Mittwoch, 29. Juni 2022

Selbständiges Beweisverfahren im Zusammenhang mit einem Verkehrsunfall, § 485 Abs. 2 ZPO

Das Landgericht hatte die Zulässigkeitsvoraussetzungen des § 485 Abs. 2 ZPO für ein selbständiges Beweisverfahren negiert, welches der Antragsteller zur Vorbereitung eines Prozesses nach einem Verkehrsunfall beantragt hatte. Die sofortige Beschwerde gegen den zurückweisenden Beschluss wies das OLG zurück, welches sich dem Landgericht anschloss.

Das OLG führte aus, ein selbständiges Beweisverfahren könne auch Verkehrsunfälle zum Gegenstand haben. Das sei aber dann nicht der Fall, wenn von vornherein zu erwarten sei, dass das Unfallgeschehen und damit die Verantwortlichkeit für die Schäden nur durch Vernehmung von Zeugen und Anhörung von Parteien als Grundlage für ein Sachverständigengutachten hinreichend geklärt werden könne.  In diesem Fall würde es am erforderlichen rechtlichen Interesse an der Durchführung des selbständigen Beweisverfahrens ermangeln, welches nur durch Einholung eines (schriftlichen) Sachverständigengutachtens geführt werden kann.

Vorliegend würde es an objektiven Anhaltspunkten (wie Spuren auf der Fahrbahn) fehlen, um den exakten Unfallort feststellen zu können. Da vorliegend darüber gestritten würde, wer seine Fahrspur verlassen habe, käme es darauf aber an. Zeugen und Parteien könnten in einem selbständigen Beweisverfahren nach § 485 Abs. 2 ZPO nicht angehört bzw. vernommen werden. Da die Einlassung des Antragsgegners, der Streit um das Verlassen der Fahrspur, deutlich erkennen lasse, dass zumindest eine ergänzende Begutachtung gem. § 412 ZPO im streitigen Verfahren (Hauptsacheverfahren) erforderlich werden würde, wobei zuvor die Zeugen und Parteien zu vernehmen bzw. anzuhören wären (zweckmäßig in Gegenwart des Sachverständigen), würde ein jetzt eingeholtes Sachverständigengutachten weder zur Beschleunigung noch zur Kostenreduzierung führen. Ein anderweitiges rechtliches Interesse des Antragstellers sei aber nicht ersichtlich und vom Antragsteller auch nicht dargetan, weshalb der Antrag als unzulässig zurückzuweisen sei.

OLG Hamm, Beschluss vom 21.01.2022 - 9 W 5/22 -

Dienstag, 28. Juni 2022

Wann liegt ein versicherter Überschwemmungsschaden vor ?

Auf die Berufung des Klägers gegen ein klageabweisendes Urteil erließ das Kammergericht (KG) als Berufungsgericht einen Hinweisbeschluss, mit dem es seine Absicht, die Berufung wegen offensichtlich fehlender Erfolgsaussicht zurückzuweisen, begründete. Dem Kläger sei nicht der Nachweis des Eintritts eines Versicherungsfalls in der Gebäudeversicherung infolge eines Unwetters mit Starkregen vom 29. bis 30.06.2017 gelungen.

Nach Teil B § 4 Nr. 1 d) der maßgeblichen AVB würde ausgeführt, dass Entschädigungen für versicherte Sachen geleistet würden, die durch Überschwemmung zerstört oder beschädigt würden. Als Überschwemmung sei in den AVB definiert eine Überflutung des Grund und Bodens, auf dem das versicherte Gebäude stünde. Dies müsse durch Ausuferung von oberirdischen Gewässern oder Witterungsniederschlägen erfolgen. Auch ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer würde damit erkennen, dass nicht alle durch Witterungsniederschläge verursachten Gebäudeschäden vom Versicherungsschutz erfasst würden. Schutz bestehe nur für bestimmte Risiken, hier starke Niederschläge, wobei dieser alleine nicht ausreiche, da hinzukommen müsste, dass das Gelände (Grund und Boden) überflutet werden müssten.  Eine Überschwemmung liege nicht schon deshalb vor, da Wassert in den Keller dringe. Ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer würde unter einer Überschwemmung verstehen, dass Wasser in erheblichem Umfang meist mit schädlicher Wirkung nicht auf normalen Weg abfließe, sondern über sonst nicht genutzte Gelände und diese überflute (BGH, Urteil vom 21.05.1964 - II ZR 9/63 -). Neben dieser Überflutung durch Ansammlung auf der Geländeoberfläche käme auch eine Überflutung von Hanggrundstücken in Betracht, was dann vorläge, wenn starker Regen auf den in einem Maß niedergehen würde, dass dieser weder vollständig versickert noch geordnet über natürliche Wege (Rinnen, Furchen) sturzbachartig abfließe. Keine Überschwemmung läge vor, wenn sich auf dem Gelände Pfützen bilden würden oder das Erdreich die Sättigungsgrenze erreicht habe, aber das Wasser noch nicht über der Erdoberfläche stünde. Auch sei nicht gefordert, dass die gesamte Grundstücksfläche überflutet sei; ausreichend sei, dass so viel Niederschlagswasser niedergeht, dass sich das Regenwasser vor dem Versickern auf dem Boden kurzfristig sammle und während dieser Phase dann Wasser in ein Gebäude eindringe.

Dem Kläger obliege die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass ein versicherter Schaden vorliegt, weshalb er hier die Voraussetzungen für einen Überschwemmungsschaden dartun aber auch beweisen müsse; das KG stellet dabei auf einen Vollbewies nach § 287 ZPO ab.  Einen solchen Umstand habe der Kläger, der selbst nicht anwesend war, selbst nicht gesehen und er sei auch von den Zeugen nicht bestätigt worden. Der Hinweis des Klägers, in der Vergangenheit habe sich ein ähnlicher Schaden (eindringendes Wasser) nie gezeigt, auch nicht bei nachfolgenden starken Niederschlägen, wurde vom OLG mit Hinweis darauf als unbeachtlich angesehen, dass dies alleine bedeuten könne, dass soviel Niederschlagswasser am Schadenstag niedergegangen sei, dass es zwar schadensursächlich wurde, was aber nicht belege, dass der Grund und Boden unter Wasser gestanden haben muss.

Damit würde es sich um nicht versicherte Möglichkeiten der Schädigung des Gebäudes durch eindringendes Regenwasser handeln.

Soweit der Kläger aus dem Schadenseintritt durch einen Wassereinbruch im Keller über einen Kellerlichtschacht rückschließen will, dass es einen Versicherungsfall gegeben habe, verkenne er, dass die von ihm nachzuweisende Kausalkette in der entgegengesetzten Richtung geführt werden müsse. Zunächst müsse nachgewiesen werden, dass es vor dem Schadenseintritt Witterungsniederschläge gegeben habe. Sodann müsse der Kläger nachweisen, dass diese Niederschläge zu einer Überflutung von Grund und Boden geführt hätten. Danach wäre vom Kläger der Nachweis zu führen, dass diese Überschwemmung kausal (oder zumindest mitursächlich) für den Schadenseintritt am Gebäude gewesen sei. Wenn versickertes Wasser in das Gebäude eindringe, läge kein Versicherungsfall vor.

Nach dem Hinweisbeschluss wurde die Berufung zurückgenommen.

