Donnerstag, 27. Februar 2020

Pflegeheim: Haftung für Sturz eines Demenzkranken (zum Kriterium Intimsphäre) ?


Klagen aufgrund von Schadensfällen in Alten- und Pflegeheimen sind nicht selten und werden meist von dem Krankenversicherer des Geschädigten geführt. Grundlage sind auf den Krankenversicherer  übergegangene Ansprüche, § 116 SGB X. Während der Krankenversicherer regelmäßig eine unzureichende Überwachung geltend macht, berufen sich die Betreiber auf eine – noch im Rahmen der Leistungen insbesondere der Pflegekassen – hinnehmbare Versorgung wie auch auf die Bedeutung der Privat- sowie Intimsphäre des Versicherten.

Im Zusammenhang mit der Klage des Krankenversicherers eines geschädigten Mitgliedes sah sich das OLG veranlasst, die vom Krankenversicherer als notwendig angesehene Beaufsichtigung des Mitgliedes  vor dem Hintergrund dessen Intimsphäre zu beleuchten. Der Heimvertrag würde dem Betreiber des Pflegeheims (der Beklagten) nach § 11 Abs. 1 S. 1 SGB XI Obhutspflichten zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit des Versicherten auferlegen, die sich auf die in Pflegeheimen üblichen Maßnahmen beziehen würden, die mit vernünftigen finanziellen und personellen Aufwand realisierbar seien. Maßstab seien Erforderlichkeit und Zumutbarkeit. In diesem Zusammenhang wies das OLG aber auch darauf hin, dass im Rahmen dieser Abwägung zu beachten sei, dass „beim Wohnen in einem Heim die Würde sowie die Interessen und Bedürfnisse der Bewohner vor Beeinträchtigungen zu schützen und die Selbständigkeit, die Selbstbestimmung und die Selbstverantwortung der Bewohner zu wahren und zu fördern“ seien (BGH, Urteil vom 28.04.2005 - III ZR 3994 -). Da es sich um teilweise schwierige Entscheidungen handele, sei den Pflegenden ein Beurteilungsspielraum einzuräumen. Zu prüfen sei danach, ob die Entscheidung in der konkreten Situation vertretbar sei.

Damit begründete das OLG seine Ansicht, dass es nicht darum gehen würde und könne, jeden Unfall durch umfassende Sicherungsmaßnahmen zu verhindern (OLG Koblenz, Urteil vom 21.03.2002 - 5 U 1648/01 -). Es seien hier nicht die für Krankenhäuser entwickelten Grundsätze anzuwenden. Speziell eine Beaufsichtigung beim Toilettengang sei immer von der konkreten Hilfsbedürftigkeit des Patienten abhängig. Hier wäre insbesondere die Intimsphäre des Patienten (Versicherten) zu berücksichtigen. Eine weitgehend restriktive Handhabung im Umgang mit dem Patienten aus dem Gesichtspunkt der Sicherungsfunktion heraus würde auf Kosten eines menschenwürdigen Daseins und Alltagsleben dieser Menschen gesehen. Es müssten damit besondere Umstände vorliegen, die diesen Eingriff in die Intimsphäre rechtfertigen könnten. Hier sei  - bestätigt von einem Pflegegutachten -  vom Betreiber korrekt eingestuft worden, dass aufgrund bisheriger Erfahrungen und Verhaltensweisen der Patientin, auch wenn diese an Demenz erkrankt sei (deren Grad nicht festgestellt wurde), nicht damit gerechnet werden musste, diese würde alleine von dem WC-Sitz aufstehen oder im Sitz den Halt verlieren. Deshalb sei unter Beachtung der zu wahrenden Intimsphäre  die Entscheidung der fehlenden Sicherung bei diesen Verrichtungen der Patienten nicht zu beanstanden.  

Der weitere Versuch des Krankenversicherers, eine Pflichtwidrigkeit des Betreibers daraus ableiten zu wollen, dass es an einem generellen Pflegeplan ermangelte, wurde auch vom OLG zurückgewiesen. Es käme, wie vom Sachverständigen geäußert, auf die Tagesverfassung des Patienten an, weshalb eine einheitliche Pflegeplanung nicht möglich sei und die die fachliche geeigneten Pflegekräfte könnten hier eine eigene Einschätzung vornehmen und ihr Verhalten danach ausrichten.

OLG Karlsruhe, Urteil vom 18.09.2019 - 7 U 21/18 -

Mittwoch, 26. Februar 2020

Verwaltungsvollstreckung wegen eines privatrechtlichen Anspruchs durch eine Behörde und daraus resultierender Amtshaftungsanspruch


Es kommt in der Praxis immer wieder vor, dass Behörden den Versuch unternehmen, privatrechtliche Forderungen im Wege der Verwaltungsvollstreckung vorzunehmen. Im Rahmen der Verwaltungsvollstreckung können Verwaltungsakte vollstreckt werden, die entweder bestandkräftig sind oder bei denen ein eingelegter Widerspruch keine aufschiebende Wirkung hat und diese auch nicht auf Antrag wiederhergestellt wurde (vgl. § 80 VwGO). Ansprüche privatrechtlicher Natur muss auch die Behörde im ordentlichen Rechtsweg titulieren lassen, um sodann im Rahmen der Zwangsvollstreckung daraus vorgehen zu können.

Dem Verfahren vor dem OLG Koblenz lag (verkürzt wiedergegeben) folgender Sachverhalt zugrunde:

Die Verbandsgemeinde (Beklagte) erneuerte im Dezember 2013 eine Wasseranschlussleitung auf dem Grundstück des Klägers. Mit Rechnung vom 17.12.2013 forderte sie vom Beklagten dafür Zahlung in Höhe von € 3.116,22. Nachdem Zahlung nicht erfolgte, mahnte sie den Betrag mit zwei Schreiben (17.01.2014 und 18.02.2014) an und drohte im zweiten Schreiben mit einer Beitreibung in einem „Verwaltungszwangsverfahren“. Mit Schreiben vom 17.07.2014 teilte der Kläger mit, er habe eine Rechnung nicht erhalten und auch sonst keine Unterlagen zur Erneuerung einer Wasseranschlussleitung und bat um Information, was es damit auf sich habe.  Darauf wurde mit Schreiben vom 23.07.2014 „Erstaunen“ geäußert, da die Rechnung zugesandt worden sei und mitgeteilt, dass nunmehr eine Zwangssicherungshypothek im Grundbuch eingetragen würde. Noch am gleichen Tag wurde der entsprechende Antrag beim Grundbuchamt gestellt und die Eintragung erfolgte am 24.07.2014. Am 30.07.2014 schrieb der Kläger erneut und erklärte, er habe weder der Erneuerung der Leitung zugestimmt noch diese beauftragt und er widerspreche der Forderung; dies verband er mit der Aufforderung, die Zwangssicherungshypothek zu löschen. Mit Schreiben vom 04.08.2014 wurde ihm mitgeteilt, dass er zwar keinen Auftrag erteilt habe, die Erneuerung aber notwendig gewesen sei  und „Kostenträger außerhalb des öffentlichen Rechts … der Anschlussnehmer“ sei.

Im Rahmen des Zwangsversteigerungsverfahrens beglich der Kläger die geltend gemachte Forderung und der Antrag auf Zwangsversteigerung wurde zurückgenommen. Dem Kläger wurden von der Gerichtskasse die Kosten von € 1.156,83 berechnet. Diese wurden vom Kläger beglichen, die er mit seiner Klage von der Beklagten forderte. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die dagegen eingelegte Berufung war erfolgreich.

