Samstag, 25. Februar 2023

Kostenfestsetzung gegen eigenen Mandanten (§ 11 RVG) und die (qualifizierte) Signatur

Der Rechtsanwalt begehrte gegen die von ihm im gerichtlichen Verfahren vertretene Partei die Festsetzung seiner Gebühren gem. § 11 RVG die Festsetzung seiner Gebühren. Dies wurde von der Rechtspflegerin abgelehnt.  Zu Recht, wie das OLG auf die dagegen von dem Rechtsanwalt eingelegte Beschwerde entschied.

 Voraussetzung der Festsetzung sei nach § 11 Abs. 2 S. 2 RVG die Fälligkeit der Gebühren. Dies setze nach § 8 Abs. 1 RVG die Erledigung der Angelegenheit voraus (was hier der Fall war), weiterhin gem. § 10 Abs. 1 S. 1 RVG eine vom Rechtsanwalt zu unterzeichnende und seinem Auftraggeber (Mandanten) überlassene Berechnung. Vorliegend monierte die Rechtspflegerin, dass es an der unterzeichneten Berechnung.

Normzweck des § 10 Abs. 1 S. 1 RVG sei, dass der Rechtsanwalt durch die Unterzeichnung die Verantwortung für die Richtigkeit in strafrechtlicher (§ 352 StGB), zivilrechtlicher und berufsrechtlicher Hinsicht  übernehme. Erforderlich sei damit die eigenhändige Unterschrift. Vorliegend aber befände sich die Berechnung lediglich in dem aus dem besonderen elektronischen Anwaltspostfach (beA) des Rechtsanwalts mit einfacher Signatur versehenen Schriftsatz im Festsetzungsverfahren.

Das entspräche zwar den prozessualen Anforderungen an die elektronische Einreichung von Schriftsätzen gem. § 130a ZPO. Nach § 130a Abs. 3 2. Alt. iVm. Abs. 4 Nr. 2 könne anstatt der Übermittlung des Dokuments mit einer qualifizierten elektronischen Signatur (die die persönliche Unterschrift ersetzt) auch dessen einfache Signatur durch die verantwortende Person auf einem sicheren Übermittlungsweg (wie dem beA) erfolgen. Allerdings beschränke sich dies auf die Abgabe prozessualer Erklärungen und berühre formliche Voraussetzungen für die Abgabe materiellrechtlicher Erklärungen nicht. § 126a Abs. 1 BGB bestimme, dass eine (hier) gesetzlich vorgeschriebene schriftliche Form durch die elektronische Form nur ersetzt werden könne, wenn das elektronische Dokument mit einer qualifizierten Signatur versehen würde.

Vorliegend läge nur eine einfache Signatur vor. Bei der einfachen Signatur handelt es sich um die maschinenschriftliche Wiedergabe des Namens unter dem Schriftsatz oder um eine eingescannte Unterschrift, was der Anforderung an das Unterschriftserfordernis des § 10 Abs. 1 S. 1 RVG weder nach § 125 Abs. 1 BGB noch nach § 126 Abs. 3m 126a Abs. 1 BGB genüge.

Auch aus der Rechtsprechung, die im Zusammenhang mit in Papierform eingereichten Schriftsätzen erging (heute müssen Schriftsätze dem Gericht elektronisch übersandt werden), ließe sich abweichendes nicht erkennen. Danach konnte die Berechnung auch erst mit einem Schriftsatz an das Gericht vorgenommen werden, der dann zugestellt wurde. Mit der Zustellung sei dann die Berechnung gegenüber dem Auftraggeber (Mandanten) erfolgt. Allerdings sei der Schriftsatz vom Rechtsanwalt unterschrieben und die zustellende Abschrift als beglaubigte Abschrift ebenfalls unterschrieben gewesen, weshalb dem Mandaten eine unterschriebene Berechnung zugegangen.  

Beides sei übertragen auf den elektronischen Verkehr vorliegend nicht der Fall gewesen. Die einfache Signatur habe den der materiellrechtlichen Form des § 126a BGB entsprochen. Kommt es hier zum Ausdruck in Papierform zur Weitersendung an den Auftraggeber, wird diesem ein sogen. Transfervermerk beigefügt, aus dem sich ergäbe, aus dem sich die Nichteinhaltung der Form des § 126a Abs. 1 BGB ergäbe. Damit würde bei Einreichung eines mit gültiger einfacher Signatur versehenen Schriftsatzes durch das Gericht an einen dritten Empfänger die elektronische Form im Verhältnis zwischen Absender und Empfänger nicht eingehalten.   

Vorliegend habe der Rechtsanwalt nicht von der Rechtspflegerin dargelegten Möglichkeit Gebrauch gemacht, jedenfalls im Beschwerdeverfahren die Berechnung in schriftlicher Form nachzureichen.

Anmerkung: Zahlt der Mandant nach einem Prozess die Gebühren seines Rechtsanwalts nicht, kann er die Festsetzung der Gebühren nach § 11 RVG beantragen. Häufig kommt es dann zu dem Einwand, es sei ihm nie eine ordnungsgemäße Rechnung zugegangen. Hatte der Rechtsanwalt die Berechnung in dem Schriftsatz, mit dem er die Festsetzung beantragte, aufgenommen, wurde dem Mandanten die vom Rechtsanwalt durch eigene Unterschrift beglaubigte Abschrift des Schriftsatzes zugestellt, weshalb er Einwand ins Leere lief.  Heute aber muss der Rechtsanwalt den Antrag elektronisch stellen. Der erste Fehler lag hier darin, dass er den Schriftsatz nicht qualifiziert signierte. Allerdings würde dies hier auch nicht  ausreichen, da der Schriftsatz ausgedruckt und damit ohne die persönliche Unterschrift (oder qualifizierter Signatur) dem Mandanten überlassen wird (vgl. AG Hamburg, Urteil vom 25.02.2022 - 48 C 304/21 -). Von daher sollte sichergestellt werden, dass der Nachweis der Überlassung der unterschriebenen Rechnung an den Mandanten und deren Zugang erbracht werden kann.