Kammergericht, Beschluss vom 13.07.2021 - 6 U 70/21 -

Montag, 27. Juni 2022

Haftungsverteilung bei Kollision bei beidseitiger Fahrbahnverengung (Zeichen 120)

Die (innerörtliche) Straße verlief zunächst zweispurig in eine Fahrtrichtung. Rechts fuhr die Klägerin, links mit einem Lkw der Beklagte. Nach einer Ampelanlage erfolgte noch fünf Markierungen zwischen den Fahrstreifen, dann befand sich das Zeichen 120 (beidseitige Fahrbahnverengung) auf der Fahrbahn. Der Beklagte zog mit dem Lkw nach rechts und kollidierte mit dem Pkw der Klägerin. Der Haftpflichtversicherter des Beklagten hatte vorgerichtlich den Schaden am Fahrzeug der Klägerin mit 50% reguliert. Die Klage und Berufung der Klägerin blieben erfolglos. Das Landgericht hatte im Berufungsurteil die Revision zum BGH zugelassen. Diese wurde von der Klägerin eingelegt, aber vom BGH als unbegründet zurückgewiesen.

Dass der Anstoß durch den Lkw beim ziehen nach rechts erfolgte und dieser das Fahrzeug der Klägerin nicht sah, wurden beklagtenseits eingeräumt. Allerdings ging das Berufungsgericht nicht von einer Unabwendbarkeit des Unfalls für die Klägerin nach § 17 Abs. 3 StVG aus mit der vom BGH als berechtigt angesehen Begründung, ein Idealfahrer wäre gar nicht erst in diese Situation gekommen. 


Auch die Haftungsteilung zu je ½ wurde vom BGH als rechtfehlerfrei bewertet. Die Abwägung der Haftungsverteilung nach § 17 StVG sei ebenso wie im Rahmen des § 254 BGB aufgrund aller festgestellten kausalen Umstände (ob unabhängig davon, ob zugestanden, unstreitig oder nach dem Vollbeweis gem. § 287 ZPO festgestellt) vorzunehmen. In erster Linie sei das Maß der Verursachung zu berücksichtigen; ein weiterer Faktor sei das beiderseitige Verschulden. Dies sei vom Berufungsgericht berücksichtigt worden.

Zutreffend habe das Berufungsgericht das Gefahrenzeichen 120 gewürdigt. Bei einer (damit angezeigten) Fahrbahnverengung gelte alleine das Gebot der wechselseitigen Rücksichtnahme, § 1 StVO. Es ergäbe sich auch bei einem Gleichlauf der Fahrzeuge auf beiden Fahrspuren kein Vortrittsrecht des auf der rechten Fahrspur Fahrenden. Das Zeichen 120 nach Anlage 1 zu § 40 Abs. 6 und 7 StVO („Verengte Fahrbahn“) signalisiere eine Verengung der Fahrbahn. Anders als bei Zeichen 121 („einseitig verengte Fahrbahn“) gäbe es also nicht einen weiterführenden und einen endenden Fahrstreifen, vielmehr würden beide Fahrspuren gleichzeitig in einen neuen Fahrstreifen übergeleitet. Daher stelle sich das Durchfahren der Engstelle nicht als ein Fahrstreifenwechsel nach § 7 Abs. 5 StVO dar und das in § 7 Abs. 4 StVO normierte Reißverschlussverfahren sei nicht unmittelbar (wie bei § 7 Abs. 5 StVO) anwendbar. Die Verengung und die durch das Zeichen 120 signalisierte Gefahr führe zu einer erhöhten Sorgfalts- und Rücksichtnahmepflicht für die Kraftfahrer auf beiden Fahrstreifen, die auf die Engstelle zufahren würden, §§ 1, 3 StVO. Das gelte auch dann, wenn beide Kraftfahrer gleichauf und mit gleicher Geschwindigkeit an die Engstelle gelangen würden und begründe auch in diesem Fall kein Vorrangrecht des rechts fahrenden Fahrzeugführers.

Das Zeichen 120 enthalte keine Vorrangregelung. Ein solches ergäbe sich auch nicht für das rechts fahrende Fahrzeug aus der Gesamtschau der insoweit relevanten Vorschriften der StVO. Zutreffend sei zwar, dass grundsätzlich von zwei Fahrstreifen die rechte zu nutzen sei (§ 2 Abs. 1 S. 1 StVO) und zudem möglichst weit rechts zu fahren sei (§ 2 Abs. 2 StVO). Unter den Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 (bei Rechtfertigung des Abweichens auf Grund der Verkehrsdichte) und 3 StVO (innerhalb geschlossener Ortschaften) sei dieses aber aufgehoben, weshalb sich der auf dem linken Fahrstreifen der Engstelle nähernde Kraftfahrer grundsätzlich verkehrsgerecht verhalte. Mit der Situation einer Kreuzung oder Einmündung (rechts hat Vorrang § 8 Abs. 1 S. 1 StVO) sei die Situation der Engstelle nicht vergleichbar.

Zudem stünde dem Vorrang des rechts Fahrenden in systematischer Hinsicht der Vergleich mit der Konstellation des Zeichens 121 (Anlage 1 zu § 7 Abs. 6 und 7 StVO) entgegen. Dort müsse der auf dem endenden Fahrstreifen Fahrende einen Fahrstreifenwechsel vornehmen, § 7 Abs. 4 StVO, während der auf dem durchgehenden Fahrstreifen Fahrende keinen Fahrstreifenwechsel vornehme und Vorrang habe. Da dieser Vorrang je nachdem für Kraftfahrer rechts oder links gelte, deren Fahrstreifen durchgehend sei, sei es folgerichtig, bei Beendigung beider Fahrstreifen durch die Engstelle keinem ein Vorrangrecht einzuräumen.

Der Beklagte habe die Fahrbahnverengung nicht aufmerksam genug befahren und deshalb das klägerische Fahrzeug nicht gesehen. Die Klägerin sei zu Unrecht von einem eigenen Vorrang ausgegangen und habe sorgfaltswidrig darauf vertraut, das links fahrende Beklagtenfahrzeug würde sich hinter ihr einordnen.

BGH, Urteil vom 08.03.2022 - VI ZR 47/21 -

Dienstag, 21. Juni 2022

Crash bei Ausparken und Fahrspurwechsel - wer haftet ?

Der Transporter Opel Vivaro der Klägerin stand in einer längs zur Fahrbahn angeordneten Parkbucht auf der rechten Seite der in Fahrtrichtung zweispurig verlaufenden Straße in Düsseldorf. Die Beklagte vollzog mit ihrem Pkw einen Fahrspurwechsel vom linken auf den rechten Fahrstreifen und hatte diesen auch schon zur Hälfte beendet, als sie mit dem Transporter der Klägerin, die gerade ausparkte, kollidierte. Der Transporter befand sich zum Kollisionszeitpunkt mit der linken Front auf dem rechten Fahrtstreifen und fuhr vorwärts.

 Das Amtsgericht hatte auf der Basis einer hälftigen Haftungsquotelung der Klage stattgegeben.  Dies wurde vom Landgericht (Berufungsgericht) auf die Berufung der Beklagten bestätigt. Der BGH hob auf die zugelassene Revision hin das Urteil auf und verwies den Rechtsstreit an das Landgericht zurück.

Vorab verwies der BGH darauf, dass die Entscheidung über die Haftungsverteilung im Rahmen des § 17 StVG (wie auch im Rahmen des Mitverschuldens nach § 254 BGB) Sache des Tatrichters sei und im Rahmen der Revision nur darauf überprüft werden könne, ob alle in Betracht kommenden Umstände vollständig und richtig berücksichtigt und der Abwägung rechtlich zulässige Erwägungen zugrunde gelegt worden seien. Dies sah der BGH vorliegend als nicht gegeben an.