Anspruchsgrundlage ist § 839 Abs. 1 BGB iVm. Art 34 GG (Schadensersatz wegen Amtspflichtverletzung).

Bei dem zuständigen Mitarbeiter der Beklagten (Verbandsgemeindekasse als Vollstreckungsbehörde) handele es sich um einen in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis stehenden Amtswalter, der im Rahmen seines öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnisses tätig geworden sei und damit hoheitlich gehandelt habe, weshalb es sich um einen Beamten im haftungsrechtlichen Sinn des § 839 BGB gehandelt habe. Pflichtverletzungen desselben, die er in Ausübung des hoheitlichen Amtes begehe, gehen im Sinne einer befreienden Schuldübernahme auf den Staat (hier die Verbandsgemeinde) über.

Dem Mitarbeiter obliege die allgemeine Rechtspflicht zu rechtmäßigen Handeln. Er habe die Normen des Bundes- und Landesrechts zu beachten, unabhängig davon, ob sie dem öffentlichen oder dem privaten Recht zuzuordnen seien.

Vorliegend habe er die einschlägigen Normen des rheinland-pfälzischen Landesvollstreckungsgesetzes (LVwVG) nicht beachtet. Zwar stütze die Beklagte ihre Forderung auf ihre „Entgeltsatzung Wasserversorgung“ und ihre „Allgemeine Wasserversorgungssatzung“, weshalb es sich um eine öffentlich-rechtliche Forderung handele. Grundsätzlich sei dann aber ein Verwaltungsakt zu erlassen.  Zivilrechtliche Ansprüche seien demgegenüber durch Mahnbescheid oder Erwirkung eines gerichtlichen Vollstreckungstitels zu verfolgen, zu deren Durchsetzung dann regelmäßig der Gerichtsvollzieher zu beauftragen sei. Einzelne privatrechtliche Ansprüche würden allerdings nach Landesgesetzen auch im Rahmen der Verwaltungsvollstreckung beigetrieben werden können (vgl. § 71 Abs. 2 LVwVG), wobei in diesem Fall die Zahlungsaufforderung an die Stelle des ansonsten notwendigen Verwaltungsaktes trete.

Vorliegend habe sich die Beklagte nur auf sie Zahlungsaufforderung gestützt. Bei der zugrunde liegenden Forderung handele es sich aber nicht um eine solche nach § 71 Abs. 1 LVwVG iVm. § 1 a), b) der Landesverordnung über die Vollstreckung privatrechtlicher Forderungen (RhpfLVwGpFVO), da es nicht um die Lieferung von Gas, Wasser, Wärme und elektrischer Energie gegangen sei (abschließende Aufzählung in der Verordnung). Von daher sei eine Beitreibung nach dem LVwVG unzulässig. Dessen ungeachtet sei aber auch dann, wenn die Verwaltungsvollstreckung zulässig gewesen wäre, diese jedenfalls einzustellen, wenn der Vollstreckungsschuldner, wie hier geschehen, schriftlich oder zu Protokoll der Behörde Widerspruch erhebe, wobei er (was nicht erfolgt sei) darüber auch zu belehren sei (§74 Abs. 1 S. 1 LVwVG). Im Falle des Widerspruchs müsse der Gläubiger binnen eines Monats nachweisen, dass er Zivilklage erhoben oder den Erlass eines Mahnbescheides beantragt habe; die Vollstreckung könne nur nah den Grundsätzen der Zivilprozessordnung fortgesetzt werden, § 74 Abs. 3 LVwVG.  Obwohl der Kläger nicht belehrt wurde, habe er sogar Widerspruch erhoben, da sich dieser aus seinem Schreiben vom 30.07.2014 ableiten ließe („… widerspreche ich Ihrer Forderung ausdrücklich…“). Hier nun hätte jedenfalls die Beklagte Zivilklage erheben müssen oder einen Mahnbescheid beantragen müssen.

Bedeutsam sei in diesem Zusammenhang, dass zwar grundsätzlich für die Eintragung einer Zwangssicherungshypothek die Vorlage eines Titels mit Zustellungsnachweis erforderlich sei; allerdings genüge der Antrag der Vollstreckungsbehörde (hier der Verbandsgemeinde), der als Ersuchen nach § 38 GBO zu qualifizieren sei und dem Grundbuchamt das Vorliegen der Voraussetzungen bindend bescheinige. Daraus ergäbe sich die besondere Verantwortung des Mitarbeiters der Beklagten.

Eine weitere Amtspflichtverletzung des Mitarbeiters habe darin bestanden, dass er den Antrag auf Zwangsversteigerung stellte, obwohl die allgemeinen Vollstreckungsvoraussetzungen in Form der Zustellung nicht vorgelegen hätten. Die Beklagte habe den Zugang ihrer Rechnung bei dem Kläger nicht nachweisen können.

Die allgemeine Amtspflicht eines jeden beamten, rechtmäßig zu handeln, obliege gegenüber jedem als geschützten Dritten, der durch die Verletzung der Amtspflicht geschädigt werden könnte.

Der Mitarbeiter habe auch schuldhaft gehandelt. Der Amtsträger müsse die Kenntnisse und Einsichten besitzen oder sich verschaffen, die für die Führung des Amtes erforderlich seien. Er habe bei Gesetzesauslegung und Rechtsanwendung die Rechtslage unter Zuhilfenahme der ihm zu Gebote stehenden Hilfsmittel gewissenhaft und sorgfältig zu prüfen und danach seine Entscheidung auf Grund vernünftiger Überlegungen zu treffen (BGH, Urteil vom 09.12.2004 - II ZR 263/04 -). Die Normen des LVwVG müssten einem Mitarbeiter der kommunalen Vollstreckungsbehörde bekannt sein. Damit läge jedenfalls Fahrlässigkeit vor.

Eine Amtshaftung scheide nur dann aus, wenn der Geschädigte eine anderweitige Ersatzmöglichkeit habe. Dies sei hier nicht der Fall.

Das Landgericht nahm allerdings an, die Ersatzpflicht scheide hier nach § 839 Abs. 3 BGB aus, das es der Kläger vorsätzlich oder fahrlässig unterlassen habe, den Schaden durch Gebrauch eines Rechtsmittels abzuwenden. Dem folgte das OLG nicht.

Auch die Ankündigung im Schreiben vom 23.07.2014, zur Absicherung der Forderung eine Zwangssicherungshypothek eintragen zu lassen, reiche nicht aus, hier ein Verschulden des Klägers anzunehmen. Zwar hätte er nach § 59 Abs. 2 LVwVG Eilrechtsschutz bei dem zuständigen Verwaltungsgericht beantragen können. Doch sei § 59 Abs. 2 LVwVG hier nicht anwendbar. Die Norm beträfe ausschließlich Verwaltungsakte, mit denen Geldforderungen gefordert würden (§§ 1 – 60 LVwVG). Vorliegend war aber kein Verwaltungsakt erlassen worden. Im Übrigen habe der Kläger, trotz fehlender Belehrung, das zulässige Rechtsmittel des Widerspruchs iSv. § 74 Abs. 1 S. 1 LVwVG eingelegt (Schreiben vom 30.07.2014), der vom Mitarbeiter der Beklagten schlicht nicht beachtet worden sei. Davon, dass die Beklagte den Widerspruch nicht beachtet und gar die Zwangsgsversteigerung beantragte, erfuhr der Kläger erst mit Zustellung des Zwangsversteigerungsbeschlusses durch das Gericht. Damit aber war die hier streitige Gebühr bereits angefallen.