OLG Düsseldorf, Beschluss vom 27.10.2022 - 3 W 111/22 -

Freitag, 24. Februar 2023

Wohnungseigentum: Das Sondereigentum am Garten (zu § 3 Abs. 2 WEG n.F.)

Seit der letzten Reform des Wohnungseigentumsgesetzes (WEG) zum 01.12.2020 können freie Flächen als Sondereigentum bestimmt werden, § 3 Abs. 2 WEG:

„Das Sondereigentum kann auf einen außerhalb des Gebäudes liegenden Teil des Grundstücks erstreckt werden, es sei denn, die Wohnung oder die nicht zu Wohnzwecken dienenden Räume bleiben dadurch wirtschaftlich nicht die Hauptsache.“

Vorliegend wurde im Grundbuch gemäß der Teilungserklärung vom 10.08.2021 eine Gartenfläche als WE Nr. 1 als Sondereigentum (zusammen mit einer Wohnung) eingetragen. Gegen diese Eintragung hatte das Grundbuchamt am 21.05.2022 einen Amtswiderspruch eingetragen. Die Voraussetzungen nach § 3 WEG lägen nicht vor. Der Beschwerde der Beteiligten half das Grundbuchamt nicht ab und legte diese dem OLG zur Entscheidung vor. Dieses wies das Grundbuchamt an, auf die Beschwerde hin den Amtswiderspruch im Grundbuch zu löschen.

Ein Amtswiderspruch könne nur bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 53 Abs. 1 S. 1 GBO im Grundbuch eingetragen werden. Dies setze voraus, dass vom Grundbuchamt unter Verletzung einer gesetzlichen Vorschrift eine Eintragung im Grundbuch vorgenommen worden wäre, infolge der das Grundbuch unrichtig geworden wäre. Dies sei aber bei Wahrung der Gartenfläche als Sondereigentum WE 1 nicht der Fall gewesen. § 3 Abs. 2 WEG sähe vor, dass auch ein außerhalb des Gebäudes liegender Grundstücksteil (wie z.B. eine Gartenfläche) Sondereigentum sein könne, es sei denn, die Wohnung oder die Räume blieben dadurch wirtschaftlich nicht Hauptsache. Dafür, dass vorliegend Wohnung oder Räume ihre Hauptsacheeigenschaft verlieren würden, sei nichts ersichtlich. Zudem würde deren Hauptsacheeigenschaft - insbesondere wenn wie vorliegend eine Verbindung der Wohnung mit einem Garten erfolge - vermutet. Es müssten mithin konkrete Anhaltspunkte vorliegen, die eine entsprechende Prüfung veranlassen könnten, die werde vom Grundbuchamt aufgezeigt seien noch ersichtlich seien.

Dass Grundbuchamt hatte zudem darauf abgestellt, dass entgegen § 3 Abs. 3 WEG die für die Bestimmung des Grundstücksteils erforderlichen Maßabgaben dem Aufteilungsplan in der Teilungserklärung noch der Abgeschlossenheitsbescheinigung zu entnehmen seien. Die Abgeschlossenheitsbescheinigung habe im Original vorgelegen und in dem Aufteilungsplan sei die fragliche Außenfläche farblich als auch durch die notwendigen Maßangaben deutlich bestimmt.

OLG Rostock, Beschluss vom 24.10.2022 - 3 W 82/22 -

Mittwoch, 22. Februar 2023

In welchem Jahr ist die Umsatzsteuervorauszahlung als Betriebsausgabe zu berücksichtigen ?

Die Parteien stritten darum, in welchem Jahr eine Umsatzsteuervorauszahlung für Dezember 2015 als Betriebsausgabe zu berücksichtigen ist. Dabei hatte sie der Kläger (der seinen Gewinn nach der Einnahmen-Überschuss-Rechnung gem. § 4 Abs. 3 bestimmte) dem eine Dauerfristverlängerung erteilt war, demzufolge die Vorauszahlung erst am 10.02.2016 fällig war, die Ausgabe in der Gewinnermittlung im Jahr 2015 berücksichtigt. Dem folgte das Finanzamt (FA) nicht und erhöhte damit den Gewinn für 2015 um den entsprechenden Betrag. Das Finanzgericht gab ihm Recht. Auf die Revision des beklagten FA wurde das finanzgerichtlich Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Der BFH stellte in seiner Entscheidung auf die Dauerfristverlängerung ab, weshalb die Zahlung erst bei Abfluss im Jahr 2016 berücksichtigt werden könne. Eine abweichende Zuordnung der Ausgabe nach § 11 Abs. 2 S. 2 iVm. Abs. 1 S. 2 EStG sei nicht erfüllt, da die Zahlung für den Monat Dezember 2015 nicht innerhalb des für § 11 Ab. 2 S. 2 EStG maßgeblichen Zehn-Tages-Zeitraum fällig gewesen wäre.

Grundsätzlich gelte bei der Gewinnermittlung nach § 4 Abs. 3 EStG, dass die Ausgaben für das Jahr abzusetzen seien, in dem sie geleistet würden. Entscheidend sei damit, wenn der Steuerpflichtige die Verfügungsgewalt über die Mittel verliere, was hier im Januar 2016 mit der Überweisung der Fall gewesen sei. Die Umsatzsteuervorauszahlungen seien regelmäßig wiederkehrende Ausgaben iSv. § 11 Abs. 2 S. 2 EStG. Der Kläger habe zwar nur bis zur Zahlung am 06.01.2016 noch innerhalb des Zehn-Tages-Zeitraumes die Verfügungsmacht über den Betrag gehabt. Im Hinblick auf eine abweichende Zuordnung einer Zahlung zum Vorjahr sei erforderlich, dass die Zahlung kurze Zeit nach Beendigung des Kalenderjahres (zehn Tage), zu dem sie wirtschaftlich gehöre, geleistet werde und wenn sie innerhalb dieses Zeitraumes auch fällig würde (BFH, Urteil vom 16.02.2022 - X R 2/21 -). Da hier die Fälligkeit erst zum 10.02.2016 infolge der Dauerfristverlängerung eingetreten sei, wäre die Ausnahme nach § 11 Abs. 2 S. 2 EStG nicht gegeben. Eine andere Auslegung ergäbe sich auch nicht aus dem Normzweck der Norm, die auf eine Zufälligkeit abstelle, was bei regelmäßig wiederkehrenden Leistungen und  beantragter und erteilter Dauerfristverlängerung nicht der Fall sei; hier habe es der Steuerpflichtige in der Hand, ob er freiwillig früher leistet oder nicht.

