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Freitag, 27. Oktober 2023

Videoverhandlung und rechtliches Gehör für präsente Partei

Die Prozessordnungen sehen (teils seit vielen Jahren) die Möglichkeit vor, dass eine Teilnahme an mündlichen Verhandlungen vor Gerichten in Form der Videozuschaltung erfolgt. Seit Corona nimmt diese Art der Verfahrensteilnahme zu. Aber auch hier sind rechtstaatliche Grundsätze zu achten, sowohl im Hinblick auf den per Video zugeschalteten Teilnehmer der Verhandlung, wie auch (wie der der hiesigen Besprechung zugrunde liegende Fall zeigt) der im Gericht anwesenden Teilnehmer.

 Die Klägerin, die Akteneinsicht begehrte und diesbezüglich vor dem Finanzgericht (FG) Klage erhob, nahm an dem vom FG anberaumten Verhandlungstermin vor Ort (in der Person ihres Geschäftsführers) im Gerichtssaal teil. Dem Vertreter des Finanzamtes (FA) war auf Antrag gestattet worden, aus dem Dienstgebäude des FA heraus mittels Videokonferenz an der Verhandlung teilzunehmen, § 91a Abs. 1 S. 1 FGO. Die Klage wurde abgewiesen. Mit der dagegen eingelegten Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision machte die Klägerin u.a. als Verfahrensfehler geltend, dass während der Videoverhandlung das Bild des FA nicht vor ihr auf einem Bildschirm erschien, sondern nur hinter ihr an die Wand projiziert worden sei. Daher habe sich der Geschäftsführer umsehen müssen und so abwechselnd zwischen Richterbank und dem FA wechseln müssen. Das sei unzulässig, da so nicht die Möglichkeit bestanden habe, die Mimik und Gestik aller Teilnehmer der mündlichen Verhandlung zu erfassen. Auch habe der Geschäftsführer einem Redebeitrag des FA erst nach Körperdrehung folgen können, wenn dieser bereits begonnen habe. Das FA wandte u.a. ein, der Geschäftsführer habe die benannten Umstände während der Verhandlung nicht gerügt.

Der BFH gab der Beschwerde statt. Er sah hier eine Verletzung rechtlichen Gehörs (Art. 103 GG), weshalb er das Urteil des FG aufhob und den Rechtsstreit dorthin zurückverwies.

Rechtliches Gehör werde u.a. durch die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung gewährt; Art. 103 Abs. 1 GG setze voraus, dass sich die Verfahrensbeteiligten bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt über den gesamten Verfahrensstoff informieren können (BVerfG, Beschluss vom 08.06.1993 – 1 BvR 878/90 -).  Das Gericht könne den Beteiligten auf Antrag die Teilnahme in Form der „Videoübertragungstechnik“ erlauben, die „ohne Verlust an rechtsstaatlicher Qualität“ genutzt werden dürfe (BT-Drucks. 17/112, S. 10). Das Geschehen müsse vollständig übermittelt werden (dürfe sich also nicht auf einzelne Beteiligte beschränken) und jeder Beteiligte müsse zeitgleich die anderen Beteiligten visuell und akustisch wahrnehmen können.

Zur Verletzung des rechtlichen Gehörs bei Videoübertragungen stellte der BFH fest: Jeder Beteiligte müsse zeitgleich die Richterbank du die anderen Beteiligten visuell und akustisch wahrnehmen können. Daran ermangele es, wenn ein anwesender Beteiligter einen zugeschalteten Beteiligten nur sehen könne, wenn er sich selbst um 180° wenden würde. Dem Geschäftsführer sei es ohne sich entsprechend zu wenden nicht möglich gewesen, den Vertreter des FA bzw. die Richterbank zu sehen; ein zeitgleiches Sehen sei ausgeschlossen gewesen. Damit könnten ihm Einzelheiten, wie Mimik und Gestik, entgehen und - anders als im Rahmen einer Verhandlung in Anwesenheit aller Beteiligter – mögliche nonverbale Kommunikationen zwischen einem Beteiligten und der Richterbank entgehen. Selbst wenn im Regelfall die Beteiligten (Kläger / Beklagte) bei Präsenzverhandlungen nebeneinander sitzen würden, würden sie doch aus den Augenwinkeln eine entsprechende nonverbale Kommunikation mitbekommen können. Auch bestünde durch das widerholte Hin- und herschauen die Gefahr, dass der Geschäftsführer abgelenkt würde und deshalb seine Konzentration auf den Prozessstoff beeinträchtigt würde.