OLG Koblenz, Urteil vom 12.09.2019 - 1 U 135/19 -

Samstag, 22. Februar 2020

Räumungsverfügung gegen Dritte bei Geschäftsräumen bei gekündigten Mietverhältnis (§§ 940, 940a ZPO)


Es gibt bestimmte Rechtsfragen, zu denen bildet sich keine einheitliche Rechtsprechung, da diese Rechtsfragen leider dem Instanzenzug zum BGH entzogen sind. Dazu gehört die Frage, ob § 940a ZPO auch im Bereich von Geschäftsräumen entsprechend anwendbar ist oder im Rahmen des § 940 ZPO zu übertragen ist. Zuletzt nahm dazu jetzt das OLG Celle Stellung, mit der das OLG von den Entscheidungen des KG vom 09.05.2019 - 8 W 28/19 - (dieses wiederum unter Aufgabe seiner bisherigen Rechtsprechung), des OLG Frankfurt vom 13.09.2019 - 2 U 61/19 - und des OLG München vom 12.12.2017 - 32 W 1939/17 - abweicht.  

Ausgangspunkt ist § 940a ZPO, welcher in Bezug auf Wohnräume die Regelung enthält, dass unter bestimmten Umständen eine auf Räumung gerichtete einstweilige Verfügung (die Räumungsverfügung) gegen Personen erwirkt werden kann, die neben dem (gekündigten) Mieter in den Wohnräumen leben:

"(1) Die Räumung von Wohnraum darf durch einstweilige Verfügung nur wegen verbotener Eigenmacht oder bei einer konkreten Gefahr für Leib oder Leben angeordnet werden.
(2) Die Räumung von Wohnraum darf durch einstweilige Verfügung auch gegen einen Dritten angeordnet werden, der im Besitz der Mietsache ist, wenn gegen den Mieter ein vollstreckbarer Räumungstitel vorliegt und der Vermieter vom Besitzerwerb des Dritten erst nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung Kenntnis erlangt hat.
(3) Ist Räumungsklage wegen Zahlungsverzugs erhoben, darf die Räumung von Wohnraum durch einstweilige Verfügung auch angeordnet werden, wenn der Beklagte einer Sicherungsanordnung (§ 283a) im Hauptsacheverfahren nicht Folge leistet.
(4) In den Fällen der Absätze 2 und 3 hat das Gericht den Gegner vor Erlass einer Räumungsverfügung anzuhören."
Die Norm ist lediglich nach ihrem Wortlaut auf Wohnraum anwendbar, greift mithin nicht für Gewerberäume. Die Norm wurde vom Gesetzgeber eingefügt, da im Rahmen einer einstweiligen Verfügung nach § 940 ZPO grundsätzlich eine Räumung nicht durchsetzbar ist (es würde sich um eine im Verfügungsverfahren unzulässige Vorwegnahme der Hauptsache handeln, da auf der Grundlage einer entsprechenden Räumungsverfügung das eventuell streitige Räumungsverlangen endgültig durchgesetzt werden könnte). Voraussetzung der Anwendbarkeit ist grundsätzlich, dass der Verfügungskläger (Vermieter) im Besitz eines vollstreckbaren Räumungstitels gegen den Mieter ist und zusätzlich erst nach dem Schluss der letzten mündlichen Verhandlung vor Erlass des Räumungsurteils erfährt, dass sich noch eine weitere Person (oder mehrere Personen) im (Mit-) Besitz der Wohnung befinden (sei es aufgrund eines vom bisherigen Mieter eingeräumten Nutzungsrechts oder nicht bekannten Untermietverhältnisses).

Obwohl in der Norm ausdrücklich nur auf Wohnraum abgestellt wird, besteht in Rechtsprechung und Literatur Streit darüber, ob die Norm nicht doch auch im Rahmen Nutzungsüberlassung von Geschäftsräumen durch den gekündigten Mieter (gegen den ein vollstreckbarer Räumungstitel vorliegt) entsprechend oder der Übertragung auf die Regelung in § 940 ZPO angewandt werden kann. Das OLG Celle verneint dies. Obwohl vom Landgericht in dem angefochtenen Urteil zutreffend ein Räumungs- und Herausgabeanspruch des Klägers angenommen worden sei, darf nach Auffassung des OLG keine darf gerichtete einstweilige Verfügung ergehen, da es dem Verfügungsgrund ermangele.

Der Verfügungsgrund des § 940a ZPO (vollstreckbarer Räumungstitel gegen den Mieter, Kenntnis des Besitzerwerbs durch einen Dritten erst nach Schluss der mündlichen Verhandlung, auf die das Urteil erging) greift nach Auffassung des OLG nicht. Überschrift und Wortlaut der Norm würden verdeutlichen, dass diese nur für Wohnraumanwendbar sei. Eine analoge Anwendung scheide aus (Anm.: eine Analogie einer Spezialnorm, wie hier § 940a ZPO zu § 940 ZPO, scheidet in der Regel aus, wenn nicht von einer planwidrigen Regelungslücke auszugehen ist).

Auch könne § 940a ZPO nicht über § 940 ZPO als „Ankernorm“ auf Geschäftsraummietverhältnisse angewandt werden. Die Argumentation des KG sowie des OLG Frankfurt, die die Anwendbarkeit des § 940a ZPO über § 940 ZPO bejahen, würden dem Prinzip der Gewaltenteilung widersprechen und eine unstatthafte Korrektur des Gesetzgebers bedeuten. Für ein „wenn schon, dann erst recht“  sei bei Spezialnormen wie hier kein Raum. Dies gelte auch dann, wenn zwar die Norm nicht analog angewandt würde, deren Wertung aber bei § 940 ZPO herangezogen würde.

Auch der Argumentation des OLG München könne nicht gefolgt werden. § 940 ZPO erfordere ein Werturteil, da ein Sachverhalt erst nach einem zu konkretisierenden „ausfüllungsbedürftigen“ Maßstab beurteilt werden könne, weshalb zwar maßgeblich die Methode der Fallvergleichung und Typisierung Anwendung fände, wobei gleiche Fälle gleich zu behandeln seien. Es bedürfe aber der Herausarbeitung, welche Umstände in welchem Ausmaß für die geforderte Bewertung nach allgemeinem Maßstab von Bedeutung seien. Gerade daran fehle es aber hier: Der signifikante Unterschied bestehe in der rechtlichen Bewertung von Wohnraummietverhältnissen und Gewerberaummietverhältnissen, wie auch § 578 verdeutliche (die Norm überträgt nur einzelne Normen des Wohnraummietrechts auf die Gewerberaummiete). Darin käme bereits eine Wertentscheidung des Gesetzgebers zum Ausdruck, was dagegen spreche, dass der Gesetzgeber mit der Schaffung der Norm des § 940a ZPO eine typisierende Bewertung für alle Arten von Mietverhältnissen vorgenommen hätte. Auch läge damit keine Regelungslücke vor, die nur angenommen werden könne, da es auf der Grundlage des maßgeblichen Wertungsprinzips des Gesetzgebers an einer behebungsbedürftigen Unvollständigkeit ermangele.

Mithin käme eine einstweilige Räumungsverfügung nach §§ 935, 940 ZPO nur in Ausnahmefällen Betracht.  Dazu würden die umgehende Rückgängigmachung verbotener Eigenmacht sowie die Fälle zählen, in denen der unberechtigte Besitzer die Sache in einer  vertragswidrigen Weise nutzt und der Sachsubstanz aus diesem Grund konkreter Schaden drohe. Nicht dazu würden die Nichtzahlung von Nutzungsentgelt trotz Nutzung gehören, da es auf die Dringlichkeit ankäme (offen gelassen und in der Rechtsprechung auch streitig für Fälle der wirtschaftlichen Notlage des Vermieters).