 

BFH, Urteil vom 13.12.2022 - VII R 1/20 -

Dienstag, 21. Februar 2023

Elternschaft eines in Ehe zweier Frauen geborenem Kind

Die Frauen (Antragstellerinnen) sind seit dem 08.01.2020 verheiratet. Eine der Frauen ist die Mutter des mittels einer Samenspende seit 20 Jahren mit der Beteiligten zu 3. befreundeten D. gezeugten Kindes. Die Antragstellerinnen beantragten die Feststellung ihrer Elternschaft. Dieser Antrag wurde vom Amtsgericht zurückgewiesen. Das Kammergericht (KG) sah die dagegen eingelegte Beschwerde als unbegründet an.

Dabei verwies das KG darauf, dass die Ehefrau der ein Kind gebärenden Frau weder in direkter noch in entsprechender Anwendung des § 1592 Nr. 1 BGB Mit-Elternteil des Kindes würde. Dabei bezog sich das KG u.a. auf den Beschluss des BGH vom 10.10.2018 - XII ZB  231/18 -, in dem dieses festhielt, dass sich eine Elternstellung auch nicht in entsprechender Anwendung des § 1592 Nr. 1 BGB daraus ergäbe,  dass sie zum Zeitpunkt der Geburt des Kindes mit dessen Mutter verheiratet sei. Das deutsche Recht kenne nur die Zuordnung einer Mutter zum Kind und der Gesetzgeber habe andere Möglichkeiten der Mutter-Kind-Zuordnung (z.B. Leihmutterschaft) bewusst ausgeschlossen.

Das KG sah zwar darin eine unterschiedliche Behandlung von verschieden- und gleichgeschlechtlichen Ehepaaren, doch sei dies hier verfassungs- und koventionsrechtlich bedenkenfrei, insbesondere sei weder das Familiengrundrecht des Art. 6 Abs. 1 GG noch das Elterngrundrecht gem. Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG verletzt (BGH aaO.).

Nur wenn durch eine ärztlich unterstützte künstliche Befruchtung im Sinne von § 1600d Abs. 4 BGB (also völlig anonymer Samenspender) das Kind gezeugt und in der gleichgeschlechtlichen Ehe der Mutter geboren würde, könnten sowohl die Ehefrau der Mutter als auch das Kind durch die Regelung in § 1592 Nr. 1 BGB in deren Grundrecht aus Art. 3 GG (Gleichbehandlung) verletzt sein (KG, Beschluss vom 24.03.2021 - 3 UF 1122/20 -). Dies deshalb, da nach Auffassung des Senats nur in dieser Konstellation die biologischen Unterschiede zwischen Mann und Frau die der § 1592 Nr. 1 BGB gesetzgeberische Typisierung nicht mehr rechtfertige. Der Gesetzgeber habe nur bei der durch Einführung des § 1600d Abs. 4 BGB geschaffenen qualifizierten Samenspende von der Statuswahrheit (Vaterschaft kraft Ehe rechtfertige sich aus dem Gedanken, dass regelmäßig eine biologisch richtige Zuordnung begründet wird) abgesehen zugunsten einer „sozialen Elternschaft“, nicht aber für andere Fälle (wie hier einer privaten Samenspende durch einen bekannten Dritten). Damit würde im Falle der Anwendbarkeit des § 1600d Abs. 4 BGB von der Statuswahrheit des § 1592 Nr. 1 BGB auf die soziale Elternschaft abgestellt.

Kammergericht, Beschluss vom 26.07.2022 - 3 UF 30/21 -

Mittwoch, 15. Februar 2023

Richtgeschwindigkeitsüberschreitung begründet Berücksichtigung der Betriebsgefahr

Der Beklagte fuhr mit einer Geschwindigkeit von ca. 200 lm/h auf der linken Fahrspur der Autobahn. Auf der linken Fahrspur kollidierte die Klägerin mit ihrem Pkw, mit dem sie mit einer Geschwindigkeit zwischen ca. 120 - 140 km/h fuhr, mit dem Fahrzeug des Beklagten. Nach der Darlegung der Klägerin will sie von der rechten auf die linke Fahrspur gewechselt haben, um ein anders Fahrzeug zu überholen; vor der Kollision sei sie bereits Sekunden auf die linke Fahrspur aufgefahren gewesen. Demgegenüber wurde vom Beklagten behauptet, die Klägerin sei unmittelbar vor ihm auf die linke Fahrspur gewechselt.

Mit ihrer Klage auf Ersatz von 100% Schadensersatz drang die Klägerin nicht durch. Das Landgericht gab der Klage mit einer Quote von 10% statt und verwies darauf, sie habe die in verkehrsgefährdender Weise die Spur gewechselt und damit gegen § 7 Abs. 5 S. 1 StVO verstoßen. Im Berufungsverfahren verfolgte die Klägerin weiterhin ihr Ziel einer alleinigen Haftung des Beklagten. Der Erfolg der Klägerin war eher bescheiden: Das OLG ging von einer Haftung der Klägerin von 75%, des Beklagten von 25% aus.

Das OLG stellet zutreffend auf § 17 Abs. 1 StVG ab: Inwieweit wurde der Schaden vorwiegend von dem einen oder andern teil verursacht. Bei der Abwägung der Verursachungs- und Verschuldensanteile der Beteiligten dürften nur die von den Fahrzeugen ausgehende Betriebsgefahr nur unstreitige bzw. zugestandene oder nachgewiesene Umstände Berücksichtigung finden, wobei jeder beteiliget Fahrzeughalter die Umstände zu beweisen habe, die dem anderen zum Verschulden gereichen und aus denen er für die nach § 17 Abs.1, Abs. 2 StVG vorzunehmende Abwägung für sich günstige Rechtsfolgen herleiten will (allgemeine Meinung, vgl. auch BGH, Urteil vom 13.02.1996 - VI ZR 126/95 -).