Richtig habe zwar das Landgericht ein schuldhaftes Verhalten der Klägerin in deren Verstoß gegen § 10 S. 1 StVO gesehen. Danach müsse sich derjenige, der von einem anderen Straßenteil (hier die Parkbucht) auf die Fahrbahn einfährt, so verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen sei; die auf der Straße fahrenden Fahrzeuge hätten gegenüber dem auf diese einfahrenden Verkehr Vorrang. Auf diesen Vorrang dürfte die auf der Straße fahrenden Verkehrsteilnehmer (mithin der fließende Verkehr) vertrauen, wobei der Vorrang für die gesamte Fahrbahn gelte.  Nur unter Beachtung dieses Umstandes dürfe der Einfahrende einfahren und könne nicht darauf vertrauen, dass die rechte Fahrspur frei bleibe; er müsse stets mit einem Fahrspurwechsel rechnen. Vor diesem Hintergrund habe die Klägerin habe die Klägerin, nachdem das Beklagtenfahrzeug für sie sichtbar wurde, was unterblieben sei.

Rechtsfehlerhaft sei allerdings die Annahme eines Verstoßes der Beklagten gegen § 7 Abs. 5 S. 1 StVO. Danach dürfe ein Fahrstreifenwechsel nur vorgenommen werden, wenn eine Gefährdung „anderer Verkehrsteilnehmer“ ausgeschlossen sei. Zwar sei grundsätzlich „anderer Verkehrsteilnehmer“ jede Person, die sich selbst verkehrserheblich verhalte, also körperlich und unmittelbar auf den Ablauf eines Verkehrsvorgangs einwirke. Im Rahmen des § 7 Abs. 5 S. 1 StVO sei aber „anderer Verkehrsteilnehmer“ nur ein Teilnehmer am fließenden Verkehr, mithin nicht derjenige, der vom Fahrbahnrand in den fließenden Verkehr einfahre.  Dies ergäbe sich zwar nicht aus dem Wortlaut, aber aus der Entstehungsgeschichte der Norm, ihrer systematischen Stellung und ihrem Sinn und Zweck. So würde es in der Begründung zur Norm des § 7 vom 16.11.1970 (VkBl 1970, 735, 805) heißen, die Norm betreffe lediglich, wie sich aus der Überschrift ergeben, lediglich den Fahrverkehr. Vom Schutz der An- und  Einfahrenden sei dort keine Rede.  

Auch die systematische Stellung des Absatzes 5 nach § 7 Abs. 1 bis 4 belege den eingeschränkten Schutzzweck von § 7 Abs. 5 S. 1 StVO. Bei § 7 StVO handele es sich um eine Ausnahmevorschrift vom Rechtsfahrgebot des § 2 Abs. 2 StVO. § 7 Aabs. 1 bis 4 SVO enthalte Regelungen für das Befahren von Fahrbahnen mit mehreren Fahrstreifen für eine Richtung, weshalb mit den Wörtern „in allen Fällen“ in § 7 Abs. 5 S. 1 StVO auf die in § 7 Abs. 1 bis 4 dargestellte Situation des Fahrstreifenwechsel Bezug genommen würde.  Die Ausnahme vom Rechtfahrgebot in § 2 Abs. 2, welches dem Schutz des fließenden Verkehrs diene, sei erfolgt, um den Mehrreihenverkehr von Fahrzeugen zu ermöglichen (Begründung der Norm aaO.).

Müsste daher der fließende Verkehr dieselben höchsten Sorgfaltsanforderungen gegenüber allen Verkehrsteilnehmern wie der Einfahrende wahren, stünden sich gleichartige Sorgfaltsanforderungen gegenüber, die mir dem sich aus § 10 StVO ergebenden Vorrang des fließenden Verkehrs nicht zu vereinbaren wären. Der Vorrang des fließenden Verkehrs würde gerade würde gerade mit den besonders hohen Sorgfaltsanforderungen des Einfahrenden begründet (z.B. Begründung zu § 10 StVO in VkBl 1988, 210, 221).

An einer Entscheidung in der Sache sah sich der BGH gehindert, da sich das Landgericht - folgerichtig nach seiner Rechtsauffassung - nicht geprüft habe, ob die Beklagte schuldhaft gegen § 1 Abs. 2 StVO verstoßen hat. Das Rücksichtnahmegebot aus § 1 StVO gelte auch hier und eine mäßige Behinderung sei hinzunehmen (BGH, Beschluss vom 06.12.2978 - 4 StR 130/78 -). Würden sich für den fließenden Verkehr keine Anzeichen für eine Verletzung seines Vorrangs ergeben, dürfe er darauf vertrauen, dass der Einfahrende sein Vorrecht beachte. Dieses Recht käme auch dem Fahrspurwechsler zugute. Die Weiterfahrt dürfe aber nicht erzwungen werden (§ 11 Abs. 3 StVO), so dass gegebenenfalls durch Verlangsamung die Ein- und Anfahrt erleichtert werden müsse, da ansonsten im Stadtverkehr jedes Ein- oder Anfahren zum Erliegen käme. Die Feststellung des Landgerichts als Berufungsgericht zu einer von ihm angenommenen Verletzung des § 7 Abs. 5 S. 1 StVO (die nach o.g. Darlegung des BGH nicht vorlag) reiche nicht aus, auch eine schuldhafte Verletzung des § 1 Abs. 2 StVO zu bejahen.  Es sei lediglich festgestellt worden, dass die Beklagte zu 1. Den Fahrstreifenwechsel schon zu mehr als die Hälfte vollzogen habe, als es zum Zusammenstoß gekommen sei. Feststellungen dazu, ob die Beklagte zu 1. Den Ausparkvorgang hätte erkennen können und noch vom Fahrstreifenwechsel hätte Abstand nehmen oder diesen unterbrechen können, um einen Zusammenstoß zu verhindern, würden fehlen.

BGH, Urteil vom 08.03.2022 - VI ZR 1308/20 -

Samstag, 18. Juni 2022

Wechselmodell entgegen dem Willen der Eltern

Die unverheirateten Eltern des Kindes übten die elterliche Sorge gemeinsam aus; überwiegend befand sich das Kind im Haushalt der Antragstellerin. Mit Beschluss des Familiengerichts vom 05.10.2018 hat es ein Umgangsrecht des Antragstellers mit dem Kind geregelt. Eine dagegen von beiden Elternteilen wurde vom OLG zurückgewiesen. Mit dem weiteren, streitgegenständlichen Beschluss hat das Familiengericht ein Umgangsrecht dem Antragsteller ein Umgangsrecht in Form eines Wechselmodells (aufgeteilt nach geraden und ungeraden Wochen) eingeräumt, wobei es sich im Wesentlichen auf einen entsprechenden Kindeswillen stützte. Hiergegen wandte sich die Antragsgegnerin mit ihrer vom OLG zurückgewiesenen Beschwerde.

Das OLG verwies auf § 1696 Abs. 1 BGB, demzufolge eine Entscheidung zum Umgangsrecht zu ändern angezeigt sei, wenn dies aus triftigen, das Wohl des Kindes nachhaltig berührenden Gründen angezeigt sei. Anders als bei Sorgerechtsentscheidungen könnten Anpassungen an veränderte Umstände schon dann angezeigt sein, wenn dies dem Kindeswohl diene. Die Änderungsschwelle könne bereits dann erreicht sein, wenn ein geänderter Kindeswille vorläge, insbesondere dann, wenn die Änderung auch schon praktiziert würde. Deser geänderte Kindeswille läge vor und das paritätische Wechselmodell würde bereits seit Mai 2021 praktiziert.