OLG Celle, Urteil vom 09.01.2020 - 2 U 116/19 -

Donnerstag, 20. Februar 2020

Voraussetzungen für Grundbuchberichtigung bei Erbnachfolge für einen verstorbenen Gesellschafter einer Eigentümer-GbR


Der privatschriftliche Gesellschaftsvertrag der Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR, §§ 705ff BGB) sah in § 8 (1) für den Fall des Todes eines Gesellschafters vor, dass die Gesellschaft mit den Erben oder Vermächtnisnehmern des verstorbenen Gesellschafters fortgesetzt wird. Sie können den Eintritt binnen drei Monaten gegenüber der Gesellschaft ablehnen; in diesem Fall sind sie abzufinden und wird die Gesellschaft mit den verbliebenen Gesellschaftern fortgesetzt.

Ein Gesellschafter verstarb und zugunsten seiner Erben wurde ein Erbschein ausgestellt, der von einem der Erben dem Grundbuchamt mit dem Gesellschaftsertrag vom 17.11.2007 und dem Antrag auf Berichtigung des Grundbuchs dahingehend überlassen wurde, dass der verstorbene Gesellschafter aus der GbR als Eigentümerin ausgeschieden sei und die Erben an seiner Stelle Gesellschafter wurden. Das Grundbuchamt wies in seiner angefochtenen Zwischenverfügung darauf hin, dass der Eintragung das Fehlen Berechtigungsbewilligungen aller verbliebenen Gesellschafter und aller Erben sowie der Unrichtigkeitsnachweis nach § 22 GBO durch Vorlage des Gesellschaftsvertrages in Form des § 29 GBO (notarielle Errichtung desselben) entgegenstünden. Das Amtsgericht half der Beschwerde nicht ab.

Im Beschwerdeverfahren wurden nach Hinweis des OLG von dem Beschwerdeführer Erklärungen aller verbliebenen Gesellschafter und der erben vorgelegt, wonach § 8 (1) des Gesellschaftsvertrages vom 17.11.2007 unverändert sei und kein Erbe die Ablehnung des Eintritts in die GbR erklärt habe. Daraufhin wurde vom OLG die angefochtene Zwischenverfügung aufgehoben.

Die Aufhebung erfolgte aus formellen Gründen, da nach Auffassung des OLG die Voraussetzungen für eine Zwischenverfügung nach § 18 Abs. 1 GBO nicht vorlagen. Die Zwischenverfügung soll den Rang und die sonstigen Rechtswirkungen des Antrages erhalten, was bei einer (wirksamen) Zurückweisung nicht der Fall wäre. Eine solche Zwischenverfügung sie aber nur möglich, wenn der Mangel des Antrags mit rückwirkender Kraft geheilt werden könnte. Daher könne nicht – ie geschehen – die Vorlage einer Eintragungsbewilligung aufgegeben werden, die erst Grundlage für die vorzunehmende Eintragung sein soll. Für eine Berichtigungsbewilligung gelte nichts anderes. Mithin hätte das Grundbuchamt – nach  seiner Rechtsansicht zu den Voraussetzungen des Antrags – den Berichtigungsantrag sofort zurückweisen müssen.

Wohl in der Erkenntnis, dass bei einer Aufhebung der Zwischenverfügung nur aus diesen formellen Gründen heraus das Grundbuchamt sodann den Antrag sofort zurückgewiesen hätte und mithin eine Beschwerde dagegen erfolgt wäre, sah sich der Senat des OLG wohl veranlasst vorsorglich Hinweise (wenn auch nicht rechtsbindend) für das weitere Verfahren zu geben, in denen er die Rechtsauffassung des Grundbuchamtes als verfehlt darlegte. In Ansehung solcher (vorsorglichen) hinweise wird im Zweifel das erneut zur Entscheidung berufene Grundbuchamt sich kaum auf diese Gründe beziehen, da eine darauf beruhende Zurückweisung des Antrags mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vom Beschwerdegericht aufgehoben würde.

Für die Berichtigigungsbewilligung bedürfe es lediglich der schlüssigen Darlegung der Grundbuchunrichtigkeit (§§ 19, 22 Abs. 2, 29 Abs. 1 GBO) oder (§ 22 Abs. 1 GBO) aufgrund grundsätzlich lückenlosen, besonders formalisierten Nachweises der die Unrichtigkeit des Grundbuchs bedingenden Tatsachen. An der erbringung des Unrichtigkeitsnachweises seien strenge Anforderungen zu stellen, weshalb für eine Berichtigung ohne Bewilligung der Betroffenen eine bloße gewisse Wahrscheinlichkeit nicht ausreiche. Es sei grundsätzlich durch öffentliche oder öffentlich beglaubigte Urkunden (§ 29 GBO) lückenlos jede Möglichkeit auszuräumen, die der Richtigkeit der vorhandenen Eintragung entgegenstehen könnten. Lediglich ganz entfernte Möglichkeiten, welche der Richtigkeit der begehrten Eintragung entgegenstehen könnten, bräuchten nicht widerlegt zu werden. Dies gelte nach § 47 Abs. 2 S. 2 GBO auch für die Berichtigung der Gesellschafterzusammensetzung der als Eigentümer eingetragenen GbR. Im Falle der Fortsetzung der Gesellschaft mit den Erben bedürfe es der Vorlage des Gesellschaftsvertrages, aus dem sich die Nachfolgevereinbarung ergebe, sowie des Nachweises der Erbfolge, oder einer Fortsetzungsvereinbarung, wonach die Gesellschaft mit den übrigen (mindestens zwei) Gesellschaftern fortgesetzt würde.

Allerdings sei ein Abweichen von den strengen Formvorschriften des § 29 GBO dann möglich, wenn sich die  Beteiligten ansonsten in einer unüberwindbaren Beweisnot befänden. Es könne daher ein (wie hier) nur in privatschriftlicher Form errichteter Gesellschaftsvertrag als Unrichtigkeitsnachweis iSv. § 22 GBO genügen (nach dem Beschluss des KG vom 29.03.2016 - 1 W 907/15 - könne stattdessen auch die Zustimmung der Erben in Form des § 29 GBO ausreichen). Hintergrund sei, dass es für den Gesellschaftsvertrag der GbR keine Formvorschrift gebe.

Allerdings sei eine Berichtigung der Gesellschafter nach dem Tod eines Gesellschafters im Grundbuch auch über eine Berichtigungsbewilligung nach §§ 22, 18 GBO nicht ohne weiteres möglich, wenn der Nachweis der Berichtigungsberechtigung ebenfalls nur anhand des nicht formgerechten Gesellschaftsvertrages geführt werden könne. Bewilligen müssten danach außer den eingetragenen Gesellschaftern noch diejenigen, die aufgrund der Nachfolgeklausel neue Gesellschafter sind, deren Person jedoch entweder aus dem Gesellschaftsvertrag, ggf. in Verbindung mit einem Erbschein festzustellen seien.  Es sei allerdings widersprüchlich, hier nun erhöhte Anforderungen zu stellen, zumal auch der Gesetzgeber bei der Normierung des § 899a BGB wusste, dass es keine Formvorschrift für den Gesellschaftsvertrag einer GbR gibt und solches auch nicht geregelt habe. Da allgemein davon ausgegangen würde, dass es aufgrund von personellen und finanziellen Verhältnissen nach Ablauf von mehreren Jahren Änderungen am Gesellschaftsvertrag geben könne, sei zur Ausräumung von Zweifeln eine privatschriftliche Erklärung aller eingetragenen ursprünglichen Gesellschafter sowie der Erben (und Erbeserben) über den aktuellen Inhalt des Gesellschaftsvertrages ausreichend, aber auch notwendig. Diese Erklärungen lägen (jetzt, nach Anforderung durch den Senat) vor.