Der Wertung des Landgerichts sei zu folgen, dass die Klägerin die die überwiegende Ursache für den Unfall gesetzt habe. Sie habe gegen § 7 Abs. 5 S. 1 StVO verstoßen, wonach ein Fahrstreifenwechsel nur erfolgen darf, wenn eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen sei. Käme es, wie hier, im unmittelbaren örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem Fahrspurwechsel zu einem Unfall, spreche gegen den Fahrspurwechsler der Beweis des ersten Anscheins, dass die gebotene besondere Sorgfaltsanforderung unbeachtet blieb.

Das OLG lässt erkennen, dass damit grundsätzlich die vom gegnerischen Fahrzeug (hier dem Pkw des Beklagten) ausgehende Betriebsgefahr angesichts des groben Verstoßes gegen § 7 Abs. 5 StVO zurücktreten könnte, was dann zur alleinigen Haftung der Klägerin führen würde. Allerdings nahm das OLG hier eine Abweichung in Ansehung der mit ca. 200 km/h über 130 km/h liegenden Geschwindigkeit an, was zur Berücksichtigung der vom Beklagtenfahrzeug ausgehenden Betriebsgefahr führe.

Nach § 1 der Verordnung über eine allgemeine Richtgeschwindigkeit auf Autobahnen und ähnlichen Straßen (Autobahn-Richtgeschwindigkeit-V) wird „empfohlen, auch bei günstigen Straßen-, Sicht- und Wetterverhältnissen“ auf den entsprechenden Straßen nicht schneller als 130 km/h zu fahren, soweit nicht anderweitige Höchstgeschwindigkeiten vorgegeben sind. Da, so das OLG, die höhere Geschwindigkeit in haftungsrelevanter Weise die Gefahr erhöhe, dass sich andere Verkehrsteilnehmer auf diese Fahrweise nicht einstellen würden und insbesondere die Geschwindigkeit unterschätzen würden, sei die deutlich über 130 km/h liegende Geschwindigkeit betriebsgefahrerhöhend zu berücksichtigen. Bei einer Überschreitung der Richtgeschwindigkeit um mehr als 30 km/h würde damit die Betriebsgefahr im Regelfall nicht mehr zurücktreten (so auch OLG Hamm, Urteil vom 25.11.2010 - 6 U 71/10 -).

Soweit hier das Landgericht insoweit eine Mithaftung des Beklagten aus dem Gesichtspunkt der Betriebsgefahr von 10% angenommen habe, habe es die deutliche Überschreitung der Richtgeschwindigkeit um 70 km/h nicht ausreichend berücksichtigt. Diese Überschreitung rechtfertige eine Mithaftung aus dem Gesichtspunkt der Betriebsgefahr von 25%.

Hinweis: Die Berücksichtigungsfähigkeit der Betriebsgefahr bei Überschreitung der Richtgeschwindigkeit hatte der BGH bereits in seinem Urteil vom 17.03.1992 - VI ZR 92/91 - bejaht und ausgeführt, auf eine Unabwendbarkeit des Unfalls nach § 17 Abs. 3 StVG könne sich in diesem Fall der Halter eines Fahrzeuges nur berufen, wenn er darlege und nachweisen würde, dass es auch bei einer Geschwindigkeit von 130 km/h zu dem Unfall mit vergleichbar schweren Folgen gekommen wäre.

Schleswig-Holsteinisches OLG, Urteil vom 15.11.2022 - 7 U 41/22 -

Sonntag, 12. Februar 2023

Bedarf der Widerruf einer Schenkung wegen groben Undanks einer Begründung ?

Der BGH hatte sich mit der Revision gegen eine Entscheidung des OLG Frankfurt zu befassen, die den Widerruf der mit notariell beurkundeten Übertragungen von Grundstücken in den Jahren 1993 und 1994 im Wege der vorweggenommenen Erbfolge an den Beklagten zum Inhalt hatte. Mit Schreiben vom 16.12.2011 widerrief die Übertragende die Schenkung wegen des Verhaltens des Beklagten in einem Verfahren vor dem LG Bonn und im Hinblick auf einen Erpressungsversuch des Beklagten. Der Beklagte wurde vom Landgericht antragsgemäß zur Herausgabe des (Mit-) Eigentums an den Grundstücken verurteilt. Auf die Berufung des Beklagten wies das OLG Frankfurt die Klage insoweit ab. Die zugelassene Revision führte zur Aufhebung des Urteils des OLG und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits, da das OLG nicht (ausreichend) geprüft habe, ob eine Schenkung und bejahendenfalls ein Widerrufsgrund vorläge.

Das Landgericht hatte seien Entscheidung damit begründet, der Übertragung müsste eine Schenkung iSv. 516 BGB zugrunde liegen und die (zwischenzeitlich verstorbene) Übertragende hätte diesen wegen groben Undanks  gem. § 530 Abs. 1 BGB widerrufen müssen. Allerdings läge jedenfalls kein Widerruf iSv. § 530 BGB vor, da die Widerrufserklärung vom 16.12.2012 wegen fehlender Angabe eines Widerrufsgrundes unwirksam gewesen sei. Zwar seien Angaben getätigt worden, die aber nicht erkennen ließen, welches Verhalten des Beklagten konkret beanstandet würde.