Betont wurde vom OLG, dass es nicht übersehen habe, dass es in dem vorangegangenen Beschwerdeverfahren ausgeführt habe, dass es für ein Wechselmodell an einer ausreichenden Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit der Eltern ermangele und dies nach Einschätzung des Jugendamtes weiterhin gelte. Während eines im laufenden Meditationsverfahrens, so die Antragsgegnerin, sie sie vom Antragsteller beleidigt worden, der ihr kriminelles Verhalten vorwerfe, und der Antragsteller habe während es laufenden Meditationsverfahrens Strafanzeige gegen die Antragsgegnerin (wegen eines von ihm dem Kind geschenkten Handys, welches die Antragsgegnerin veräußert haben soll)  erstattet. Ein Fahrradunfall des Kindes im April 2021 habe wegen fehlender Einigung der Eltern über die erforderliche ärztliche Behandlung zu einem noch anhängigen Sorgerechtsstreit geführt. Das Jugendamt schätze, dass der massive Elternkonflikt, dem das Kind schutzlos ausgesetzt sei, seit 2018 anhalte.

Die Frage, ob ein Wechselmodell geboten sei, sei unter Berücksichtigung anerkannter Kriterien des Kindeswohls zu entscheiden (BGH, Beschluss vom 27.11.2019 - XII ZB 512/18 -). Das Kommunikations- und Kooperationsverhalten der Eltern sei dabei nur ein Abwägungsgesichtspunkt. Dieser könne im Einzelfall auch zurücktreten. Derselbe würde dann zurücktreten, wenn zu erwarten sei, dass das Wechselmodell die Belastung des Kindes durch den Elternkonflikt nicht noch verstärke, ggf. sogar vermindere. Damit seien die Vor- und Nachteile des jeweiligen Betreuungsmodelle wertend gegeneinander abzuwägen.

Das OLG sah in dem Wechselmodell gegenüber anderen Gestaltungen, wie den vorher praktizierten erweiterten Umgang des Antragstellers, nach dem „Prinzip der Schadensminimierung“ das für das Kind am wenigsten schädliche und damit im Vergleich beste Betreuungsmodell. Dabei sie aus seiner Sicht mir entscheidend, dass sich das Kind im Verfahren mehrfach für das Wechselmodell ausgesprochen habe. Obwohl es an der Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit der Eltern ermangele, seien alle bedeutsamen Fragen für das Wechselmodell zwischen den Eltern geklärt und es funktioniere in der Praxis im Wesentlichen reibungslos. Wie sich aus den Angaben des Kindes, im Kern auch aus jener der Eltern ergäbe.

Eine Beeinflussung des Kindes schloss das OLG aus. Vielmehr ging es von einem bei der Kindesanhörung hohen Gerechtigkeitsempfinden des 11 ¾ Jahre alten Kindes aus, welches zu respektieren sei. Eine fehlende Respektierung seines Willens durch Nichtbeachtung wurde vom OLG als mit der Gefahr verbunden angesehen, dass dies zu einer Schwächung der kindlichen Selbstwirksamkeitserwartung mit negativen Folgen für seine psychische Entwicklung verbunden sein könnte. Mit zunehmenden Alter und Einsichtsfähigkeit komme dem Willen des Kindes vermehrt Bedeutung zu. Zur schutzwürdigen Persönlichkeitsentwicklung des Kindes gehöre auch dessen auf einem tief empfundenen Gerechtigkeitsgefühl beruhenden Wunsch nach Gleichbehandlung beider Eltern. Auch wenn ein Loyalitätsdruck bei dem Kind vorhanden sein sollte und es Ruhe haben wollte, würde doch der Wunsch nach hälftiger Betreuung eine psychische Lebenswirklichkeit darstellen, die schon aus diesem Grund zu respektieren sei.

Das schon seit Mai 2021 praktizierte Wechselmodell haben nach den Berichten des Verfahrensbeistandes des Kindes und des Jugendamtes keine nachteilogen Auswirkungen auf das Kind gehabt. Auch das Kind habe einen reibungslosen Ablauf des wöchentlichen Wechsels geschildert und in der Schule seien auch keine Probleme aufgetreten, was vom Jugendamt und den Eltern bestätigt worden sei.

OLG Dresden, Beschluss vom 12.04.2022 - 21 UF 304/21 -

Freitag, 17. Juni 2022

Vor und im Gerichtsverfahren eingeholtes Privatgutachten in der gerichtlichen Kostenfestsetzung

Immer wieder holen Parteien eines künftigen Prozesses bereits vorprozessual Sachverständigengutachten ein (insbesondere in Bausachen), um in einem späteren Verfahren auf sicheren Grundlagen zu stehen, sei es im Hinblick auf vom Auftraggeber behaupteten Mängeln, sei es zur Sicherung der (Rechts-) Ansicht durch den Auftraggeber, gemäß der eine Zahlung an den Auftragnehmer nicht erfolgen muss. Dabei gibt es verschiedene Zeitpunkte der Einholung: Dies kann schon sehr früh erfolgen (z.B. aus Anlass eines Abnahmeverlangens oder nach einem Abnahmetermin), sei es im Rahmen der folgenden Korrespondenz über streitige Mängel, im Zusammenhang mit der Vorbereitung der Klage bzw. nach deutlicher Klageandrohung, aber auch durch den Beklagten nach Klagezustellung oder im Laufe des gerichtlichen Verfahrens durch eine der Parteien oder beide Parteien. Immer wieder kommt es dann nach einem Urteil zum Streit, ob derartige Sachverständigenkosten für die obsiegende Partei erstattungsfähig sind (bei einem teilweise Obsiegen, ob sie bei einer Urteil oder Vergleich festgestellten Kostenquotelung bei der Kostenausgleichung und -festsetzung zu berücksichtigen sind).

Vorliegend hatte der Beklagte zwei Privatgutachten vor dem Prozess und eines begleitend während des Prozesses eingeholt. Im Rahmen der Kostenfestsetzung hatte der Rechtspfleger die Kosten von keinem der Gutachten berücksichtigt. Die dagegen vom Beklagten eingelegte sofortige Beschwerde blieb ohne Erfolg.

Das zur Entscheidung über die sofortige Beschwerde berufene OLG Hamm wies auf § 91 Abs. 1 S. 1 ZPO hin, demzufolge diejenigen Kosten des Rechtstreits erstattungsfähig seien, die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendig waren. Auch eingeholte Privatgutachten könnten zu diesen Kosten zählen, wenn es der Partei an einer eigenen Sachkunde ermangele und das Gutachten prozessbezogen sei. Prozessbezogenheit setze einen sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem gerichtlich ausgetragenen Rechtsstreit voraus.

1. Zu den vorprozessual eingeholten Sachverständigengutachten sei erforderlich, dass sich der Rechtsstreit konkret abzeichne. Dass sei anzunehmen, wenn das Gutachten zur Beurteilung der Prozessaussichten, der Einstandspflicht und der Anspruchsmöglichkeiten eingeholt würde. Die Beauftragung müsse das „Wie“ der Prozessführung dienen. Die Einholung müsse von der Partei ex ante (also zum Zeitpunkt der Beauftragung) als sachdienlich angesehen werden dürfen.

a) Zum Zeitpunkt der Beauftragung des ersten Gutachtens durch den Beklagten habe es an der Prozessbezogenheit gefehlt, da - wie nachfolgende Schreiben dokumentieren würden - die außergerichtlichen Einigungs- und Erledigungsmöglichkeiten noch nicht ausgeschöpft gewesen seien. Das Gutachten habe der Feststellung von Mängeln der Werkleistungen gedient, die zur Grundlage von Schadenersatzansprüchen gegen die Klägerin gemacht werden könnten, und damit zur Feststellung von Gegenrechten. Dies gehöre zur Sphäre, „ob“ ein solches eingeholt werden soll, nicht aber „wie“ die Prozessführung erfolgen soll.