OLG München, Beschluss vom 08.01.2020 - 34 Wx 420/19 -

Dienstag, 18. Februar 2020

Persönlichkeitsrecht: Geldentschädigung bei Videoüberwachung durch Vermieter ?


Mit zunehmendem Sicherungsbedürfnis des Vermieters vor Schädigungen seines Eigentums und des Mieters vor möglichen Einbrüchen weitet sich der Einsatz von Videoüberwachungen sowohl im Bereich gewerblich genutzter Immobilien wie auch in der Wohnnutzung dienenden Immobilien aus. Auch wenn häufig Mieter die Überwachungen als zusätzlichen Schutz auch der eigenen Sphäre begrüßen, sehen sich andere Mieter (insbesondere bei Wohnraum) in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht beeinträchtigt.

Vorliegend waren Videokameras im Innenbereich des Hauseingangs und im ersten Innenhof des Mietobjekts installiert. Betroffen von der Überwachung waren auch der Außenbereich der Wohnung der klagenden Mieterin als auch Teile des Zugangs zu ihrer Wohnung. Die Mieterin machte einen Anspruch auf Geldentschädigung wegen der von ihr in der Überwachung gesehenen Verletzung ihres Persönlichkeitsrechts geltend.  Im Laufe des Verfahrens des auch auf Unterlassung Anbringung der Videokameras gerichteten Antrags wurden diese von dem Vermieter entfernt und insoweit der Rechtsstreit übereinstimmend für erledigt erklärt. Die Klage auf Geldentschädigung wurde vom Amtsgericht abgewiesen. Mit seinem Hinweisbeschluss (§ 522 ZPO) teilte das Landgericht der klagenden Mieterin, die Berufung gegen die amtsgerichtliche Entscheidung eingelegt hatte, mit, dass beabsichtigt sei, die Berufung zurückzuweisen.

Der Anspruch auf Geldentschädigung beruhe auf § 823 Abs. 1 BGB iVm. Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG. Nach der Rechtsprechung des BGH begründe eine schuldhafte Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts eine Geldentschädigung des Betroffenen, wenn es sich um einen schwerwiegenden Eingriff handele und die Beeinträchtigung nicht in anderer Weise befriedigend aufgefangen werden könne.

Für die schwere des Eingriffs sei auf die gesamten Umstände des Einzelfalls abzustellen. Dabei sei auf die Bedeutung und Tragweite des Eingriffs abzustellen, mithin auf das Ausmaß der Verbreitung der Veröffentlichung, die Nachhaltigkeit und Fortdauer der Interessen- oder Rufschädigung des Verletzten und auf die Nachhaltigkeit und Fortdauer dieser Verletzung, ferner auf Anlass und Beweggrund des Handelnden und den Grad seines Verschuldens (BGH, Urteil vom 17.12.2013 - VI ZR 211/12; BGH, Urteil vom 15.09.2015 - VI ZR 175/14 -). Zu berücksichtigen sei auch ein erwirkter Unterlassungstitel; die daraus mögliche Vollstreckung könne den Entschädigungsanspruch beeinflussen und sogar ausschließen. Dies deshalb, da die Geldentschädigung im Falle der Verletzung des Persönlichkeitsrechts ihre sachliche Rechtfertigung darin finde, dass ohne diese häufig die Verletzungshandlung ohne Sanktion bliebe und damit „der Rechtsschutz der Persönlichkeit verkümmern würde“.

Dass hier ein schwerer Eingriff in das Persönlichkeitsrecht  der Mieterin durch die Kameras  vorläge, sei zutreffend vom Amtsgericht angenommen worden. Allerdings beträfe dieser rechtswidrige Eingriff nicht den Kern desselben, auch wenn mit dem Zugang zur Wohnung ein verfassungsrechtlich besonders geschützter privater Rückzugsbereich der Mieterin betroffen sei. Ziel der Überwachung sei nicht eine gezielte, generelle Überwachung der (auch eventuell ahnungslosen) Mieter gewesen und eine Verbreitung oder Veröffentlichung habe weder stattgefunden noch sei dies zu befürchten gewesen.

Der erwirkte Unterlassungstitel belege, dass die mit dem rechtswidrigen Eingriff erfolgte Persönlichkeitsrechtsverletzung nicht sanktionslos geblieben sei, wie das Entfernen der Kameras belege. Die Heimlichkeit der Installation und Überwachung der Kameras und der Zeitraum bis zu ihrer Entfernung würden hier die Geldentschädigung nicht rechtfertigen können.  

LG Berlin, Hinweisbeschluss vom 02.10.2019 - 65 S 1/19 -

Sonntag, 16. Februar 2020

Umfang des Versicherungsschutzes in der Kfz-Pflichtversicherung für beförderte Gegenstände des Fahrzeuginsassen


Die Klägerin, die mit dem Versicherungsnehmer mitfuhr,  machte gegen die Kfz-Versicherung (Beklagte) nach einem Unfall, der von dem Versicherungsnehmer der Beklagten verursacht wurde, Schadensersatzansprüche geltend.  U.a. befand sich in dem beschädigten Wohnwagen ein elektrischer Rollstuhl, der ebenfalls beschädigt wurde. Von der Beklagten wurde eine Regulierung abgelehnt. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen; die Berufung dagegen wurde vom OLG Jena zurückgewiesen.

Der Anspruch wurde abgewiesen, da kein Anspruch gegen die Beklagte aus §§ 7 Abs. 1, 8 Nr. 3 StVG, 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG hergeleitet werden könne. Grundlage der Entscheidung des OLG war eine Klausel in den Allgemeinen Bedingungen für die Kfz-Versicherung (AKB 2008), die unter A.1.5.5 eine Ausschlussklausel enthalten. Danach besteht bei Schadensersatzansprüchen wegen Beschädigung, Zerstörung oder Abhandenkommen von Sachen, die mit dem Fahrzeug befördert werden, kein Versicherungsschutz , es sei denn, es handele sich um Gegenstände, die (wie Kleidung, Brille, Brieftasche) üblicherweise mit sich geführt würden.

Die aus der Sicht eines verständigen Versicherungsnehmers auszulegende Klausel sei dahingehend zu verstehen, dass damit mitgenommene Gegenstände, die unter die Klausel fallen würden, vom Versicherungsschutz ausgenommen würden. Befördern sei das Verbringen von einem Ort zum Anderen. Erfasst würden Transportschäden, die durch den zweckgerichteten Einsatz des Fahrzeugs als Transportmittel entstünden. Ausreichend sei, dass das Fahrzeug (wie hier im Hinblick auf den Rollstuhl, der am Urlaubsort zum Einsatz kommen sollte) auch als Transportmittel genutzt würde.

Entscheidend ist daher vorliegend, ob es sich bei dem Rollstuhl um eine Sache handelt, die „Insassen eines Fahrzeugs üblicherweise mit sich führen“.  Die enumerative Benennung von Gegenständen in der Klausel sei nicht abschließend, würde aber verdeutlichen, dass es sich um solche Sachen handelt, die es sich um solche Sachen handeln würde, die Fahrzeuginsassen typischerweise am Körper tragen oder zu denen zumindest eine engere Beziehung als zu gewöhnlichem Reisegepäck bestünde. Die Versicherung wolle allgemein keine allgemeine Sachversicherung für alle von Fahrzeuginsassen mitgeführten Gegenstände anbieten und müsse dies auch nicht; hier könne der Geschädigte den Schädiger in Anspruch nehmen oder diese Gegenstände gesondert versichern.