Der BGH verwies darauf, er habe bisher (BGH, Urteil vom 22.10.2019 - X ZR 48/17 -) nur dazu entschieden, dass § 531 Abs. 1 BGB keine umfassende rechtliche Begründung des Widerrufs erforderlich sei und es ausreichend sei, dass der dem Widerruf zugrunde liegende Sachverhalt nur so weit dargestellt würde, dass der Beschenkte ihn von anderen Geschehnissen unterscheiden und die Einhaltung der in § 532 BGB für den Widerruf vorgegebenen Jahresfrist beurteilen sowie im Umkehrschluss feststellen könne, welche gegebenenfalls andere Vorfälle der Schenker nicht zum Anlass des Widerrufs genommen habe. Ob es einer diesen Anforderungen genügenden Begründung allerdings bedürfe, habe der zur Entscheidung berufene Senat bisher entgegen einer in der Literatur vertretenen Ansicht offengelassen, da sie bei der Entscheidung vom 22.10.2019 nicht von Relevanz gewesen sei.

Nunmehr aber postulierte sich der BGH eindeutig und erklärte, dass es für den Widerruf einer Schenkung wegen groben Undanks keiner Begründung bedarf. Damit reicht mithin die Erklärung aus, dass die Schenkung wegen groben Undanks widerrufen wird.

Zwar würde in der obergerichtlichen Rechtsprechung von Oberlandesgerichten und dem überwiegendem Teil der Literatur die Mitteilung des Widerrufsgrundes (so wie vorliegend das OLG Frankfurt) für erforderlich gehalten, und zwar im Hinblick auf die Prüfung der Jahresfrist (§ 532 BGB) und eines  Widerrufsgrundes (§ 532 BGB). Ein teil der Literatur sei unter Bezugnahme auf den Wortlaut des Gesetzes der Ansicht, der Mitteilug des Widerrufsgrundes bedürfe es nicht; dieser Auffassung folgte der BGH.

Dabei verwies der BGH auf dem Wortlaut der Norm, die keine Mitteilung des Widerrufsgrundes in der Widerrufserklärung vorsehe. Aber auch aus dem Sinn und Zweck des § 531 Abs. 1 BGB sowie der §§ 530 und 532 BGB könne eine entsprechende Mitteilung des Widerrufsgrundes in der Widerrufserklärung nicht abgeleitet werden.

Zwar könne der Beschenkte in Ansehung der Folgen des Widerrufs ein schutzwürdiges Interesse daran haben, den Widerrufsgrund zwecks hinreichender Prüfung zu erfahren. Allerdings sei der Beschenkte nicht schutzlos gestellt. Die materielle Wirksamkeit eines Widerrufs sei an enge objektive und subjektive Voraussetzungen geknüpft und das Rückgabeverlangen könne im gerichtlichen Verfahren nur Erfolg haben, wenn in diesem gerichtlichen Verfahren (!) der Schenker (bzw. hier sein Rechtsnachfolger) die Voraussetzungen des groben Undanks darlege und beweise.

Es würde im Widerspruch zu diesem Regelungskonzept stehen, zusätzlichen Schutz durch ein formelles Begründungserfordernis zu gewähren, obwohl das Gesetz ein solches nicht vorsehen würde.

Dieses Ergebnis würde auch einem systematischen Vergleich mit den Voraussetzungen für die fristlose Kündigung eines Dienstvertrages aus wichtigen Grund (§ 626 BGB) entsprechen. Auch eine solche Kündigung würde das Vorliegen eines wichtigen Grundes als auch die Einhaltung einer (im Vergleich zu § 532 BGB deutlich kürzeren) Erklärungsfrist verlangen. Dort sei in § 626 Abs. 2 S. 3 BGB (anders als bei dem Schenkungswiderruf wegen groben Undanks) normiert, dass der Kündigende dem Gekündigten auf dessen Verlangen den Kündigungsgrund unverzüglich schriftlich mitzuteilen habe; die Wirksamkeit der Kündigung hänge aber nicht davon ab, dass der Kündigende dem auch nachkomme. Vielmehr sei auch hier entscheidend, ob ein wichtiger Grund vorliegt und die Erklärungsfrist eingehalten wurde (BAG, Urteil vom 17.08.1972 - 2 AZR 415/17 -). Für den Widerruf einer Schenkung wegen groben Undanks, bei dem das Gesetz sogar keinerlei Begründung (also weder zusammen mit dem Widerruf noch auf Verlangen danach) vorsehe, könne nichts anderes gelten.

Anmerkung: Diese deutliche Entscheidung des BGH ist zu begrüßen, führte doch die Entscheidung aus 2019 zu der Irritation, es sei eine Begründung erforderlich. Die Begründung für den Widerruf wegen groben Undanks ist im Gesetz nicht vorgesehen.  Im Rahmen des § 626 BGB wird allgemein anerkannt, dass sie - da nicht im Gesetz normiert - auch nicht erfolgen muss; obwohl im Rahmen des § 626 BGB der Gekündigte nachträglich eine Begründung fordern kann, wird nach der Rechtsprechung des BAG diese Unterlassen des Kündigenden (zutreffend) nicht dahingehend sanktioniert, dass deshalb die Kündigung unwirksam wird. Umgekehrt ist in anderen Normen (so zur ordentlichen Kündigung  im Mietrecht in § 573 Abs. 3 BGB) explizit eine Begründung gefordert, deren Fehlen zur Unwirksamkeit der Kündigung führt (vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 31.03.1992 - 1 BvR 1492/91 -). Nähme man einen Begründungszwangs bei der Widerrufserklärung an, würde durch die Rechtsprechung ein formales Tatbestandsmerkmal geschaffen, welches der Gesetzgeber nicht vorgesehen hat und damit das Gericht letztlich zu einen Ersatzgesetzgeber, was der Gewaltenteilung widerspräche.