Anm. 1: Diese Ansicht des OLG ist richtig. Letztlich verhandelten die Parteien noch und der Beklagte war bemüht, sich Argumente für seine Verhandlungsposition zu verschaffen. Auch wenn damit die Möglichkeit bestand, einen Rechtsstreit abzuwenden, diente es nicht der späteren Prozessführung, auch wenn es bei dieser nützlich werden könnte, da ein solcher Rechtsstreit gerade noch nicht abzusehen war. Ob gegebenenfalls ein materieller Kostenerstattungsanspruch des Beklagten gegen die Klägerin bestand (z.B. § 631 BGB iVm. § 280 BGB) ist für die Beurteilung im Rahmen der Kostenfestsetzung nach § 91 ZPO bzw. der Kostenausgleichung nach § 92 ZPO ohne Bedeutung.

2. Bei dem zweiten Gutachten soll es sich um die Kosten des Sachverständigen für seine Teilnahme an einem Ortstermin vor dem Rechtsstreit gehandelt haben, in dem der Sachverständige die Kosten seiner Teilnahme, die Erstellung einer Beweissicherung und Dokumentation abrechnete. Erst im Ortstermin habe sich herausgestellt, dass sich die Parteien nicht über die Verantwortlichkeit der Klägerin hätten einigen können. Die Erstellung der Beweissicherung und Fotodokumentation sei zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung nicht erforderlich gewesen. Es hätte ausgereicht, die am Tag des Ortstermins noch fortbestehenden Mängel, die im vorherigen Gutachten benannt wurden, zum Gegenstand des Rechtstreits zu machen. Über das vorgehende Gutachten hinaus habe der Sachverständige nur einen Zustand beschrieben; es sei auch dem Beklagten möglich gewesen, diese Symptome für einen Mangel in das Verfahren ohne gutachterlichen Beistand einzuführen.

Anm. 2: Damit handelt es sich hier ersichtlich auch nur um Aufwendungen des Beklagten, mit denen er seine Rechtsposition sichern wollte, nicht aber „wie“ er den Prozess führen will. An dieser Stelle - wenn es dem Beklagten um eine gerichtsverwertbare sichere Beweissicherung ging - hätte er ein selbständiges Beweisverfahren nach § 485 ZPO durchführen können, also einen entsprechenden Antrag bei Gericht stellen müssen. Die Kosten des selbständigen Beweisverfahren sind Kosten des (späteren) gerichtlichen Verfahrens, wenn sich eine Partei im Prozess auf Tatsachen beruft, die Gegenstand des selbständigen Beweisverfahrens waren, §§ 493 Abs. 1 iVm. 91 ZPO

3. Die weiteren vom Beklagten geltend gemachten Sachverständigenkosten betrafen ein prozessbegleitend eingeholtes Privatgutachten (Zustellung der Klageschrift am 25.07.2012, gutachterliche Stellungnahme vom 04.09.2912). Es handele sich, so das OLG, um notwendige Kosten, wenn dies unter dem Gesichtspunkt der Waffengleichheit geboten sei, da der Partei andernfalls eine gerichtlich geforderte Substantiierung nicht möglich wäre oder die Partei ein gerichtlich eingeholtes Sachverständigengutachten nicht überprüfen, insbesondere Fragen an den gerichtlich bestellten Sachverständigen nicht formulieren könne (vgl. § 411 Abs. 4 ZPO).

Das OLG sah keinen Grund darin, dass der Beklagte durch dieses Gutachten eine detaillierte mangelbezogene Kostenschätzung erstellen ließ, da bereits im ersten Gutachten eine Mangelsumme von € 30.000,00 geschätzt hatte, worauf sich der Beklagte hätte beziehen können. Über die detaillierten Mängel habe das Gericht Beweis zu erheben und in diesem Zusammenhang die Beweisaufnahme auch auf die Höhe der geltend gemachten Gegenansprüche erstrecken müssen. Die detaillierte Aufstellung habe zwar auch Kosten beinhaltet, die in der Kostenschätzung nicht enthalten gewesen seien, doch könne das OLG im Rahmen einer Schätzung (§ 287 ZPO) nicht ermitteln welcher Zeitaufwand darauf entfallen sei.

Anm. 3: Hier wirken sich für den Beklagten die vorgerichtlich eingeholten Gutachten zu seinem Nachteil aus. Da das erste Gutachten bereits eine Kostenschätzung enthielt, kam es auf die (detaillierte) Kostenschätzung im dritten Gutachten nicht an, da offensichtlich auch das Landgericht im Verfahren keine Detaillierung verlangte. Wäre das dritte Gutachten nach einem Hinweis des Landgerichts (§ 139 ZPO) zu einer seiner Ansicht nach notwendigen Detaillierung eingeholt worden, wären die Kosten des Gutachtens erstattungsfähig gewesen. Zwar waren im dritten Gutachten auch Mängelpositionen mit Kostenbeträgen versehen worden, die bei dem ersten Gutachten noch nicht berücksichtigt wurden, doch konnte hier das OLG Kosten für dieses Gutachten auch nicht teilweise zusprechen, da nicht ersichtlich war, welcher Zeitaufwand (gegenüber dem abgerechneten Gesamtzeitaufwand für das Gutachten als solches) auf diese Positionen entfiel. Auch wenn das OLG von einer Schätzung spricht, gilt auch hier, dass eine Schätzung nach § 287 ZPO nicht ins Blaue hinein erfolgen darf, sondern konkrete Anhaltspunkte vorliegen müssen, die gegebenenfalls vorzutragen sind (BGH, Urteil vom 08.05.2012 - VI ZR 37/11 unter II.3.a).

Es ist zwar verständlich, dass bei zu befürchtenden hohen Kosten einer gerichtlichen Auseinandersetzung der Besteller einer Werkleistung (wie hier) sicher gehen will, dass die von ihm angenommenen Mängel tatsächlich bestehen, wenn sie vom Auftragnehmer nicht anerkannt werden. Er läuft aber in diesem Fall Gefahr, dass er die Kosten des Gutachtens selbst zu tragen hat, jedenfalls nicht über eine Kostenfestsetzung erstattet verlangen kann, wobei ein möglicher materieller Anspruch im vorliegenden Fall möglicherweise verjährt sein dürfte. Die Einholung mehrerer Gutachten, gar vor einem Prozess, zu denselben Themenbereich ist auch unverständlich, ebenso ein Gutachten, in dem der Sachverständige zwar Symptome aufzeigt (die auch die Partei selbst sieht), aber nicht den Mangel (mangels Prüfung) feststellt. Hätte der Beklagte nach Zustellung der Klage oder endgültiger Mitteilung der Gegenseite, dass nunmehr Zahlungs- oder Abnahmeklage erhoben würde, ein Gutachten zur Feststellung der Mängel und zu den Kosten der Beseitigung eingeholt, um so seine Verteidigung an Hand des Gutachtens einzurichten, wäre eine Erstattungsfähigkeit zu bejahen gewesen, da der Beklagte offensichtlich keine eigenen Erfahrungen hatte. Im Übrigen hätte vor einem Rechtstreit bereits ein selbständiges Beweisverfahren beantragen können (s.o. Anmerkung 2), was - selbst wenn es für ihn ungünstig verläuft - jedenfalls nicht Mehrkosten verursacht hätte, sondern bei günstigen Ausgang erstattungsfähige Kosten gesichert hätte.

