Die Prozessordnungen sehen
(teils seit vielen Jahren) die Möglichkeit vor, dass eine Teilnahme an mündlichen
Verhandlungen vor Gerichten in Form der Videozuschaltung erfolgt. Seit Corona
nimmt diese Art der Verfahrensteilnahme zu. Aber auch hier sind rechtstaatliche
Grundsätze zu achten, sowohl im Hinblick auf den per Video zugeschalteten Teilnehmer
der Verhandlung, wie auch (wie der der hiesigen Besprechung zugrunde liegende
Fall zeigt) der im Gericht anwesenden Teilnehmer.
Der BFH gab der Beschwerde statt. Er sah hier eine Verletzung rechtlichen Gehörs (Art. 103 GG), weshalb er das Urteil des FG aufhob und den Rechtsstreit dorthin zurückverwies.
Rechtliches Gehör werde u.a. durch die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung gewährt; Art. 103 Abs. 1 GG setze voraus, dass sich die Verfahrensbeteiligten bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt über den gesamten Verfahrensstoff informieren können (BVerfG, Beschluss vom 08.06.1993 – 1 BvR 878/90 -). Das Gericht könne den Beteiligten auf Antrag die Teilnahme in Form der „Videoübertragungstechnik“ erlauben, die „ohne Verlust an rechtsstaatlicher Qualität“ genutzt werden dürfe (BT-Drucks. 17/112, S. 10). Das Geschehen müsse vollständig übermittelt werden (dürfe sich also nicht auf einzelne Beteiligte beschränken) und jeder Beteiligte müsse zeitgleich die anderen Beteiligten visuell und akustisch wahrnehmen können.
Zur Verletzung des rechtlichen Gehörs bei Videoübertragungen stellte der BFH fest: Jeder Beteiligte müsse zeitgleich die Richterbank du die anderen Beteiligten visuell und akustisch wahrnehmen können. Daran ermangele es, wenn ein anwesender Beteiligter einen zugeschalteten Beteiligten nur sehen könne, wenn er sich selbst um 180° wenden würde. Dem Geschäftsführer sei es ohne sich entsprechend zu wenden nicht möglich gewesen, den Vertreter des FA bzw. die Richterbank zu sehen; ein zeitgleiches Sehen sei ausgeschlossen gewesen. Damit könnten ihm Einzelheiten, wie Mimik und Gestik, entgehen und - anders als im Rahmen einer Verhandlung in Anwesenheit aller Beteiligter – mögliche nonverbale Kommunikationen zwischen einem Beteiligten und der Richterbank entgehen. Selbst wenn im Regelfall die Beteiligten (Kläger / Beklagte) bei Präsenzverhandlungen nebeneinander sitzen würden, würden sie doch aus den Augenwinkeln eine entsprechende nonverbale Kommunikation mitbekommen können. Auch bestünde durch das widerholte Hin- und herschauen die Gefahr, dass der Geschäftsführer abgelenkt würde und deshalb seine Konzentration auf den Prozessstoff beeinträchtigt würde.
Auch wenn das Finanzgericht in Abwesenheit eines Beteiligten verhandeln und entscheiden könne (§ 91 Abs. 2 FGO), würde der per Videoverhandlung Beteiligte nicht abwesend sein und müsse daher der andere Beteiligte in der Lage sein, dessen verbalen und nonverbalen Äußerungen umfassend wahrzunehmen.
Die Klägerin sei mit ihrer Rüge auch nicht ausgeschlossen. Zwar würde grundsätzlich das Rügerecht gem. § 295 Abs. 1 ZPO iVm. § 155 S. 1 FGO verlorengehen, wenn ein verzichtbares Verfahrensrecht betroffen sei, wobei für den Verlust ausreichend sei, wenn eine rechtzeitige Rüge unterlassen würde. Allerdings würde dies nur in den Fällen angenommen, in denen der Kläger rechtskundig vertreten würde (BFH, Beschluss vom 29.10.2004 – XI B 213/02 -). Im finanzgerichtlichen Verfahren sei die Klägerin nicht rechtskundig vertreten gewesen. Zudem sei bei einer Parallelwertung in der Laiensphäre ein Verfahrensmangel im Hinblick auf den Rahmen der Videoverhandlung nicht ohne weiteres erkennbar.
