohne persönliche Anhörung des Patienten treffen. So würde verhindert, dass das Gericht vorschnell auf bei objektiver Betrachtung als naheliegend oder vernünftig  erscheinende Umstände abstelle. Er müsse auch möglicherweise weniger naheliegende oder auch unvernünftig erscheinende Erwägungen des Patienten in Betracht ziehen. Durch die persönliche Anhörung soll es dem Gericht ermöglicht werden, den anwaltlich vorgetragenen Gründen für und gegen einen Entscheidungskonflikt  durch konkrete Nachfragen nachzugehen und sie aufgrund des gewonnenen persönlichen Eindrucks vom Patienten sachgerecht bewerten zu können. Nur dann, wenn die unstreitigen äußeren Umstände eine sichere Beurteilung der hypothetischen Entscheidungssituation erlauben würden, könne von der Anhörung des Patienten abgesehen werden.

Vorliegend sei schriftsätzlich vorgetragen worden, der Kläger hätte sich gegen eine PRK ausgesprochen, da diese nach seiner Kenntnis nicht unter Vollnarkose durchgeführt würde. Das sei wenig plausibel, da sie vorliegend unter Vollnarkose durchgeführt worden sei. Allerdings sei deswegen ohne Anhörung des Klägers eine sichere Beurteilung nicht ausnahmsweise möglich gewesen, da die äußeren Umstände der Aufklärung und der tatsächlichen Entscheidungssituation des Klägers nicht unstreitig geblieben seien; insbesondere habe das OLG nicht den Inhalt der im Streitfall gebotenen vollständigen Aufklärung definiert und es sei nicht erkennbar, ob der Kläger bei seinen Ausführungen zum Entscheidungskonflikt von der Hypothese einer entsprechenden vollständigen Aufklärung ausgegangen sei.

BGH, Beschluss vom 21.06.2022 - VI ZR 310/21 -

Freitag, 25. Februar 2022

Ärztliche Aufklärungspflicht zu Behandlungsalternativen und hypothetische Einwilligung

Die Klägerin ließ sich eine Kniegelenksendoprothese implantieren. Zwei der Beklagten waren als Anästhesisten tätig und u.a. für das Anlegen des Schmerzkatheters (eines sogen. Doppelkatheters) zuständig; neben diesen war u.a. das Krankenhaus verklagt. Nach der Operation klagte die Klägerin über Schmerzen und ein Taubheitsgefühl im Fuß sowie Sensibilitätsstörungen in Zehen. Es wurden schließlich irreparable Nervenschädigungen festgestellt. Die Klägerin begehrte materiellen und immateriellen Schadensersatz mit der Behauptung einer fehlerhaften Operation und nicht hinreichenden Aufklärung vor dieser. Das Landgericht wies die Klage nach Einholung eines Sachverständigengutachtens ab; die Berufung wurde vom Oberlandesgericht (OLG) zurückgewiesen. Der BGH ließ im Rahmen der Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin die Revision gegen die Anästhesisten und das Krankenhaus zu. Insoweit führte die Revision zur Aufhebung der Entscheidung des OLG und Zurückverweisung an dieses.

Dabei wurde vom BGH darauf abgestellt, dass entgegen der Auffassung des OLG (welches einen Behandlungsfehler ausschloss, der auch im Revisionsverfahren infolge des diesen ausschließenden Sachverständigengutachtens nicht mehr bedeutsam war) auf der Grundlage von dessen Feststellungen nicht davon ausgegangen werden könne, dass ein Schadensersatzanspruch wegen fehlerhafter Aufklärung unter dem Gesichtspunkt der hypothetischen Einwilligung ausgeschlossen sei.

Stünden alternative Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung sei eine Aufklärung darüber erforderlich, wenn die Alternativen medizinisch sinnvolle und indizierte gleichwertige Behandlungsmöglichkeiten bieten, die zu jeweils unterschiedlichen Belastungen des Patienten führen oder unterschiedliche Risiken und Erfolgschancen bieten (BGH, Urteil vom 28.08.2018 - VI ZR 509/17 -).  Diese Voraussetzung habe das OLG auf sachverständiger Grundlage in Bezug auf die bloße Gabe von Schmerzmitteln ohne Katheder und in Bezug auf die Anlage eines Femoraliskatheters (einem Zugang zum Nervus fermoralis, über den – auch kontinuierlich – Schmerzmittel gegeben werden können) anstatt des angewandten Doppelkatheters bejaht.