OLG Hamm, Beschluss vom 08.02.2022 - I-25 W 214/21 -

Donnerstag, 16. Juni 2022

Abmahnung per Anhang zur E-Mail und dessen Zugang

Mit einer E-Mail sandte der Verfügungskläger über seinem Rechtsanwalt dem Verfügungsbeklagten (beide Internetverand-händler) ein Abmahnschreiben. In der Mail wurde um Beachtung des im Anhang befindlichen Dokuments gebeten, welches „zur Entlastung der angespannten Infrastruktur im Versandwesen nur auf elektronischen Weg zur Verfügung gestellt würde“. Die Mail war mit den Kontaktdaten des jetzigen Prozessbevollmächtigten des Verfügungsklägers versehen, in der Betreffzeile stand „Unser Zeichen: A ./. B 67/20-EU“. Zwei PDF-Dateien waren beigefügt, die eine mit der Bezeichnung „20…EZ12984.pdf“ und die andere mit der Bezeichnung „Unterlassung.pdf“, wobei letztere den Entwurf für eine strafbewehrte Unterlassungserklärung enthielt.  Nachdem der Verfügungsbeklagte nicht reagierte, sandte der Prozessbevollmächtigte des Verfügungsklägers mit der gleichen Betreffzeile eine neue Mail, in der er lediglich schrieb: „Zur Erfüllung diesseitiger Ansprüche setzen wir eine Nachfrist bis zum 03.04.2020.“

Das Landgericht erließ die dann vom Verfügungskläger beantragte einstweilige Verfügung. Nach Zustellung derselben gab der Verfügungsbeklagte eine Abschlusserklärung (mit der er den letztlich anerkannte), behielt sich aber einen Kostenwiderspruch vor. Er legte gegen die einstweilige Verfügung Widerspruch, beschränkt auf die Kostenentscheidung ein und behauptete, er habe von beiden Mails keine Kenntnis erlangt, könne aber nicht ausschließen, dass diese im Spam-Ordner gelandet wären (was er nicht prüfen könne, da er diesen alle zehn Tage lösche). Das Landgericht erlegte ihm die Kosten auf. Dagegen wandte sich der Verfügungsbeklagte erfolgreich mit seiner sofortigen Beschwerde.

Das Beschwerdegericht vertrat die Ansicht, der Verfügungsbeklagte habe dem Verfügungskläger keine Veranlassung zur Klage gegeben, weshalb der Verfügungskläger in analoger Anwendung des § 93 ZPO die Kosten zu tragen habe. Es könne dem Verfügungsbeklagten nicht zum Vorwurf gemacht werden, er habe auf die Anmahnung nicht reagiert.

Es könne dahinstehen, ob die Mails überhaupt bei dem Verfügungsbeklagten (ggf. im Spam-Ordner) zugegangen seien. Ein Zugang eine als Dateianhang zu einer Mail gesandtes Abmahnschreiben sei erst zugegangen, wenn der Empfänger den Dateianhang auch wirklich geöffnet habe. Da allgemein im Hinblick auf Virenrisiken gewarnt würde, Anhänge von E-Mails unbekannter Absender zu öffnen, könne von dem Empfänger nicht dessen Öffnung verlangt werden. Der Verfügungsbeklagte habe durch eidesstattliche Versicherung glaubhaft gemacht, dass er von beiden E-Mails des ihm zuvor nicht bekannten Prozessbevollmächtigten des Verfügungsklägers keine Kenntnis erlangt und deshalb auch nicht geöffnet habe.

Anmerkung: Selbst wenn mithin vorliegend der Verfügungsbeklagte von beiden Mails Kenntnis gehabt haben sollte, hätte er die Kosten nicht zu tragen, da der Prozessbevollmächtigte des Verfügungsklägers ihm unbekannt war und er damit nicht hätte einschätzen können, ob sich nicht bei Öffnung des Anhangs Viren auf seinem PC ausbreiten.

OLG Hamm, Beschluss vom 09.03.2022 - 4 W 119/20 -

Montag, 13. Juni 2022

Fehlende Befugnis zur Prozessvertretung des Versicherungsnehmers durch Haftpflichtversicherer

Im Rahmen der auf § 3a UWG (Rechtsbruch) gestützten, wettbewerbsrechtlichen Klage eines Rechtsanwalts gegen eine Haftpflichtversicherung musste sich letztinstanzlich der BGH mit der Frage auseinandersetzen, ob der Haftpflichtversicherer für seinen Versicherungsnehmer – soweit eine anwaltliche Vertretung nicht zwingend vorgeschrieben ist (z.B. bei Verfahren vor dem Land- und Oberlandesgericht), also im sogenannten Parteiprozess ohne Notwendigkeit anwaltlicher Vertretung, die Prozessvertretung übernehmen darf, also im . Hintergrund war gewesen, dass der Haftpflichtversicherer für seinen Versicherungsnehmer Einspruch gegen einen Vollstreckungsbescheid einlegte.

Das Landgericht hatte der Klage gegen den Haftpflichtversicherer stattgegeben. Die Berufung des Haftpflichtversicherers war erfolgreich. Der Rechtsanwalt hat die (vom Berufungsgericht zugelassene) Revision eingelegt, die zur Wiederherstellung des der Klage stattgebenden Urteils des Landgerichts führte.

Eine Vertretungsberechtigung ergäbe sich entgegen der Annahme des Berufungsgerichts nicht aus § 79 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 ZPO, wonach Familienangehörige, Personen mit Befähigung zum Richteramt und Streitgenossen, wenn die Vertretung nicht im Zusammenhang mit einer entgeltlichen Tätigkeit stünde, diese Vertretung übernehmen könnten. Der Anwendungsbereich der Norm könne nicht überseinen Wortlaut hinaus erweitert werden dahingehend, dass dem dort benannten Streitgenossen ein Versicherungsunternehmen gleichstünde, dem ein Recht zur Nebenintervention (§§ 66, 68 ZPO) zustünde. Die Analogie sei nur bei planwidriger Regelungslücke zulässig, an der es hier fehle. Es lasse sich nicht erkennen, dass es der gesetzgeberischen Regelungsabsicht widerspreche, zwar Streitgenossen der Partei eine Vertretung zu erlaube, nicht aber Personen, denen nach §§ 66, 68 ZPO das Recht zur Nebenintervention zustünde. Der Begriff des Streitgenossen sei in der ZPO an einem anderen Ort als die Bestimmungen über Beteiligung Dritter (so die Nebenintervention) am Verfahren geregelt. Es handele sich um eine eindeutige Begriffswahl.

Zudem läge auch keine vergleichbare Interessenslage zwischen dem Streitgenossen und dem Nebenintervenienten vor. Die Zulassung des Streitgenossen diene der Prozessökonomie, da diese bereits als Partei auf Kläger- oder Beklagtenseite am Rechtsstreit auf gleicher Seite beteiligt seien. Mit dieser der Erleichterung des Verfahrens bezogenen Rechtfertigung sei die Stellung eines zur Nebenintervention Berechtigten nicht vergleichbar. Die prozessökonomische Wirkung entfalte ihre Wirkung erst im Folgeprozess, insoweit er nach § 68 von bestimmten Einwendungen in einem Verfahren mit der Partei, der er beigetreten ist, im Folgeprozess ausgeschlossen ist.