BFH, Beschluss vom
18.08.2023 - IX B 104/22 -
Aus den Gründen:
Tenor
Auf die Beschwerde der Klägerin wegen
Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des Finanzgerichts Münster vom
19.05.2022 - 3 K 2530/21 EW aufgehoben.
Die Sache wird an das Finanzgericht Münster zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.
Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.
Tatbestand
I.
In der Sache
begehrt die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) Akteneinsicht. Im
hierüber geführten Klageverfahren gestattete das Finanzgericht (FG) dem
Beklagten und Beschwerdegegner (Finanzamt --FA--) mit Beschluss vom 26.04.2022
gemäß § 91a Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO), sich
während der mündlichen Verhandlung in seinem Dienstgebäude aufzuhalten und dort
im Rahmen einer "Videokonferenz" Verfahrenshandlungen vorzunehmen.
Ausweislich des Protokolls der mündlichen Verhandlung war der anwaltlich nicht
vertretene Geschäftsführer der Klägerin persönlich anwesend, während das FA per
Videokonferenzanlage zugeschaltet war. Das FG wies die Klage als unbegründet
ab.
In ihrer
Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision rügt die Klägerin unter
anderem einen Verfahrensfehler. Sie trägt vor, während der Videoverhandlung sei
das Bild des FA nicht vor ihr auf einem Bildschirm erschienen, sondern nur
hinter ihr an die Wand projiziert worden. Um den Vertreter des FA zu sehen,
habe sich der Geschäftsführer der Klägerin umsehen müssen und abwechselnd
zwischen der Richterbank und dem FA wechseln müssen. Sie halte eine solche
Verfahrensweise für unzulässig, da es nicht möglich gewesen sei, die Mimik und
Gestik aller Teilnehmer der mündlichen Verhandlung zu beobachten. Im Übrigen
habe der Geschäftsführer dem Redebeitrag des FA durch eine Körperdrehung erst
dann folgen können, wenn dieser bereits begonnen hatte.
Das FA hatte
Gelegenheit, sich hierzu zu äußern. Ob die Vertreter des FA während der
gesamten Verhandlung im Videobild gesehen werden konnten oder nur dann, wenn
sich der Geschäftsführer der Klägerin dem entsprechenden Bildschirm zuwandte,
sei für den störungsfreien Verlauf der Verhandlung und vor allem auch für den
materiellen Inhalt der Entscheidung des Gerichts völlig irrelevant. Hinzu
komme, dass gemäß § 91 Abs. 2 FGO das FG sogar bei Ausbleiben eines
Beteiligten ohne ihn verhandeln und entscheiden könne. Schließlich habe die
Klägerin in der mündlichen Verhandlung den behaupteten Fehler nicht gerügt.
Entscheidungsgründe
II.
Die Beschwerde
ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur
Zurückverweisung an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung
(§ 116 Abs. 6 FGO). Das angefochtene Urteil beruht auf einem
Verfahrensmangel im Sinne des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO.
Der Anspruch
der Klägerin auf das rechtliche Gehör (§ 119 Nr. 3 FGO i.V.m.
Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes --GG--) ist verletzt. Bei einer
Videoverhandlung nach § 91a FGO muss jeder Beteiligte zeitgleich die
Richterbank und die anderen Beteiligten visuell und akustisch wahrnehmen
können. Daran fehlt es jedenfalls dann, wenn ein im Gerichtssaal anwesender
Beteiligter den zugeschalteten Beteiligten nur sehen kann, wenn er selbst sich
180 Grad dreht.
1. Der
Anspruch auf rechtliches Gehör umfasst das Recht der Verfahrensbeteiligten,
sich vor Erlass einer Entscheidung zu den entscheidungserheblichen Tatsachen
und --gegebenenfalls-- Beweisergebnissen zu äußern sowie in rechtlicher
Hinsicht alles vorzutragen, was sie für wesentlich halten (vgl. u.a.