Das OLG habe aber fehlerhaft angenommen, die Klägerin hätte sich auch bei einer ordnungsgemäßen Aufklärung für den Einsatz des Doppelkatheters entschieden (sogen. Hypothetische Einwilligung) und daher offen gelassen, ob eine von der Klägerin bestrittene und beklagtenseits behauptete Aufklärung über die Behandlungsalternativen erfolgte.

Zwar könne sich der Behandelnde im Falle unterlassener Aufklärung darauf berufen, dass der Patient auch bei gehöriger Aufklärung in die vorgenommene Behandlung eingewilligt hätte (BGH, Urteil vom 18.05.2021 – VI ZR 401/19 -; jetzt auch § 630h Abs. 2 S. 2 BGB). An den Nachweis dafür seien aber strenge Anforderungen zu stellen, wobei den Arzt die Beweislast treffe, wenn der Patient plausibel mache, dass er – wäre er ordnungsgemäß aufgeklärt worden – vor einem echten Entscheidungskonflikt gestanden hätte, ohne dass hierbei an das Substantiierungserfordernis zu hohe Anforderungen gestellt werden dürften (BGH, Urteil vom 18.05.2021 aaO.).

Das OLG habe den echten Entscheidungskonflikt der Klägerin mit der Erwägung verneint, die Angaben der Klägerin seien nicht ausreichend dafür gewesen, dass sich die Klägerin anders entschieden hätte. Ob sich der Patient aber anders entschieden hätte sei für das Kriterium des echten Entscheidungskonflikts nicht erforderlich.

Fehlerhaft habe das OLG die Klägerin in ihrer Anhörung nach § 141 ZPO befragt, wie sie sich entschieden haben würde, wenn ihr erklärt worden wäre, dass ein Doppelkatheter die sicherste Möglichkeit der Schmerzausschaltung mit der Erzielung eines bessern operativen Erfolgs infolge frühzeitiger Mobilisierung sei. Dies bilde keine brauchbare Grundlage zur Aufklärung, ob ein echter Entscheidungskonflikt bestanden hätte. Mit der gestellten Frage würde verkannt, dass es um den Entscheidungskonflikt gehen würde, den die Klägerin bei ordnungsgemäßer Aufklärung, also über die echten Behandlungsalternativen mit ihren Vorteilen (also geringeres Behandlungsrisiko) und Nachteilen (also geringere Schmerzausschaltung und eingeschränkte Mobilität) gehabt haben könnte.

BGH, Urteil vom 07.12.2021 - VI ZR 277/19 -

Sonntag, 15. August 2021

Fehlende Dokumentation von möglichen Veränderungen der elektronischen Patientenakte und Beweiswürdigung im Arzthaftungsfall

Die Informationspflicht des Arztes umfasst nach § 630c Abs. 2 S. 1 BGB die Pflicht, dem Patienten in verständlicher Weise zu Beginn der Behandlung (und erforderlichen Falls im weiteren Verlauf ergänzend) sämtliche für die Behandlung wesentlichen Umstände zu erläutern, insbesondere die Diagnosen die voraussichtliche gesundheitliche Entwicklung, die Therapie und die zu und nach der Therapie zu ergreifenden Maßnahmen.  Der Umfang der Dokumentationspflicht des Arztes wird in § 630f Abs. 2 BGB dahingehend festgehalten, dass in der Patientenakte sämtliche aus fachlicher Sicht für die derzeitige und künftige Behandlung wesentlichen Maßnahmen und deren Ergebnisse aufzuzeichnen sind, insbesondere die Anamnese, Diagnosen, Untersuchungen, Untersuchungsergebnisse, Befunde, Therapien und ihre Wirkungen, Eingriffe und ihre Wirkungen, Einwilligungen und Aufklärungen, wie auch Arztbriefe in die Patientenakte aufzunehmen sind.  

Der Kläger verlangte wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung von der Beklagten materiellen und immateriellen Schadensersatz. Die Beklagte, eine Augenärztin, habe bei der Untersuchung am 07.11.2013 einen Netzhautriss übersehen, da sie es versäumt habe, vor der Untersuchung eine Pupillenweitstellung zu veranlassen. Die Klage wurde von Landgericht und Oberlandesgericht abgewiesen. Auf die Revision erfolgte eine Aufhebung des Urteils und Zurückverweisung an das Oberlandesgericht.