Zudem sei die Vertretung im Rahmen des § 79 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 ZPO bei einer entgeltlichen Tätigkeit ausgeschlossen. Dabei käme es nicht darauf an, ob ein Entgelt für die Prozessvertretung als solche vereinbart sei (BT-Drucks. 16/3655, S. 87); die Prozessvertretung dürfe auch nicht Teil einer entgeltlichen Vertragsbeziehung (wie sie zwischen dem Versicherungsnehmer und dem Versicherer bestünde) sein. Hier sei der Haftpflichtversicherer im Rahmen des entgeltlichen Versicherungsvertrages verpflichtet, bei von einem Dritten gegen den Versicherungsnehmer geltend gemachten Ansprüchen diesen freizustellen und unbegründete Ansprüche abzuwehren, § 100 VVG. Die Versicherung umfasse die gerichtlichen und außergerichtlichen Kosten, § 101 Abs. 1 S. 1 VVG. Damit sei die Vertretung durch den Haftpflichtversicherer als entgeltlich anzusehen.

Auch Art. 12 Abs. 1 GG, der die Berufsausübungsfreiheit beinhalte, gebiete es nicht, dem Haftpflichtversicherer eine Vertretungsbefugnis nach § 79 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 ZPO zuzubilligen. Zwar würde seine Berufsausübung eingeengt, wenn ihm das Recht zur Prozessvertretung nicht zuerkannt würde, da diese Einschränkung gerechtfertigt und nicht verfassungswidrig sei. Der Eingriff sei durch Gründe des Gemeinwohls begründet. § 79 Abs. 2 ZPO diene dem Schutz der rechtssuchenden Bevölkerung und der funktionierenden Rechtspflege und damit übergeordneten Gemeinwohlzielen (BGH, Urteil vom 20.01.2011 – I ZR 122/09 -; nachfolgend BVerfG, Beschluss vom 20.04.2011 – 1 BvR 624/11 -).  

Da es dem Haftpflichtversicherer möglich sei, nach einem Einspruch gegen den Vollstreckungsbescheid (Anm.: den der Versicherungsnehmer selbst einlegen kann) dem Rechtsstreit als Nebenintervenientin beizutreten bestünde für ihn kein schutzwürdiges Interesse, die Hauptpartei als Prozessbevollmächtigter zu vertreten. Auch der Umstand, dass der Haftpflichtversicherer über vertiefte Kenntnisse und Erfahrungen im Versicherungsrecht und über qualifiziertes Personal mit der Befähigung zum Richteramt verfüge käme es nicht an.

Anmerkung: Es ist bei vielen Versicherungsgesellschaften üblich, dass sich diese von dem Versicherungsnehmer den Mahn- bzw. Vollstreckungsbescheid zusenden lassen, um dann selbst den Widerspruch bzw. Einspruch einzulegen. So wollen sie sicherstellen, dass das Rechtsmittel korrekt und fristwahrend eingelegt wird. Auch vertreten sie den Versicherungsnehmer in einigen Fällen direkt vor Gericht und Sachbearbeiter der Versicherung nehmen die Termine wahr. Der BGH hat klargestellt, dass dies unzulässig ist.  Zur Konsequenz hat dies, dass ein derartiges Verhalten nicht nur (wie hier) eine Abmahnung nach § 3a UWG begründen kann. Vielmehr dürfte die prozessuale Handlung als solche unzulässig sein, dass das Rechtsmittel (Widerspruch oder Einspruch) oder die Klageverteidigung für den Versicherungsnehmer unwirksam ist und als Folge Vollstreckungsbescheide ergehen können bzw. solche nicht rechtzeitig mit dem Rechtsmittel des Einspruchs angefochten wird, bzw. bei einer Klageverteidigung dies nicht beachtet wird (da die unwirksam ist) und Versäumnisurteil ergeht. Die Versicherungen müssen ihre Versicherungsnehmer darauf hinweisen, dass diese - ist ein gerichtliches Verfahren zu erwarten - selbst sofort bei Zugang von Mahn- oder Vollstreckungsbescheid den Rechtsbehelf einlegen und sich im Übrigen, bei einem streitigen Verfahren, überlegen, ob sie gemäß den Versicherungsbedingungen dem Versicherungsnehmer einen Rechtsanwalt stellen oder, wollen sie die Vertretung vor Gericht selbst übernehmen (soweit nicht anwaltliche Vertretung vorgeschrieben ist) dem Rechtsstreit auf Seiten ihres Versicherungsnehmers durch Nebenintervention beitreten.

BGH, Urteil vom 10.03.2022 - I ZR 70/21 -

Sonntag, 5. Juni 2022

Verzicht auf Anrecht in Altersversorgung im Versorgungsausgleich bei Scheidung

Im Rahmen der Scheidung der Parteien (Antrag vom 08.08.2013) musste das Familiengericht auch über den Versorgungsausgleich entscheiden. Es hat dabei ein Anrecht des Antragstellers, welches dieser als Vorstand einer Sparkasse erlangt hatte, nicht berücksichtigt, da dieser mit einem Änderungsvertrag vom 12.09.2012 auf diese Altersversorgung verzichtete. Die dagegen eingelegte Beschwerde wies das Oberlandesgericht zurück. Hiergegen wandte sich die Antragstellerin mit der zugelassenen Rechtsbeschwerde die vom BGH zurückgewiesen wurde.

Im ursprünglichen Dienstvertrag des Antragsgegners vom 07.03.2007 waren Anrechte in Form einer Ruhegeldreglung (auch auf den Invaliditätsfall) und Abfindungszusage enthalten gewesen. enthalten gewesen.  Beide Anrechte waren aber, nach der vom BGH bestätigten Auffassung des Oberlandesgerichts, nicht ausgleichsreif, da sie zum Zeitpunkt des Ehezeitendes nicht ausreichend verfestigt gewesen wären.  Der Ruhegehaltanspruch habe erst ab dem Eintritt in den Vorstand am dem 01.10.207 bestanden, weshalb eine Unverfallbarkeit erst nach fünf Jahren (§ 1b BetrAVG a.F.) am 30.09.2012 hätte eintreten können, der Antragsteller aber darauf (zulässig nach § 3 BetrAVG) vorher auf das Anrecht verzichtet habe. Der Invaliditätsfall sei nicht eingetreten gewesen, und zudem auch untergegangen, nachdem das Dienstverhältnis mit Auflösungsvertrag vom 24.03.2015 zum 30.04.2015 beendet worden sei.

Soweit von der Antragstellerin in der Rechtsbeschwerde geltend gemacht worden sei, das Oberlandesgericht habe die Vereinbarung vom 13.09.2012 fehlerhaft dahingehend ausgelegt, dass die Ruhegeldzusage im Rahmen der Vereinbarungen über die Weiterbeschäftigung über den 30.09.2012 hinaus abbedungen worden sei, folgte dem der BGH nicht. Die Auslegung der Individualvereinbarung nach §§ 133, 157 BGB sei Sache des Tatrichters. Sie sei für das Revisionsgericht bindend, wenn sie rechtsfehlerfrei vorgenommen wurde und zu vertretbaren Ergebnissen führe, auch wenn ein anders Auslegungsergebnis möglich erscheine. Rechtsfehler bei der Auslegung seien hier nicht ersichtlich. Zutreffend sei auf das gemeinsame Motiv der Vertragsparteien für die Abbedingung angestellt worden. Ohne den Verzicht wäre eine Weiterbeschäftigung des Antragsgegners über den 30.09.2012 hinaus in Ansehung einer zum 01.01.2013 vorgesehenen Fusion mit einer anderen Sparkasse nicht möglich gewesen. Von der Antragstellerin geäußerten Zweifeln an der wirtschaftlichen Plausibilität dieses Vorgehens habe das Berufungsgericht nicht zu weiterer Sachverhaltsaufklärung nach § 26 FamFG veranlassen müssen, da zum Einen diese Auslegung sich aus der Vereinbarung vom 13.09.2012 entnehmen ließe, zum Anderen auch in der Jahresbilanz der Sparkasse zum 31.12.2012 die noch in der Bilanz zum 31.12.2011 enthaltene Rückstellung nicht mehr enthalten war.