Auch wenn das Finanzgericht in Abwesenheit eines Beteiligten verhandeln und entscheiden könne (§ 91 Abs. 2 FGO), würde der per Videoverhandlung Beteiligte nicht abwesend sein und müsse daher der andere Beteiligte in der Lage sein, dessen verbalen und nonverbalen Äußerungen umfassend wahrzunehmen.

Die Klägerin sei mit ihrer Rüge auch nicht ausgeschlossen. Zwar würde grundsätzlich das Rügerecht gem. § 295 Abs. 1 ZPO iVm. § 155 S. 1 FGO verlorengehen, wenn ein verzichtbares Verfahrensrecht betroffen sei, wobei für den Verlust ausreichend sei, wenn eine rechtzeitige Rüge unterlassen würde. Allerdings würde dies nur in den Fällen angenommen, in denen der Kläger rechtskundig vertreten würde (BFH, Beschluss vom 29.10.2004 – XI B 213/02 -). Im finanzgerichtlichen Verfahren sei die Klägerin nicht rechtskundig vertreten gewesen. Zudem sei bei einer Parallelwertung in der Laiensphäre ein Verfahrensmangel im Hinblick auf den Rahmen der Videoverhandlung nicht ohne weiteres erkennbar.

BFH, Beschluss vom 18.08.2023 - IX B 104/22 -

Dienstag, 26. September 2023

Unebenheiten auf Außenterrasse einer Gaststätte (Verkehrssicherungspflicht)

Streitgegenständlich war ein Sturz des Klägers auf einer in Art eines Biergartens angelegten Außenterrasse eines Gasthauses, bei der der Terrassenbelag aus verschiedenen Natursteinarten gestaltet war, die - ersichtlich - Niveauunterschiede und sonstige Unebenheiten und Vertiefungen hatten. Mit seiner Berufung wandte sich der Kläger erfolglos gegen das klageabweisende Urteil. Das OLG wies den Kläger in dem nachfolgend dargelegten Hinweisbeschluss nach § 522 ZPO auf die mangelnde Erfolgsaussicht seiner Berufung hin und wies diese sodann mit Beschluss vom 18.07.2023 zurück.

Der Kläger habe bereits die konkrete Ursache des Sturzes nicht vorgetragen, weshalb ein pflichtwidriges verhalten des beklagten zum Belag der Außentertrasse nicht festgestellt werden könne. Bei seiner Angabe, er sei über eine nicht eben verlegte Platte des Natursteinbodens gestolpert, ohne eine örtliche Eingrenzung der Unfallstelle vorzunehmen. Auch die vorgelegten Fotos würden dies nicht ersetzen, da eine Zuordnung nicht vorgenommen worden sei. Auch der Vortrag im Rahmen der Berufung, der Boden weise mindestens 1,6 cm Höhendifferenz in der Stufe auf, würde keinen konkreten Bezug zur Unfallstelle haben. 

Der Kläger habe auch nicht nachweisen können, infolge einer Unebenheit gestürzt zu sein. Im Rahmen einer informatorischen Anhörung  habe der Kläger angegeben, er habe  auf dem Weg zurück von der Toilette seine Freundin angeschaut und sei dann unvermittelt hingefallen. Die Freundin hatte Bilder von dem Weg gemacht aus erklärt, „Da mag er hängengeblieben sein“, um auf Nachfrage zu ergänzen, sie habe nicht sehen können, weshalb der Kläger stürzte. Das genüge nicht um auf einen durch Unebenheit verursachten Sturz zu schließen. 

Aber auch aus allgemeinen Erwägungen sah das OLG hier eine Haftung im Hinblick auf den Gesamtzustand  nicht als gegeben an. 

Auch käme dem Kläger hier kein Beweis des ersten Anscheins zugute. Soweit der Kläger meinen würde, der Anscheinsbeweis sei anzunehmen, wenn sich ein Sturz im Bereich einer gefährliche Stelle ereigne, könne darauf nicht abgestellt werden, da die konkrete Sturzstelle nicht bekannt sei und mithin nicht nachgewiesen sei, dass dort eine gefährliche Stelle gewesen sei. Die Ausführungen des Klägers würden sich lediglich allgemein zur Terrasse verhalten. Das sah das OLG nicht als ausreichend an. Es verwies darauf, dass die Gestaltung der Terrasse in ihrer Gesamtheit nicht als besonders gefahrenträchtig einzuordnen sei. 