Zunächst verwies der BGH darauf, dass in § 630h Abs. 3 BGB  nicht die Dokumentationspflicht geregelt würde, sondern nur die Folgen einer fehlenden Dokumentation, wie sie in § 630f Abs. 2 BGB normiert sei. Nach § 630f Abs. 2 BGB seien aber nur die wesentlichen Maßnahmen und Ergebnisse aufzuzeichnen. Durch den Hinweis auf de „fachliche Sicht“ würde dies zum Ausdruck gebracht, weshalb weitergehende Anforderungen an die Dokumentation auch nicht gestellt werden könnten. Die fehlende Dokumentation über eine Kontrollbedürftigkeit der Beschwerden würde daher nicht nach § 630h BGB zur Beweislastumkehr führen.

Allerdings sei entgegen der Annahme der Vorinstanzen von einen Befunderhebungsfehler auszugehen. De Sachverständige habe festgestellt, dass bei den geschilderten Beschwerden durch den Kläger eine Untersuchung des Augenhintergrundes dringend geboten gewesen sei. Rechtsfehlerhaft seien die Vorinstanzen davon ausgegangen, der Kläger habe den beweis der unterlassenen Untersuchung nicht erbracht. Dabei würde von der Revision zutreffend gerügt, dass das Oberlandesgericht der mit einer  nachträgliche Änderungen nicht erkennbar machenden Software erstellten elektronischen Dokumentation der Beklagten im Rahmen der Beweiswürdigung eine positive Indizwirkung beigemessen habe, nach der die Untersuchung des Augenhintergrundes unter Weitstellung der Pupillen erfolgt sei.

Elektronische Dokumente seien gemäß § 371 Abs. 1 S. 2 ZPO Gegenstand des Augenscheinsbeweises und ihr Beweiswert unterliege gem. § 286 Abs. 1 S. 1 ZPO der freien Beweiswürdigung. Die bis zum Inkrafttreten des Patientenrechtsgesetzes vertretene Ansicht, auch bei elektronisch erstellten Dokumenten, die nachträglich nicht erkennbar verändert werden könnten, sei bei Plausibilität der volle Beweiswert gegeben, sei mit der Gesetzesänderung durch das Patientenrechtsgesetz in den §§ 630a ff BGB nicht mehr haltbar. Die elektronische Dokumentation, die nachträgliche Veränderungen nicht deutlich mache, genüge nicht den Anforderungen von § 630f Abs. 1 S. 2 und 3 BGB, da danach Berichtigungen und Änderungen von Eintragungen in der Patientenakte nur zulässig seien, wenn neben dem ursprünglichen Inhalt erkennbar bleibt, wann sie vorgenommen wurden. Ziel sei eine fälschungssichere Organisation der Dokumentation. Die Software müsse also gewährleisten, dass nachträgliche Änderungen erkennbar würden (BT-Drucks. 17/10488, S. 26).

Allerdings führe (anders als in einem Teil der Literatur vertreten) die Verwendung einer dies nicht kenntlich machende Software nicht zur Beweislastumkehr iSv. § 630h Abs. 3 BGB. Die beweisrechtliche Folge knüpfe nur daran, dass der Behandelnde eine notwendige Dokumentation  nicht aufgezeichnet bzw. in die Patientenakte aufgenommen habe. Der Fall, dass die elektronische Dokumentation mit einer nachträgliche Änderungen nicht aufzeigenden Software erstellt worden sei, würde in § 630h BGB nicht geregelt.

Jedenfalls aber käme der elektronischen Dokumentation mittels einer nachträgliche Änderungen nicht kenntlich machenden Software keine positive Beweiswirkung zugunsten des Arztes zu, wie vom Oberlandesgericht angenommen. Dabei sei zu berücksichtigen, dass anders als bei handschriftlichen Aufzeichnungen Änderungen durch Streichungen, Radierung, Einfügung oder Neufassung nicht auffallen und diese Änderung bei der elektronischen Software jeder schnell durchführen könne, der eine Zugangsberechtigung habe, und zwar fast ohne Entdeckungsrisiko. Hinzu käme auch die Gefahr einer versehentlichen Löschung oder Änderung. Damit würde einer derartigen Dokumentation die für eine Überzeugungsbildung und Zuverlässigkeit erforderliche Indizwirkung fehlen.

Dies würde auch dann geltend, wenn wie hier mit dem Oberlandesgericht davon ausgegangen würde, dass der Kläger keine greifbaren Anhaltspunkte für eine nachträgliche Änderung der Dokumentation zu seinen Lasten dargelegt hat. Hier stünde der Patient außerhalb des Geschehensablaufs und sei regelmäßig nicht in der Lage, Anhaltspunkte für eine bewusste oder versehentliche nachträgliche Änderung vorzutragen.