Senatsbeschluss vom 08.04.2022 - IX B 10/21, Rz 11;
Gräber/Ratschow, Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl., § 119 Rz 14,
m.w.N.; Lange in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 96 FGO Rz 217). Diese
Gelegenheit zur Äußerung wird den Beteiligten durch Einreichung der
Klagebegründung und weiterer Schriftsätze sowie durch Teilnahme an der
mündlichen Verhandlung gegeben. Zudem setzt eine Art. 103 Abs. 1 GG
genügende Gewährung rechtlichen Gehörs voraus, dass sich die Verfahrensbeteiligten
bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt über den gesamten Verfahrensstoff
informieren können (Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom
08.06.1993 - 1 BvR 878/90, BVerfGE 89, 28, m.w.N.).
a) Nach
§ 91a Abs. 1 Satz 1 FGO kann das Gericht den Beteiligten, ihren
Bevollmächtigten und Beiständen auf Antrag oder von Amts wegen gestatten, sich
während einer mündlichen Verhandlung an einem anderen Ort aufzuhalten und dort
Verfahrenshandlungen vorzunehmen. Die Verhandlung wird dann gemäß § 91a
Abs. 1 Satz 2 FGO zeitgleich in Bild und Ton an diesen Ort und in das
Sitzungszimmer übertragen. Die "Videoübertragungstechnik" soll auf
der Grundlage dieser Vorschrift "ohne Verlust an rechtsstaatlicher
Qualität" genutzt werden (BTDrucks 17/1224, S. 10). Das Geschehen
muss vollständig übermittelt werden. Der Bildausschnitt darf sich deshalb nicht
auf einzelne Beteiligte --etwa den Vorsitzenden-- beschränken
(Wieczorek/Schütze/Gerken, 5. Aufl., § 128a ZPO Rz 11). Jeder
Beteiligte muss zeitgleich die anderen Beteiligten visuell und akustisch
wahrnehmen können (MüKoZPO/Fritsche, § 128a Rz 6; Müller-Teckhof, in:
Kern/Diehm (Hrsg.), ZPO, 2. Aufl. 2020, § 128a Rz 4). Verbale
und nonverbale Äußerungen müssen wie bei persönlicher Präsenz wahrnehmbar sein
(Zöller/Greger, ZPO, 34. Aufl., § 128a Rz 6; Windau, Neue
Juristische Wochenschrift 2020, 2753, 2754).
b) Sind
einzelne oder alle Beteiligten trotz ordnungsmäßiger Ladung nicht erschienen,
kann die mündliche Verhandlung grundsätzlich durchgeführt und zur Sache
entschieden werden, wenn die Beteiligten nach § 91 Abs. 2 FGO auf
diese Möglichkeit hingewiesen worden sind. Teilweise wird vertreten, dass auch
eine Videoverhandlung im Sinne von § 91a FGO ohne (ununterbrochene)
Bildübertragung durchgeführt werden kann, wenn dieser Hinweis nach § 91
Abs. 2 FGO erfolgt ist (Schmieszek in Gosch, FGO § 91a Rz 44;
vgl. auch Hessisches FG, Urteil vom 24.07.2014 - 8 K 1324/10).
2. Im
Streitfall hat das FG das rechtliche Gehör der Klägerin verletzt.
a) Es
war dem Geschäftsführer der Klägerin in der mündlichen Verhandlung am
19.05.2022 nicht möglich, gleichzeitig die Richterbank und das FA zu sehen. Er
musste sich vielmehr umdrehen, um die Vertreter des FA auf dem Bildschirm
hinter ihm sehen zu können. Unter diesen Umständen ist nicht generell
ausgeschlossen, dass ihm Einzelheiten, zum Beispiel in Mimik und Gestik der
Vertreter des FA oder der Richter, entgangen sein können. Anders als in der
mündlichen Verhandlung unter Anwesenheit aller Beteiligter konnte eine mögliche
nonverbale Kommunikation zwischen einem Beteiligten und der Richterbank nicht
wahrgenommen werden. Dem steht nicht entgegen, dass im Regelfall die
Beteiligten einer Gerichtsverhandlung nebeneinander vor der Richterbank sitzen.