Der Begriff „üblicherweise“ sei objektiv und nicht subjektiv auszulegen. Dazu bestünden unterschiedliche Ansichten. Allerdings sei vorliegend zu berücksichtigen, dass der Rollstuhl im zusammengebauten und betriebsfähigen Zustand ca. 40kg wöge, zusammengefaltet der Rollstuhl zwischen 15 – 20 kg, due Antriebselemente ca. 20 – 35kg. Mit diesem Gewicht und seinen Ausmaßen stelle der Rollstuhl keine Sache mehr dar, die Fahrzeuginsassen üblicherweise und ohne Weiteres in Fahrzeugkabine oder Kofferraum transportieren würden, anders als bei einem klappbaren Stamdrd-Rollstuhl oder Rollator. Das gelte auch, wenn der Rollstuhl in einem Anhänger oder Wohnwagen verstaut würde.

Für diese Auslegung spräche auch die Gesetzesentwicklung. Bis 2002 hätte nur dann eine Haftung nach § 7 StVG bestanden, wenn eine entgeltlich und geschäftsmäßig beförderte die Sache getragen oder mit sich geführt habe. In 2002 sei die Haftung auch auf die Verletzung und Tötung von Fahrzeuginsassen, die nicht entgeltlich und geschäftsmäßig befördert wurden, ausgedehnt. Eine Erweiterung bezüglich der mitgeförderten Sachen für diesen Personenkreis wurde nicht aufgenommen; der Gesetzgeber sei davon ausgegangen, dass sich entweder ein Anspruch aus dem Beförderungsvertrag oder aus dem allgemeinen Deliktsrecht ergeben könne, nicht jedoch aus dem Rechtsinstitut der Gefährdungshaftung hergeleitet werden soll (BT-Drs. 14/7752, S. 31).

OLG Jena, Urteil vom 19.09.2019 - 4 U 208/19 -

Freitag, 14. Februar 2020

WEG: Durchsetzung der Hausgeldklage im Urkundenprozess


Im Streit waren Hausgeldansprüche der klagenden Wohnungseigentümer (Kläger). Nachdem dem beklagten Wohnungseigentümer die Klage zugestellt worden war, zahlte er. Die Kläger erklärten die Hauptsache für erledigt. Das Amtsgericht hatte ihnen die Verfahrenskosten auferlegt mit der Begründung, die Klage sei unzulässig gewesen, da sie im Urkundenverfahren erhoben worden sei. Auf die Beschwerde wurden die Kosten dem Beklagten auferlegt.

Damit musste sich das Landgericht mit der Frage auseinandersetzen, ob die Klage im Urkundenverfahren zulässig erhoben werden konnte. Dabei, so das Landgericht, käme es vorliegend auch nicht darauf an, dass der Beklagte auf die Klage gar nicht erwidert habe und von daher die Forderung unstreitig gewesen sei, weshalb ein  Urkundenbeweis nicht einmal erforderlich gewesen sei. Einer entsprechenden Bewertung würde § 597 Abs. 2 ZPO entgegenstehen, wonach die nicht durch Urkunden bewiesenen Tatsachen im Falle einer Säumnissituation des Gegners entgegen § 331 Abs. 1 ZPO nicht als zugestanden gelten würden, sondern die die Echtheit der Urkunden und die Übereinstimmung von Kopien und Originalen.

Entscheidend sei, ob das Protokoll der Eigentümerversammlung, auf der über den Wirtschaftsplan bzw. die Jahresabrechnung abgestimmt würde, auf deren Grundlage dann die Forderung geltend gemacht würde, die Beschlussfassung beweise und damit also die anspruchsbegründenden Tatsachen iSv. § 592 ZPO bewiesen werden können. Diese in der Literatur unterschiedlich beantwortete Frage wurde vom Landgericht pro Urkundenverfahren entschieden.

Das Protokoll der Eigentümerversammlung sei lediglich eine Privaturkunde (§ 416 ZPO). Dieser komme nur ein eingeschränkter Beweiswert dahingehend zu, dass die Unterzeichner derselben den Inhalt für wahrheitsgemäß befinden. Der Urkundenbegriff in § 592 ZPO würde aber keine Unterscheidung zwischen Privaturkunde und öffentlicher Urkunden oder im Übrigen machen; vielmehr entspräche der verwandte Urkundenbegriff in der Prozessordnung der der §§ 415ff BGB mit der Folge, dass er alle schriftlichen Beweisstücke umfasse. Deshalb müsse die Urkunde das den Anspruch begründende Rechtsverhältnis selbst verbriefen. Ausreichend sei, dass nach den Grundsätzen der freien Beweiswürdigung der geltend gemachte Anspruch durch die Urkunde bewiesen werden könne. Die Urkunde müsse also positiv nur geeignet sein, das Bestehen des Anspruchs unmittelbar oder mittelbar (z.B. im Rahmen einer Indiztatsache) zu erbringen und dürfe negativ nicht einen unzulässigen Augenschein-, Zeugen oder Sachverständigenbeweis durch Verschriftlichung ersetzen.

Hier käme dem Protokoll die Indizwirkung zu, dass Beschlüsse gefasst wurden, wie protokolliert. Ein abweichender Geschehensablauf müsse vom Gegner dargelegt und nahgewiesen werden.

Damit besteht eine vereinfachte und schnellere Möglichkeit, Ansprüche der Wohnungseigentümergemeinschaft gegen nicht zahlende Wohnungseigentümer geltend zu machen, die sich entweder aus der beschlossenen Jahresabrechnung oder dem beschlossenen Wirtschaftsplan ergeben. Zwar sind dem jeweiligen Gegner seine Rechte für das Nachverfahren (auf Antrag bei Anerkenntnis des Anspruchs im Urkundenverfahren oder bei Klageabweisungsantrag) vorzubehalten, doch kann bereits aus dem Urteil im Urkundenverfahren vollstreckt werden.

LG Frankfurt am Main, Beschluss vom 11.12.2019 - 2-13 T 106/19 -

Sonntag, 9. Februar 2020

Zuweisung und Zuweisungsbefugnis von Sondernutzungsrechten durch (ausgeschiedenen) teilenden Eigentümer


Häufig weiß der aufteilende Eigentümer nicht, welchem Sonder-/Teileigentum er bestimmte Sondernutzungsrechte (die z.B. an Stellplätzen geschaffen werden) er diese zuteilen wird, da er die Entscheidung z.B. vom Abverkauf abhängig machen will. In diesen Fällen wird eine entsprechende Regelung zur Zuweisung und Zuweisungsbefugnis in die Teilungserklärung der Wohnungseigentümergemeinschaft (WEG) aufgenommen. In dem vom OLG Düsseldorf zu beurteilenden Fall wurde aufgenommen: „Der aufteilende Eigentümer ist berechtigt, bei Beurkundung der Verträge über die erstmalige Veräußerung der Wohnungs- und Teileigentumseinheiten zu bestimmen, ob und ggf. welche der vorgenannten PKW-Abstellplätze dem betreffenden Erwerber und künftigen Eigentümer eines Wohnungs- oder Teileigentumsrechts zur alleinigen, unentgeltlichen und ausschließlichen Nutzung zusteht. Der aufteilende Eigentümer ist berechtigt, eine solche Bestimmung auch ohne Veräußerung durch eine notariell beglaubigte Erklärung zu treffen.“.  Im folgenden Absatz heißt es: „Unter der aufschiebenden Bedingung, dass der zur jeweiligen Sondernutzung eines der vorgenannten Stellplätze allein berechtigte Sondereigentümer in vorstehender Form bestimmt wird, sind die jeweils anderen Sondereigentümer von der Nutzung der Stellplätze ausgeschlossen und haben die unentgeltliche Sondernutzung zu dulden.