BGH, Urteil vom 11.10.2022 - X ZR 42/20 -

Freitag, 10. Februar 2023

Vollziehbare bauaufsichtliche Verfügungen zum Gemeinschaftseigentum und Beschlussfassung nach § 19 Abs. 1 WEG

Das im gemeinschaftlichen Eigentum der antragstellenden Wohnungseigentümergemeinschaft stehende 12-stöckige Hochhaus hatte eine Fassade mit brennbaren Holzwolleleichtbauplatten. Die Baubehörde hatte mit einer an die Wohnungseigentümergemeinschaft  gerichteten bauaufsichtlichen Verfügung vom 08.07.2019 dieser unter Anordnung des Sofortvollzugs aufgegeben, die brennbare Fassadenbekleidung zu entfernen. Dem kam die Wohnungseigentümergemeinschaft innerhalb der Ausführungsfristen seit Sommer 2021 nicht nach; die Eigentümergemeinschaft fasste zwar entsprechende Beschlüsse, die allerdings das AG Wennigsen mit Urteil vom 05.07.2022 für unwirksam erklärte. Daraufhin drohte die Baubehörde (Antragsgegnerin) ein Zwangsgeld an und setzte dieses mit € 100.000,00 nach Ablauf der Frist unter gleichzeitiger erneuter Androhung eines weiteren Zwangsgeldes von € 200.000,00 fest. Gegen diese Verfügung legte die Wohnungseigentümergemeinschaft Widerspruch ein und beantragte vorläufigen Rechtsschutz, den das Verwaltungsgericht versagte. Die dagegen eingelegte Beschwerde wies das OVG Lüneburg zurück.

Ein Vollstreckungshindernis nach dem Niedersächsischen Polizei- und Ordnungsbehördengesetz (NPOG) läge nicht vor. Ein solches Hindernis iSv. §§ 64 Abs. 1, 65 Abs. 1 Nr. 2, § 67 NPOG läge u.a. dann vor, wenn der Vollstreckungsschuldner (hier die Wohnungseigentümergemeinschaft) einer ihm obliegenden Pflicht nicht nachkommen könne, ohne in die Rechte Dritter (Miteigentümer oder sonstige Nebenberechtigte) einzugreifen, da in diesem Fall gegen den Dritten mit Beginn der Vollstreckungsmaßnahme eine Duldungsverfügung gegen den Dritten ergehen müsste.

Verstoße eine in Wohnungseigentum aufgeteilte bauliche Anlage hinsichtlich der im gemeinschaftlichen Eigentum stehenden Gebäudeteile (§ 1 Abs. 5 WEG), so die Fassade, gegen öffentliches Baurecht, sei der richtige Adressat der bauaufsichtlichen Verfügung gem. § 85 Abs. 2 NBauO die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer. Dies begründe sich daraus, dass diese die sich aus dem gemeinschaftlichen Eigentum ergebenden Rechte ausübe und die entsprechenden Pflichten der Wohnungseigentümer wahrnehme, § 9a Abs. 2 WEG (§ 10 Abs. 6 S. 3 WEG in der bis 30.11.2020 geltenden Fassung). Die einzelnen Wohnungseigentümer seien von der Verwaltung ausgeschlossen, § 18 Abs. 1 WEG. Damit sei auch die Vollstreckung gegenüber der Gemeinschaft vorzunehmen.

Es bedürfe auch gegenüber den einzelnen Wohnungseigentümern keiner Duldungsverfügung, da diese von der Verwaltung ausgeschlossen seien und sich ihre Rechte in Bezug auf das gemeinschaftliche Eigentum auf die Mitwirkung an entsprechenden Beschlussfassungen im Innenverhältnis beschränken würden, § 19 Abs. 1 WEG. Ihnen würden keine Rechte zustehen, mittels der sie die Gemeinschaft an der Befolgung einer wirksamen und vollziehbaren bauaufsichtlichen Verfügung hindern könnten.

Zwar sei der Einwand der Antragstellerin grundsätzlich zutreffend, dass die Verwaltungsbefugnis im Innenverhältnis gegenüber den einzelnen Wohnungseigentümern beschränkt sei und jeder Wohnungseigentümer nach § 18 Abs. 2 WEG eine ordnungsgemäße Verwaltung im Rahmen der bestehenden Beschlüsse der Gemeinschaft verlangen und gerichtlich durchsetzen könne. Allerdings stehe aufgrund der wirksamen und vollziehbaren und damit zwingend zu befolgenden bauaufsichtlichen Anordnung für die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer verbindlich auch ohne eine Beschlussfassung, sogar entgegen einer Beschlussfassung der Wohnungseigentümer fest, dass ein Handeln entsprechend der Verfügung geboten sei. Damit folge die Handlungspflicht unmittelbar aus der bauaufsichtlichen Verfügung und überwinde selbst entgegenstehende interne Willensbildungen der Wohnungseigentümer(OVG des Saarlandes, Beschluss vom 17.08.2022 - 2 B 104/22 -).

OVG Lüneburg, Beschluss vom 16.11.2022 - 1 ME 106/22 -

Montag, 6. Februar 2023

Verjährungsbeginn: Pflichtverletzung durch fehlerhafte Rechtsanwendung

Der Kläger machte gegen die Beklagte, einem Finanzdienstleistungsunternehmen, Schadensersatzansprüche mit der Behauptung fehlerhafter Anlagenberatung geltend. Diese verwies auf eine Anlage bei der B.-Stiftung, mit der der Kläger dann 2014 Kauf- und Lieferverträge abschloss. Nach dem Verkaufsprospekt sollten die Kunden Goldbarren mit einer Reinheit von 99,9% erwerben. In 2015 wurde ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet, in dessen Rahmen die Geschäftsräume der B.-Stiftung durchsucht wurden, festgestellt wurde, dass von den Anlegergeldern in Höhe von € 57 Mio. nur Golf im Wert von € 10,58 Mio. erworben wurde, im Übrigen gelagertes Gold Falschgold gewesen wäre. Der Verblieb des Geldes blieb im Wesentlichen ungeklärt. Am 17.06.2015 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen der B.-Stiftung eröffnet. Der Kläger erfuhr davon und beauftragte einen Rechtsanwalt. Die Beklagte habe, so der Kläger, behauptet, die Investitionen des Klägers seien insolvenzfest, was rechtlich unzutreffend war.  

Am 13.11.2019 wurde seine Klage der Beklagten zugestellt, mit der er Schadensersatzansprüche mit der Begründung geltend machte, die Beklagte habe ihre Pflichten aus der Anlageberatung schuldhaft verletzt. Die Beklagte erhob die Einrede der Verjährung. Das Landgericht gab der Klage statt. Auf die Berufung der Beklagten hin hob das Oberlandesgericht (OLG) dessen Urteil auf und wies die Klage, unter Verweis auf die nach seiner Ansicht eingetretene Verjährung, ab. Auf die zugelassene Revision des Klägers hob der BGH das Urteil des OLG auf und verwies den Rechtsstreit an dieses zurück.