Der Richter könne zwar diese elektronische Dokumentation mit bei der Beweiswürdigung berücksichtigen, müsse dies aber einer umfassenden und sorgfältigen, angesichts der fehlenden Veränderungssicherheit aber kritischen Würdigung unterziehen. Dies sei hier nicht erfolgt.

BGH, Urteil vom 27.04.2021 - VI ZR 84/19 -

Freitag, 19. Juni 2020

Lebendorganspende: Eine fehlerhafte Aufklärung schließt den Einwand eines rechtmäßigen Alternativverhaltens aus


Die Klägerin wollte eine Leber für ihre Mutter spenden. Das beklagte Universitätsklinikum erklärte sich (nachdem  zwei andere Kliniken vorher abgesagt hatten) zur Durchführung der Transplantation bereit. Während der Operation zur Entnahme stellten die Ärzte fest, dass die Leber der Klägerin  „fleckig und blau-livid“ sei und brachen daraufhin die Organentnahme ab. Postoperativ bildete sich bei der Klägerin eine Narbenhernie, die mehrere Folgeeingriffe zur Folge hatten. Von der Klägerin wird ihr Schadensersatzanspruch mit einer fehlerhaften Aufklärung durch die Ärzte der Beklagten begründet.

Klage und Berufung blieben ohne Erfolg. Der BGH hat unter Aufhebung des Urteils den Rechtsstreit an das OLG zurückverwiesen.

Das OLG vertrat die Auffassung, dass die Beklagte den Beweis für eine ausreichende Aufklärung nicht geführt habe. Allerdings sei gleichwohl von einer hypothetischen Einwilligung auszugehen. Die Klägerin sei gewillt gewesen, ihrer Mutter zu helfen und habe unbedingt spenden wollen. Wovon sie sich auch durch Widerstände nicht habe abbringen lassen. Es sei davon auszugehen, dass die Klägerin auch bei vollständiger Aufklärung in den Eingriff eingewilligt hätte.

Dem folgt der BGH nicht. Es sei von den tatrichterlichen Feststellungen auszugehen, dass die Klägerin weder über psychisch postoperative Komplikationen noch in verständlicher Form über das Risiko der bei ihr jetzt eingetretenen Narbenbrüche und die Gefahr dauerhafter Schmerzen aufgeklärt  worden sei. Der Aufklärungsmangel führe zur Unwirksamkeit der Einwilligung und damit zur Rechtswidrigkeit des Eingriffs. Die vom OLG angewandten Grundsätze des rechtmäßigen Alternativverhaltens würden hier die Haftung nicht entfallen lassen. Der Einwand des rechtmäßigen Alternativverhaltens (d.h., dass die Klägerin auch bei ordnungsgemäßer Aufklärung in die Organentnahme eingewilligt haben würde) sei der Beklagten verwehrt. Dieses Rechtsinstitut widerspräche vorliegend dem Schutzzweck der erhöhten Aufklärungsanforderungen bei Lebendspenden (§ 8 Abs. 2 S. 1 und 2 TPG) (BGH, Urteile vom 29.01.2010 zu VI ZR 495/16 und VI ZR 318/17). In den in Bezug genommenen Entscheidungen hatte der BGH darauf verwiesen, dass der Gesetzgeber mit § 8 Abs. 2 S. 1 und 2 TPG eine dem heutigen § 630h Abs. 2 S. 2 BGB entsprechende Regelung über die grundsätzliche Beachtlichkeit des Einwands der hypothetischen Einwilligung nicht getroffen habe.

Der BGH wies noch ergänzend darauf hin, dass sich das OLG auch mit dem vorbringend er beklagten im Revisionsverfahren zur Frage der Aufklärung auseinandersetzen müsse. Es habe zu berücksichtigen, dass es sich bei der Berufungsinstanz auch nach dem Inkrafttreten des Zivilprozessreformgesetzes (zum 01.01.2002) um eine zweite, wenn auch eingeschränkte, Tatsacheninstanz handeln würde, deren Aufgabe in der Gewinnung einer „fehlerfreien und überzeugenden“ und damit „richtigen“ Entscheidung des Einzelfalles bestünde (BGH, Beschluss vom 22.12.2015 - VI ZR 67/15 -; BGH, Beschluss vom 14.02.2017 - VI ZR 434/15 -). Diesen Hinweis hielt der BGH offenbar als geboten, da dies häufig von Berufungsgerichten verkannt wird.

BGH, Urteil vom 11.02.2020 - VI ZR 415/18 -