Zum Zeitpunkt der erfolgten Zuteilung war der teilende Eigentümer nicht mehr Eigentümer von Wohnungs- und Teileigentum gewesen. Das Grundbuchamt sah zur Eintragung der Sondernutzungsrechte zu jeweils benannten Wohn-/Teileigentumseinheiten im Rahmen einer Zwischenverfügung die Mitwirkung aller Miteigentümer als erforderlich an. Dagegen wandte sich die Beschwerde, über die das OLG zu entscheiden hatte. Die Beschwerde hatte aus formalen Gründen Erfolg, da nach Auffassung des OLG eine Zwischenverfügung nicht hätte ergehen dürfen. Das Grundbuchamt wird daher in der Sache entscheiden müssen. Allerdings nahm das OLG die Beschwerde zum Anlass auch zur Sache Stellung zu nehmen, wobei es sich auch grundlegend zu dem Zuweisungsrecht äußerte:

Sollen Sondernutzungsrechte nachträglich als Inhalt des Sondereigentums im Grundbuch eingetragen werden, bedürfe es der Einigung sämtlicher Wohnungseigentümer, § 10 Abs. 3 WEG, und nach §§ 5 Abs. 4 WEG, 877, 876 BGB der Zustimmung möglicherweise dadurch Benachteiligter dinglicher Berechtigter (so Grundschuldgläubiger) sowie jener, denen bereits eine Auflassungsvormerkung erteilt wurde. Dies gelte auch dann, wenn die nachträgliche Begründung von Sondernutzungsrechten bereits in der ursprünglichen, im Grundbuch gewahrten Teilungserklärung vorgesehen sei.

Allerdings gäbe es zwei anerkannte Möglichkeiten der Gestaltung einer Teilungserklärung, die dem teilenden Eigentümer die nachträgliche Begründung von Sondernutzungsrechten ohne Mitwirkung der übrigen Wohnungs- und Teileigentümer und der dinglich Berechtigten ermögliche.

1. Der teilende Eigentümer könne sich in der Teilungserklärung ein Zuordnungsrecht vorbehalten mit der Folge, dass dieses zunächst keiner Wohnung bzw. keinem Teileigentum zugeordnet wird und er alleine Berechtigt bleibt. Diese „gestreckte Begründung von Sondernutzungsrechten durch Zuordnungsvorbehalt“ beruhe aber auf dessen persönlicher Sondernutzungsberechtigung und würde nur bis zu seinem Ausscheiden aus der Gemeinschaft gelten können. Das Sondernutzungsrecht ist an die Inhaberschaft von Wohnungs- oder Teileigentum gebunden. Ein Mitnehmen des Zuweisungsrechts würde überwiegend abgelehnt.

2. Der teilende Eigentümer könne alle künftigen Erwerber unter der aufschiebenden Bedingung (§ 158 BGB) einer Zuweisung der Sondernutzungsrechte  von einer Nutzung mit Eintritt der Bedingung ausschließen („gestreckte Begründung von Sondernutzungsrechten durch aufschiebend bedingte Zuordnung“). Hier der teilende Eigentümer nur zuweisungsberechtigt. In diesem Fall würde in der Rechtsprechung überwiegend eine Zulässig (bejahend OLG Frankfurt, Beschluss vom 25.06.2015 - 20 W 54/15 -; OLG Stuttgart, Beschluss vom 11.05.2012 - 8 W 164/11 -; vgl. auch OLG Hamm, Beschluss vom 16.06.2017 - 15 W 474/16 -).

Das OLG lässt offen, ob es sich bei der Regelung in der Teilungserklärung in Ansehung des 2. Absatzes um die Variante der „gestreckten Begründung von Sondernutzungsrechten durch aufschiebend bedingte Zuordnung“ handelt.  Entscheidend sei die Auslegung der vorliegenden Teilungserklärung, was vom Grundbuchamt entsprechend § 133 BGB zu erfolgen habe. Es sei auf Wortlaut und Sinn der Erklärung abzustellen. Danach nimmt das OLG an, dass der teilende Eigentümer mit seinem Ausscheiden aus der Gemeinschaft  nicht mehr zur Zuweisung berechtigt sei. Ausdrücklich sei im ersten Absatz auf die Zuweisungsberechtigung des teilenden Eigentümers „bei Beurkundung der Verträge über die erstmalige rechtsgeschäftliche Veräußerung“ abgestellt worden. Eine Regelung dazu, was gelten soll, wenn der teilende Eigentümer ohne Zuweisung alle Wohnungs- und Teileigentumseinheiten veräußert und übertragen hat, fehle.

OLG Düsseldorf, Beschluss vom 17.10.2019 - I-3 Wx 69/19 -

Freitag, 7. Februar 2020

Ausschließlicher Gerichtsstand des § 29a ZPO für lediglich aus dem Mietvertrag verpflichtete Dritte


In dem mit einer Kommanditgesellschaft (KG) abgeschlossenen Mietvertrag hatte sich diese für den Fall, dass sie für den Fall der Nichterbringung von bestimmten Ausbauleistungen zur Zahlung einer Vertragsstrafe an den Vermieter verpflichtet. Nach Abschluss des Mietvertrages ging das Mietverhältnis auf Vermieterseite auf die Klägerin über. Streitig war, ob es einer Gerichtsstandbestimmung für die Klage gegen den  nicht am Ort der Mietsache und außerhalb deren Gerichtsbezirk wohnhaften Komplementär bedarf. Das BayObLG war zur Gerichtsstandsbestimmung zuständig (§ 36 Abs. 2 ZPO iVm. § 9 EGZPO).

Das BayObLG lehnte eine Gerichtsstandbsstimmung ab.

Sei für einen der beteiligten Streitgenossen ein ausschließlicher besonderer Gerichtsstand gegeben, greife auch § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO:

„(1) Das zuständige Gericht wird durch das im Rechtszug zunächst höhere Gericht bestimmt:
3. wenn mehrere Personen, die bei verschiedenen Gerichten ihren allgemeinen Gerichtsstand haben, als Streitgenossen im allgemeinen Gerichtsstand verklagt werden sollen und für den Rechtsstreit ein gemeinschaftlicher besonderer Gerichtsstand nicht begründet ist“

Die sei für die Mieterin (KG) das nach § 29a Abs. 1 ZPO das LG Memmingen, da diese Norm auf das Gericht verweist, in dessen Bezirk sich die Mietsache befindet. Da der Komplementär nicht in diesem Bezirk wohnhaft sei, wurde der Antrag auf Gerichtsstadsbestimmung gestellt.