Der BGH ging, wie zutreffend auch das OLG davon aus, dass die regelmäßige dreijährige Verjährungsfrist (§ 195 BGB) mangels anderweitiger Bestimmungen, mit dem Schluss des Jahres beginne, in dem der Anspruch entstand und der Gläubiger sowohl von den anspruchsbegründenden Umständen wie auch von der Person des Schuldners Kenntnis erlangt oder ohne grobe Fahrlässigkeit hätte erlangen müssen (§ 199 Abs. 1 BGB). Ausreichend sei, dass der Gläubiger um die anspruchsbegründenden Umstände weiß und nicht, dass er den Vorgang rechtlich zutreffend beurteilt. Allerdings könne es auch ausnahmsweise auf die zutreffende rechtliche Würdigung ankommen, was auch das OLG erkannt habe, sich aber mit den Voraussetzungen für die Annahme einer solchen Ausnahmesituation nicht befasst habe.

Läge der für den Schadensersatzanspruch erforderliche haftungsauslösende Fehler in einer falschen Rechtsanwendung des Schuldners (hier der Beklagten), könne die Kenntnis dieser Rechtsanwendung als solcher nicht ausreichen. Vielmehr müsste der Geschädigte (hier Kläger) Kenntnis oder grob fahrlässig Unkenntnis davon haben, dass die Rechtsanwendung fehlerhaft ist (BGH, Urteil vom 07.03.2019 - III ZR 117/18 - u.a.). Die Kenntnis alleine der tatsächlichen Umstände vermöge für den Laien noch keine Kenntnis der Pflichtwidrigkeit der Handlung vermitteln. Die Angabe der Beklagten über eine „Insolvenzfestigkeit der Investitionen“ des Klägers sei rechtlich unzutreffend gewesen, was aber dazu führen würde, dass beim Kläger von einer Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis der anspruchsbegründenden Tatsachen erst ab dem Zeitpunkt ausgegangen werden könne, dass die (vom Kläger behauptete Angabe rechtlich unzutreffend ist, was vom OLG übersehen worden sei.

Alleine der Umstand, dass der Insolvenzverwalter hinsichtlich der Aussonderung des erworbenen Goldes eine andere Rechtsansicht vertrat als die Beklagte, genüge für die Annahme einer groben Fahrlässigkeit nicht, da der Anleger bei seiner Entscheidung die besonderen Erfahrungen und Kenntnisse eines Anlageberaters oder -vermittlers in Anspruch nehme, dessen Ratschlägen, Auskünften und Mitteilungen er besonderes Gewicht beimessen würde. In der Regel stelle es daher kein grobes Verschulden gegen sich selbst dar,  wenn er „ohne dringenden Anlass“ davon absehe, dessen Angaben z.B. durch Lektüre des Emissionsprospektes zu überprüfen. Das Unterlassen einer Kontrolle des Beraters durch den Anleger weise auf ein Vertrauensverhältnis hin und sei nicht schlechthin unverständlich oder unentschuldbar im Sinne grober Fahrlässigkeit gem. § 199 Abs. 1 Nr.2  BGB; dies gelte auch für beschwichtigende Äußerungen des Beraters nach Zeichnung der Anlage (BGH, Urteil vom 07.07.2011 - III ZR 90/10 -). Hinzu käme, dass die den Kläger beratende Rechtsanwaltskanzlei noch im Jahr 2015 ebenfalls zu dem Ergebnis gelangt sei, eine Klage gegen den Insolvenzverwalter auf Aussonderung des Goldes sei erfolgreich (Anm.: Auf eine dem Kläger als Mandanten zuzurechnende fehlerhaften Rechtsberatung geht der BGH nicht ein). Solange der Kläger von einer Insolvenzfestigkeit in Übereinstimmung mit dem mandatierten Anwalt und der Beklagten ausgehen durfte, läge daher keine grobe Fahrlässigkeit vor. Es spräche vieles dafür, dass die Verjährung erst in 2016 zu laufen begonnen habe, weshalb sie bei Klageerhebung in 2019 noch nicht eingetreten gewesen sei.

BGH, Urteil vom 20.10.2022 - III ZR 88/21 -

Freitag, 3. Februar 2023

Die sittenwidrig vom Zuwendungsempfänger bewirkte Schenkung an sich

Der 1922 geborene Kläger schenkte mit notariellen Vertrag vom 133.06.2017 den Beklagten Wertpapiere in einem Wert von € 219.000,00. Weiterhin übertrag er dem Vater der Beklagten, seinem Sohn, das Eigentum an einem Mehrfamilienhaus. Mit Schreiben vom 15.08.2017 erklärte der Kläger im Hinblick auf die Schenkung an die Beklagten die Anfechtung des (noch nicht vollzogenen) Schenkungsvertrages und erhob im Anschluss Anfechtungslage, die vom Landgericht abgewiesen wurde. Die Berufung des Klägers wurde vom Oberlandesgericht (OLG) zurückgewiesen. De BGH hatte auf die zugelassene Revision das Urteil des OLG aufgehoben und den Rechtsstreit an das OLG zurückverwiesen.

Kernpunkte der Auseinandersetzung waren, ob (1) der Schenkungsvertrag aufgrund der Anfechtung nichtig war, was der Fall gewesen wäre, wenn die Beklagten dem Kläger ein Übel in Aussicht gestellt hätten, um ihn zur Schenkung zu veranlassen, und (2) ob der Vertrag wegen Ausnutzung einer erheblichen Willensschwäche des Klägers nichtig war. Beides wurde vom OLG verneint.

(1) Der BGH schloss sich dem OLG in dessen Würdigung an, dass die Voraussetzungen für eine Anfechtung der Schenkung nicht vorlagen. Es sei dem Vortrag des Klägers nicht zu entnehmen, dass die Beklagten oder deren Vater den Kläger durch Drohung mit einem empfindlichen Übel (§ 123 Abs. 1 BGB) zum Abschluss der Schenkungsverträge veranlassten.