Das OLG verwies auf die Rechtsprechung des BGH, derzufolge Vorkehrungen durch den Verkehrssicherungspflichtigen zu treffen seien, der eine Gefahrenlage für Dritte schaffe oder andauern lasse (BH, Urteil 31.10.2006 - VI ZR 223/05 -). Haftungsbegründend würde die Gefahrenquelle erst, sobald sich aus der zu verantwortenden Situation vorausschauend für einen sachkundigen  Urteilenden die naheliegende Gefahr ergäbe, , dass Rechtsgüter Dritter verletzt werden könnten (BGH, Urteil vom 03.02.2004 - VI ZR 95/03 -). Es seien die Vorkehrungen zu treffen, die nach den konkreten Umständen vorausschauend zur Beseitigung der Gefahr erforderlich und zumutbar seien. Der Dritte sei in der Regel nur vor gefahren zu schützen, die er selbst ausgehend von der sich ihm konkret bietenden Situation, bei der zu erwartenden Sorgfalt erfahrungsgemäß nicht oder nicht rechtzeitig erkennen und vermeiden könne (s. auch OLG Köln, Urteil vom 23.06.1993 - 2 U 198/92 -). Für die Terrasse bedeute dies, den Boden in einem zum Begehen geeigneten verkehrssicheren Zustand zu halten. 

Hier habe der Beklagte die mit vorhandenen Unebenheiten der Platten verbundene Gefahr weder ausräumen noch davor warnen müssen, da der Umstand bei Anwendung der erforderlichen Sorgfalt rechtzeitig erkennbar gewesen sei. Ein schlechthin gefahrenfreier Zustand habe nicht hergestellt werden müssen. Es sei auf dem ersten Blick sichtbar ein ungleichmäßiges Erscheinungsbild gegeben. Damit habe der Kläger seinen Gang an die Örtlichkeiten anzupassen gehabt. 

Richtig sei zwar, dass der Gastwirt auch damit rechnen müsse, dass seine Gäste sich wegen Genusses alkoholischer Getränke oder sonstiger Umstände unverständig verhalten und in ihrer Gehsicherheit beeinträchtigt sein könnten (vgl. OLG Naumburg, Urteil vom 10.05.2013 - 1 U 54/12 -). Auf einen solchen Zustand habe sich der Kläger aber nicht berufen, wobei ferner ein Vortrag des Klägers fehle, dass selbst bei verminderter Aufmerksamkeit ein gefahrloses betreten nicht möglich gewesen wäre. Nicht entgegen getreten sei der Kläger zudem den Angaben des Beklagten, dass es vor dem Sturz des Klägers weder für Gäste noch Personal Schwierigkeiten beim Begehen der Terrasse gegeben habe. Und der Kläger habe zudem angegeben, er habe auf seinem Weg seine Freundin angesehen, also den Blick des erkennbar nicht gleichmäßig ebenen Zustandes des Belages nicht auf diesen gerichtet. 

Bei Verletzung einer Schutznorm, die einen Schaden wie hier verhindern solle, würde zwar ein Anscheinsbeweis für Kausalität und Verschulden sprechen. Doch habe der Kläger keine Schutznorm benannt (er habe sich nur auf Normen für den Innenbereich berufen) und es sei eine solche auch nicht ersichtlich. 

OLG Frankfurt, Hinweisbeschluss vom 18.07.2023 - 17 U 33/23 -

Dienstag, 31. Januar 2023

Zusammenstoß mit Motorrad im Begegnungsverkehr als unabwendbares Ereignis ?

Die Betriebsgefahr (§ 7 StVG) eines Fahrzeuges ist stets (mit-) bestimmender Faktor bei der Frage, ob und inwieweit eine eigene Haftung bei einem Verkehrsunfall besteht. Denn grundsätzlich ist jeder Halter verpflichtet, die Unabwendbarkeit eines Verkehrsunfalls für ihn gem. § 17 Abs. 3 StVG darzulegen und zu beweisen. Wie das OLG Hamm in seinem hier besprochenen Beschluss zutreffend ausführte, verlangt Unabwendbarkeit vom dem Fahrer, dass dieser „jede nach den Umständen des Falles gebotene Sorgfalt beobachtet haben“ muss (§ 17 Abs. 3 S. 2 StVG). Der Begriff „unabwendbares Ereignis“  meine nicht eine absolute Unvermeidbarkeit eines Unfalls, sondern dass das schadensstiftende Ereignis auch bei der äußersten möglichen Sorgfalt und Einhaltung der geltenden Verkehrsvorschriften nicht abgewendet werden könne. Dazu würde ein sachgemäßes, geistesgegenwärtiges Handeln erheblich über den Maßstab der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt iSv. § 276 BGB hinaus gehören.