Die Voraussetzungen für eine Gerichtsstandsbestimmung wurden allerdings vom BayObLG gleichwohl negiert. Zwar sei der Komplementär nicht Partei des Mietvertrages. Allerdings seien auch Dritte in den Anwendungsbereich des § 29a ZPO einbezogen, wenn sie aus dem Mietvertrag und nicht aufgrund eines selbständigen Vertrages hinsichtlich des Mietverhältnisses verpflichtet sind (BGH, Beschluss vom 16.12.2003 – X AZR 270/03 -). Der Komplementär, der bei der KG nach Mietvertragsabschluss eintrat,  soll hier für die Verpflichtungen der KG als Mieterin akzessorisch und damit ebenso wie die Mieterin selbst aus dem Mietvertrag haften (§§ 162 Abs. 2 iVm. 128 HGB). Anders wurde dies vom OLG Köln (Beschluss vom 10.02.2000 – 1 W 114/99 – für den Kommanditisten gesehen. Da der Komplementär – so das BayObLG – wie der Mieter selbst aus dem Mietvertrag gegenüber dem Vermieter haftet, bedürfe es keiner Gerichtsstandsbestimmung, da für ihn auch originär der Gerichtsstand des § 29a Abs. 1 ZPO gelte und sich die Verpflichtung zu Ausbaumaßnahmen sowie, für den Fall der Nichtdurchführung, die Verpflichtung zur Zahlung einer Vertragsstrafe direkt aus dem Mietvertrag ergebe.

Von daher käme es vorliegend auch nicht darauf an, dass es auf Seiten des Vermieters zu einer Rechtsnachfolge gekommen sei (nach § 398 BGB oder nach § 566 BGB). § 29a ZPO erfasse nicht nur Ansprüche aus den Hauptpflichten des Mietvertrages, sondern auch die Erfüllung vertraglicher Nebenpflichten sowie Schadensersatzansprüche aus Verletzung vertraglicher Nebenpflichten.

BayObLG, Beschluss vom 19.11.2019 - 1 AR 109/19 -

Montag, 3. Februar 2020

Steuerrecht: Auslegung des Umfangs eines Einspruchs bei verbundenen Steuerbescheiden


Im Ausgangsfall legte der Kläger gegen den „Bescheid für 2015 über Einkommensteuer, Kirchensteuer und Soli vom 22.03.2018“ (ein sogenannter verbundener Bescheid, da er hier nach der Bescheidüberschrift die Bescheide zur Einkommensteuer, Kirchensteuer und zum Solidaritätszuschlag umfasste, darüber hinaus, in der in der Bescheidüberschrift nicht benannte Zinsen zur Einkommensteuer) mit Schreiben vom 09.04.2018 Einspruch ein. Nach einer von  ihm erbetenen Erörterung mit dem Finanzamt (FA) äußerte der Kläger Zweifel an einem zusätzlichen (vom FA berücksichtigten) veräußerungsgewinn in 2015 (statt 2016), bat erneut um einen Erörterungstermin und erhob im Rahmen desselben mit Schreiben vom 23.07.2018 erstmals Einwendungen gegen die im angefochtenen Bescheid festgesetzte Verzinsung. In der Einspruchsentscheidung setzte sich das FA mit der Zinsfestsetzung nicht auseinander und lehnte mit besonderen Bescheid vom gleichen Tag eine Änderung der Zinsfestsetzung wegen Bestandskraft des Bescheides ab, da sich der Einspruch nicht gegen die Zinsen gerichtet habe. Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger Klage. Mit Zwischenurteil stellte das Finanzgericht fest, dass der Kläger rechtzeitig gegen die Zinsfestsetzung im Bescheid vom 22.03.2018 Einspruch erhoben habe. Auf die Revision des FA hob der BFH das Urteil auf und verwies den Rechtstreit an das Finanzgericht zurück.

Der BFH wies darauf hin, dass auf der Grundlage des § 357 Abs. 3 S. 1 AO die genaue Bezeichnung des angefochtenen Verwaltungsaktes nicht erforderlich sei, allerdings die Zielrichtung des Begehrens angegeben werden müsse, aus der sich der angefochtene Verwaltungsakt ergeben müsse  oder Zweifel/Unklarheiten beseitigt werden müssten. Fehle es an einer eindeutigen und zweifelsfreien Erklärung, sei eine Auslegung erforderlich. Diese Auslegung eines Rechtsbehelfs richte sich außerprozessual als auch prozessual nach § 133 BGB. Es sei der wirkliche Wille zu erforschen, weshalb auch außerhalb der Erklärung liegende Umstände berücksichtigt werden dürften. Allerdings dürfe dies nicht dazu führen, dass die Auslegung zu einem Ergebnis führe, für welches es in der Erklärung selbst keine Anhaltspunkte gäbe. Damit ergäben sich im Wesentlichen folgende Fallgruppen:

  1. Würden miteinander verbundene Bescheide unter Wiedergabe der amtlichen Bescheidbezeichnung (wie hier: „Bescheid für 2015 über Einkommensteuer, Kirchensteuer und Solidaritätszuschlag“) angefochten, ohne dass (zunächst) konkrete Einwendungen erhoben würden und erfolgt späterhin (ggf. nach Ablauf der Einspruchsfrist) eine Begründung gegen einen bestimmten Bescheid, beziehe sich der Rechtsbehelf jedenfalls auch gegen diesen Bescheid. So hatte das FG Düsseldorf mit Urteil vom 26.05.2008 - 18 K 2172/07 AO - (zitiert vom BFH) den Einspruch gegen einen wie oben bezeichneten Bescheid auch als Einspruch gegen den im Bescheid festgesetzten Verspätungszuschlag angesehen, wobei allerdings das FG Düsseldorf die Auffassung vertrat, dass die korrekte Bezeichnung des Bescheides dies bereits umfasse und sich vorliegend zusätzlich (worauf der BFH einzig abstellt) aus der darauf bezogenen Begründung desselben ergäben.
  2. Enthalte das (unspezifisch) auf verbundene Bescheide bezogene Einspruchsschreiben eine Begründung, sei der Gegenstand des Einspruchs einengend auszulegen. Würden nach Ablauf der Einspruchsfrist auch Einwendungen gegen einen weiteren verbundenen Verwaltungsakt erhoben, die in der ursprünglichen Begründung nicht benannt worden seien, so würde dem die Bestandskraft des Bescheides entgegenstehen (BFHE 222, 196; BFHE 243, 304).
  3. Richte sich der Einspruch ausdrücklich zwar nur gegen einzelne miteinander verbundene Verwaltungsakte und würde innerhalb der Einspruchsfrist der Einspruch auf einen weiteren verbundenen Verwaltungsakt ausgedehnt, stünde der weiteren Anfechtung keine Bestandskraft entgegen. Dies ist verständlich, da der nur eingeschränkte zunächst erhobene Einspruch nicht als Verzicht auf ein Rechtsmittel im Übrigen gedeutet werden kann; erfolgt allerdings der weitere Einspruch nach Ablauf der Einspruchsfrist, stünde ihm auch die Bestandskraft entgegen.  

Die Auslegung des Einspruchs obliege, so der BFH, dem Finanzgericht. Der BFH als Revisionsgericht könne nur prüfen, ob das Finanzgericht die anerkannten Auslegungsregeln beachtet und nicht gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstoßen habe, ferner, ob der Einspruch überhaupt auslegungsbedürftig sei. An der Auslegungsbedürftigkeit würde es bei einer nach Wortlaut und Zweck eindeutigen Erklärung fehlen.

Vorliegend sei zwar die Bescheidüberschrift gewählt worden, doch sei diese unvollständig gewesen, insoweit die mit festgesetzten Zinsen zur Einkommensteuer nicht erwähnt worden seien. Von daher habe es hier einer Auslegung bedurft.

Da das Finanzgericht diese Grundsätze nicht gewahrt habe, sei die Sache zurückzuverweisen und das Finanzgericht müsse sich mit dem Verhalten des Klägers nach Einlegung des Einspruchs und insbesondere auch seinen an das FA gerichteten Schreiben auseinandersetzen.

BFH, Urteil vom 29.10.2019 - IX R 4/19 -