Da die Antragstellerin ihren Verdacht, die ursprüngliche Ruhegeldzusage sei nur ausgelagert oder abgefunden worden, nicht näher darlegte, der Antragsgegner in seiner Anhörung auch Anrechte ausdrücklich (wie auch in der Versorgungsauskunft) verneinte, habe keine Veranlassung bestanden, weitere Jahresabschlüsse, Prüfungsberichte und Gehaltsabrechnungen und Steuerbescheide des Antragsgegners beizuziehen. Zudem würde es sich bei einer Abfindung für den Ruhegeldanspruch nach § 2 VersAusglG nicht um ein ausgleichsfähiges Recht handeln.

Auch die in der Vereinbarung vom 07.03.2007 enthaltene Abfindung sei nicht auszugleichen. Ausgleichsfähig seien nach § 2 VersAusglG nur Anrechte, die der Absicherung im Alter oder bei Invalidität dienen würden, demgegenüber Ansprüche oder Aussichten auf Leistungen mit anderweitiger Zweckbestimmung (wie Abfindungen und Überbrückungszahlungen) nicht auszugleichen seien. Da sich die Abfindungszusage auf die Beendigung des Dienstverhältnisses bezog und nach dessen Ablauf der (befristeten) Vertragslaufzeit gezahlt werden sollte, handelte es sich nach der Zielsetzung nicht um ein spezifisch der Alters- oder Invaliditätsabsicherung dienendes Anrecht.

BGH, Beschluss vom 30.03.2022 - XII ZB 421/21  -

Mittwoch, 1. Juni 2022

Keine Umsatzsteuer bei Teilreparatur und fiktiver Schadensabrechnung

Die Klägerin verlangte nach einem Verkehrsunfall Schadensersatz. Der Sachverständige bezifferte die Reparaturkosten mit netto € 5.521,63; ob die Verkehrssicherheit des Fahrzeugs der Klägerin durch den Unfall beeinträchtigt war, war streitig. Auf Basis der Feststellungen des Sachverständigen nahm die Klägerin die Abrechnung des Schadens vor und verlangte von der Beklagten Zahlung der vom Sachverständigen ermittelten Nettoreparaturkosten, die die Beklagte auch ausglich. Sodann ließ die Klägerin eine Teilreparatur durchführen, für die sie € 4.454,63 zuzüglich Umsatzsteuer von € 846,38 zahlte. Diese Umsatzsteuer machte sie bei der Beklagten geltend, die die Zahlung ablehnte, woraufhin die Klägerin Klage erhob. Klage und Berufung der Klägerin waren erfolglos. Die vom Berufungsgericht zugelassene Revision wurde vom BGH zurückgewiesen.

Der BGH stellte fest, es könne auf sich beruhen, ob das Fahrzeug nach dem Unfall noch verkehrs- und betriebssicher war oder für die Wiedererlangungen derselben die Teilreparatur erforderlich war. Entscheidend sei, das die Klägerin den Weg der fiktiven Schadensabrechnung gewählt habe und auch nicht zu einer konkreten Berechnung des Schadens auf der Grundlage der durchgeführten Reparatur übergegangen sei. Nach § 249 Abs. 1 BGB sei vom Schädiger der zustand wiederherzustellen, der bestehen würde, wenn es zu dem den Ersatzanspruch begründenden Umstand nicht gekommen wäre. Bei der Beschädigung einer Sache könne der für die Herstellung erforderliche Geldbetrag verlangt werden. Dabei könne der Geschädigte zwischen der konkreten Abrechnung nach den tatsächlich aufgewandten Kosten und einer fiktiven Abrechnung auf der Grundlage eines Sachverständigengutachtens wählen. Eine Vermengung beider Abrechnungsarten sei aber unzulässig. Damit solle verhindert werden, dass der Geschädigte in Form eines Rosinenpickens die ihm vorteilhaften Elemente der jeweiligen Berechnungsart heraussuche und damit bereichere. Zudem würde so die innere Kohärenz der jeweiligen Berechnungsart sichergestellt.  

Der Geschädigte habe bei der Wahl der Art des Schadensersatzes eine Dispositionsfreiheit. Er müsse also nichts zu von ihm veranlassten oder nicht veranlassten Herstellungsmaßnahmen vortragen. Mit seiner Schadensberechnung auf Basis des Sachverständigengutachtens habe die Klägerin dahin disponiert, sich mit Ersatz auf abstrahierter Basis zufrieden zu geben.  Dadurch sei ihr auch kein Schaden entstanden, da sie noch später (bei Vorliegend er Voraussetzungen und fehlender Verjährung) zur konkreten Schadensberechnung übergehen könne.  

Im Rahmen der fiktiven Schadensberechnung könne Umsatzsteuer nicht begehrt werden, auch wenn diese bei Durchführung der Reparatur anfällt. Dies würde zur unzulässigen Kombination von fiktiver und konkreter Schadensberechnung führen. Umsatzsteuer zur Wiederherstellung einer Sache sei nach § 249 Abs. 2 S. 2 BGB nur zu zahlen, wenn und soweit sie tatsächlich anfalle. Damit begrenze die Norm den die Dispositionsbefugnis bei fiktiver Abrechnung.

Auch bleibe die Umsatzsteuer nicht nur fiktiv, wenn es nicht zu einer umsatzsteuerpflichtigen Reparatur oder Ersatzbeschaffung käme, sondern auch dann, wenn der Geschädigte zwar Wiederherstellungsmaßnahmen (die umsatzsteuerpflichtig sind) ergreife, dies aber nicht zur Grundlage seiner Abrechnung mache, sondern es dabei belässt, den Schaden fiktiv abzurechnen. Der Geschädigte könne die Restitutionsmaßnahme nicht (in Bezug auf die Umsatzsteuer) teilweise  zum Gegenstand seiner im Übrigen fiktiven Abrechnung machen.

Diese Grundsätze würden auch bei einer Teilreparatur gelten.

Zwar könne eine Teilreparatur zur Wiederherstellung der Verkehrssicherheit grundsätzlich zur Voraussetzung für die Abrechenbarkeit fiktiver Reparaturkosten werden, wenn diese den Wiederbeschaffungsaufwand (Wiederbeschaffungswert abzüglich Restwert) überschreiten würden. Dadurch würde das Integritätsinteresse des Geschädigten und seine Dispositionsfreiheit geschützt. Diese umsatzsteuerpflichtige Teilreparatur würde in diesem Fall erst die fiktive Abrechnung ermöglichen. Allerdings sei es dem Geschädigten nicht erlaubt, auf diesen Weg durch eine Vermengung von fiktiver und konkreter Abrechnung die Vorteile der konkreten Abrechnung zu sichern. Auch in diesen Fall wäre zu beachten, dass die Umsatzsteuer nur auf die Teilreparatur anfalle, nicht aber auf die der Schadensberechnung zugrunde gelegte fiktive Reparatur des gesamten Schadens.

Danach habe der Geschädigte keinen Anspruch auf die Umsatzsteuer bei einer Teilreparatur,  obwohl sie angefallen sei, da fiktiv der gesamte Schaden (und damit auch der reparierte Teil) abgerechnet worden sei.

BGH, Urteil vom 12.05.2022 - VI ZR 7/21 -