(2) Allerdings sei eine Nichtigkeit wegen Sittenwidrigkeit aufgrund der Feststellungen des OLG entgegen dessen Rechtsauffassung nicht zu verneinen.

Sittenwidrig sei ein Rechtsgeschäft, wenn es nach seinem Inhalt oder Gesamtcharakter gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstoße. Würde es nicht bereits seinem Inhalt nach gegen die grundlegenden Wertungen der Rechts- oder Sittenordnung verstoßen, müsse ein persönliches Verhalten des Handelnden hinzukommen, das diesem zum Vorwurf gemacht werden könne (BGH, Urteil vom 16.07.2019 - II ZR 426/17 -). Dabei sei der dem Inhalt, Zweck und Beweggrund zu entnehmende Gesamtcharakter des Verhaltens maßgeblich (BGH, Urteil vom 04.06.2013 - VI ZR 288/12 -). Die Sittenwidrigkeit könne sich je nach Einzelfall aus einem dieser Elemente oder aus einer Kombination und deren Summenwirkung ergeben (BGH, Urteil vom 26.04.2022 - X ZR 3/20 -).  

Bei einem unentgeltlichen Geschäft gem. § 138 Abs. 1 BGB könne sich die Sittenwidrigkeit nicht nur aus den Motiven des Zuwendenden ergeben, sondern auch und sogar in erster Linie aus den Motiven des Zuwendungsempfängers. Das sei beispielhaft der Fall, bei dem aus fremder Bedrängnis in sittenwidriger Weise Vorteile gezogen würden. Von Bedeutung könne dabei sein, ob der der Schenker den Wünsche des Beschenkten aufgrund seiner Persönlichkeitsstruktur nicht oder kaum habe entziehen können, ob dies der Beschenkte wusste oder sich einer derartigen Erkenntnis leichtfertig verschloss und er die fehlende oder geschwächte Widerstandskraft des Schenkers eigennützig ausnutzte oder es sogar darauf anlegte (BGH, Urteil vom 04.07.1990 - IV ZR 121/89 -). Es würde sich um Gesichtspunkte handeln, die auch die (bloße) Anfechtbarkeit nach § 123 Abs. 1 BGB überlagern würden, da nicht die Drohung mit einem Übel im Vordergrund stünde, sondern die Ausnutzung einer vorhandenen Zwangslage im Vordergrund stünde oder hinzutreten würde.

Befände sich der Schenker in einer objektiven und subjektiven Zwangslage, könne der Vorwurf der Sittenwidrigkeit nicht nur denjenigen treffen, der diese Zwangslage herbeigeführt habe; ausreichend sei, wenn der Zuwendungsempfänger sich eine bestehende Zwangslage bewusst nutzbar mache. Das sei auch dann der Fall, wenn der Vertrag vom Zuwendungsempfänger in der Kenntnis abgeschlossen wird, dass der Schenker sich in einer Zwangslage befindet. Das Wissen einer mit den Vertragsverhandlungen und Vertragsabschluss beauftragten Person müsse sich der Zuwendungsempfänger im Rahmen des § 138 Abs. 1 BGB entsprechend § 166 Abs. 1 BGB zurechnen lassen (BGH, Urteil vom 08.11.1991 - V ZR 260/90 -).

Dies zugrunde gelegt habe das OLG die vom Kläger vorgetragenen Gesichtspunkte nicht vollständig berücksichtigt.

Nicht berücksichtigt habe das OLG den Vortrag, der Vater der Beklagten habe den Kläger am Abend vor der Beurkundung des Schenkungsvertrages über längere Zeit hinweg „bearbeitet“ und am nächsten Morgen in Begleitung der Beklagten zum Notar gefahren, wo er erstmals den Inhalt der abzuschließenden Verträge erfahren habe. In diesem Zusammenhang sei der Vortrag beachtlich gewesen, der Beklagte zu 1. und  sein Vaterhätten den Kläger über mehrere Monate intensiv überwacht und weitgehend isoliert. Es sei möglich, dass der Kläger den Schenkungsvertrag zugunsten der Beklagten abgeschlossen habe, um der von ihm als Überwachung und Isolation empfundenen Situation, die im Hinblick auf den vermeintlichen Entscheidungszwang in dem nicht zuvor angekündigten Notartermin seien Zuspitzung gefunden habe, zu entkommen.

Als Indiz könne auch das vom Kläger behauptete Geschehen nach der notariellen Beurkundung Bedeutung haben. Zwar seien grundsätzlich für die Beurteilung der Sittenwidrigkeit von Relevanz, die zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses vorgelegen haben (BGH, Urteil vom 30.07.2020 - VI ZR 5/20 -), können aber danach liegende Umstände gleichwohl indizielle Bedeutung gewinnen.

Eine solche Indizwirkung könne dem klägerischen Vortrag zukommen, ein Mitarbeiter der Bank, bei der der Kläger sein Wertpapierdepot hatte, soll den von den Beklagten angestrebten Vollzug der Übertragung verhindert haben. Das könne darauf hindeuten, dass der Kläger dem Schenkungsvertrag nur abschloss, da er die Situation im Notartermin als besonders bedrängend empfand und anders als bei dem nachfolgenden Banktermin keinen Ausweg aus einer subjektiv empfunden Zwangslage gesehen habe.

Das OLG hätte sich mit diesem Vortrag im Zusammenhang befassen müssen und auf dieser Grundlage in tatrichterlicher Würdigung entscheiden müssen, ob die Schenkungsverträge mit den Beklagten auf einer vom Kläger als bedrohlich empfundenen Zwangslage beruhten und ob die Beklagten dies wussten oder sich entsprechende Kenntnisse des Vaters zurechnen lassen müssten. Auch hätte sich das OLG mit der Frage befassen müssen, ob der Kläger aufgrund seines hohen Alters die Situation als besonders belastend empfand.

BGH, Urteil vom 15.11.2022 - X ZR 40/20 -