Denn in diesem Fall kann eine nonverbale Kommunikation zumindest regelmäßig
"aus dem Augenwinkel" wahrgenommen werden.
b) Zudem
ist zu berücksichtigen, dass durch das wiederholte Hin- und Herschauen
möglicherweise die Gefahr bestand, dass der Geschäftsführer der Klägerin
abgelenkt wurde und deshalb seine Konzentration auf den Prozessstoff
beeinträchtigt war.
c)
Schließlich scheidet eine Verletzung des rechtlichen Gehörs nicht deshalb aus,
weil das FG nach § 91 Abs. 2 FGO auch in Abwesenheit des FA hätte
verhandeln und entscheiden können. Denn § 91 Abs. 1 und 2 FGO dient
zwar auch dem Schutz der Verfahrensbeteiligten, insbesondere im Hinblick auf
die Gewährleistung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103
Abs. 1 GG, § 96 Abs. 2 FGO). Soweit es § 91 Abs. 2 FGO
betrifft, ist damit allerdings der ausbleibende Beteiligte gemeint. Wenn dieser
Beteiligte --wenn auch im Rahmen einer Videoverhandlung-- anwesend ist, muss
der andere Beteiligte stets in der Lage sein, dessen verbale und nonverbale
Äußerungen umfassend wahrzunehmen.
3. Die
Klägerin kann die Rüge auch mit Erfolg geltend machen.
a) Zwar
geht ein solches Rügerecht gemäß § 295 Abs. 1 der Zivilprozessordnung
i.V.m. § 155 Satz 1 FGO verloren, wenn die Verletzung einer
verzichtbaren Verfahrensvorschrift im Raume steht. Das Rügerecht geht nicht nur
durch eine ausdrückliche oder konkludente Verzichtserklärung verloren, sondern
auch durch das bloße Unterlassen einer rechtzeitigen Rüge. Ein Verzichtswille
ist dafür nicht erforderlich. Diese Folge wird vom Bundesfinanzhof (BFH)
allerdings nur für den Fall angenommen, dass der Kläger --anders als im
Streitfall-- rechtskundig vertreten ist (vgl. BFH-Beschluss vom
29.10.2004 - XI B 213/02, BFH/NV 2005, 566 und Senatsbeschluss
vom 27.09.2007 - IX B 19/07, BFH/NV 2008, 27; ausdrücklich
BFH-Beschluss vom 25.05.2011 - VI B 3/11, Rz 7;
Gräber/Ratschow, Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl., § 115 Rz 295; Werth
in Gosch, FGO § 115 Rz 150 und 180).
b) Im
Streitfall war die Klägerin nicht rechtskundig vertreten, so dass --trotz
unterlassener Rüge-- kein Rügeverlust eingetreten ist. Zu diesem Ergebnis
gelänge man auch unter Anwendung der vermittelnden Auffassung, wonach das
Rügerecht bei einem nicht vertretenen Beteiligten nur dann verloren gehen soll,
wenn der betreffende Verfahrensverstoß bei einer Parallelwertung in der
Laiensphäre erkennbar war; in den konkret entschiedenen Fällen hat der BFH
jeweils die Erkennbarkeit für einen Laien bejaht (vgl. BFH-Beschluss vom
01.12.2011 - I B 80/11, Rz 7). Denn dass in der
eingeschränkten Sichtbarkeit eines Beteiligten im Rahmen einer Videoverhandlung
ein Verfahrensmangel liegen könnte, ist für einen Laien nicht ohne weiteres
erkennbar.
4. Der
Senat hält es für sachgerecht, die Vorentscheidung gemäß § 116 Abs. 6
FGO aufzuheben und die Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und
Entscheidung zurückzuverweisen. Die weiteren Rügen der Klägerin sind danach
nicht mehr zu prüfen.
5. Von
einer weiteren Begründung wird nach § 116 Abs. 5 Satz 2 FGO
abgesehen.
6. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.
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