Ob diese Voraussetzungen vorlagen, war vom OLG anlässlich einer Kollision eines Pkw (Beklagte) mit einem Motorrad (Klägerin) zu klären. In einer langgezogenen Rechtskurve befuhr der verstorbene Ehemann der Klägerin die Gegenfahrspur und kollidierte so mit dem Pkw der Beklagten. Aus technischer Sicht, so der im erstinstanzlichen Verfahren beauftragte Sachverständige, hätte sich der Verkehrsunfall nur dadurch vermeiden lassen, dass der Fahrer des Pkw nach links in den Gegenverkehr lenkt. Nachdem das Landgericht die Klage abgewiesen hatte, legte die Klägerin gegen das Urteil Berufung mit dem Ziel ein, eine Quote von 30% im Rahmen der vom Pkw ausgehenden Betriebsgefahr nach § 17 Abs. 3 StVG zu erhalten.

Das OLG wies nach § 522 ZPO darauf hin, dass es gedenke, die Berufung der Klägerin als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen. Unter Zugrundelegung der oben dargelegten Grundsätze zur Unabwendbarkeit iSv. § 17 Abs. 3 BGB verwies es darauf, der sogenannte Idealfahrer dürfe nicht auf einem Vorrecht beharren, wenn er erkenne, dass dieses von anderen Verkehrsteilnehmern aufgrund örtlicher Gegebenheiten möglicherweise nicht erkannt würde, wie er auch erhebliche fremde Fehler und alle möglichen Gefahrenmomente berücksichtigen müsse. Diese von ihm verlangte besondere Sorgfalt müsse sich nicht nur in der konkreten Gefahrensituation, sondern bereits im Vorfeld manifestieren. Er müsse also die Erkenntnisse berücksichtigen, die nach allgemeiner Erfahrung geeignet seien, Gefahrensituationen nach Möglichkeit zu vermeiden. Wenn also ein Idealfahrer gar nicht in die Situation geraten würde oder hatte der Unfall dann nicht zu vergleichbar schweren Folgen geführt, könne von einem unabwendbaren Ereignis nicht ausgegangen werden.

Ausgehend davon habe sich der Fahrer des Pkw ideal verhalten und den Unfall nicht abwenden können.

Er sei mit einer unter der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auf der Landstraße gefahren. Als er den Motorradfahrer kurz vor der Kollision bei direkter Sicht auf seiner Spur habe wahrnehmen können, habe er (so der Sachverständige) instinktiv eine Vollbremsung eingeleitet und sei dann noch mit einer Kollisionsgeschwindigkeit von 25 - 30 km/h mit ihm am äußerst rechten Fahrbahnrand zusammengestoßen. Da von einem Idealfahrer verlangt würde, sich an die geltenden Verkehrsvorschriften zu halten, war er schon nach § 2 Abs. 2 StVO nicht verpflichtet gewesen in den Gegenverkehr zur Vermeidung der Kollision zu lenken, wodurch er eine Gefahr für sich und andere Verkehrsteilnehmer geschaffen hätte. Zudem hätte sich auch nur nachträglich ergeben, dass dadurch die Kollision vermieden worden wäre, da für den Fahrer des Pkw nicht erkennbar gewesen sei, ob der Motorradfahrer mit einem Ausweichen nach links oder rechts reagieren würde. Naheliegend wäre gewesen, dass der Motorradfahrer zurück in seine Fahrspur fahre und nicht, wie geschehen, noch weiter auf die Gegenfahrspur.

Auch aus dem Umstand, dass dem Pkw eine Motorradkolonne entgegenkam habe ihn nicht zu einer Reaktion im eigenen Fahrverhalten veranlassen müssen. Er sei nicht deshalb verpflichtet gewesen, seine Geschwindigkeit (noch weiter) herabzusetzen oder gar anzuhalten um die Motorradfahrer passieren zu lassen. Grundsätzlich dürfe sich ein regelgerecht verhaltender Verkehrsteilnehmer darauf vertrauen, dass andere Verkehrsteilnehmer sich ebenfalls an die Verkehrsregeln halten (BGH, Urteil vom 20.09.2011 - VI ZR 282/10 -). Damit habe sich der verkehrsgerecht verhaltene Pkw-Fahrer darauf verlassen dürfen, dass sich die Motorradfahrer ebenso verhalten. Gegen diese Annahme für ein verkehrsgerechtes Verhalten der Motorradfahrer hätten für den Pkw-Fahrer vor dem Unfall (der Sicht auf den sich auf seiner Fahrspur befindlichen Motorradfahrer) nicht bestanden.

Die Berufung wurde nach dem Hinweisbeschluss zurückgenommen.

OLG Hamm, Hinweisbeschluss vom 03.08.2022 - 7 U 63/22 -