Dienstag, 21. Juni 2022

Crash bei Ausparken und Fahrspurwechsel - wer haftet ?

Der Transporter Opel Vivaro der Klägerin stand in einer längs zur Fahrbahn angeordneten Parkbucht auf der rechten Seite der in Fahrtrichtung zweispurig verlaufenden Straße in Düsseldorf. Die Beklagte vollzog mit ihrem Pkw einen Fahrspurwechsel vom linken auf den rechten Fahrstreifen und hatte diesen auch schon zur Hälfte beendet, als sie mit dem Transporter der Klägerin, die gerade ausparkte, kollidierte. Der Transporter befand sich zum Kollisionszeitpunkt mit der linken Front auf dem rechten Fahrtstreifen und fuhr vorwärts.

 Das Amtsgericht hatte auf der Basis einer hälftigen Haftungsquotelung der Klage stattgegeben.  Dies wurde vom Landgericht (Berufungsgericht) auf die Berufung der Beklagten bestätigt. Der BGH hob auf die zugelassene Revision hin das Urteil auf und verwies den Rechtsstreit an das Landgericht zurück.

Vorab verwies der BGH darauf, dass die Entscheidung über die Haftungsverteilung im Rahmen des § 17 StVG (wie auch im Rahmen des Mitverschuldens nach § 254 BGB) Sache des Tatrichters sei und im Rahmen der Revision nur darauf überprüft werden könne, ob alle in Betracht kommenden Umstände vollständig und richtig berücksichtigt und der Abwägung rechtlich zulässige Erwägungen zugrunde gelegt worden seien. Dies sah der BGH vorliegend als nicht gegeben an.

Richtig habe zwar das Landgericht ein schuldhaftes Verhalten der Klägerin in deren Verstoß gegen § 10 S. 1 StVO gesehen. Danach müsse sich derjenige, der von einem anderen Straßenteil (hier die Parkbucht) auf die Fahrbahn einfährt, so verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen sei; die auf der Straße fahrenden Fahrzeuge hätten gegenüber dem auf diese einfahrenden Verkehr Vorrang. Auf diesen Vorrang dürfte die auf der Straße fahrenden Verkehrsteilnehmer (mithin der fließende Verkehr) vertrauen, wobei der Vorrang für die gesamte Fahrbahn gelte.  Nur unter Beachtung dieses Umstandes dürfe der Einfahrende einfahren und könne nicht darauf vertrauen, dass die rechte Fahrspur frei bleibe; er müsse stets mit einem Fahrspurwechsel rechnen. Vor diesem Hintergrund habe die Klägerin habe die Klägerin, nachdem das Beklagtenfahrzeug für sie sichtbar wurde, was unterblieben sei.

Rechtsfehlerhaft sei allerdings die Annahme eines Verstoßes der Beklagten gegen § 7 Abs. 5 S. 1 StVO. Danach dürfe ein Fahrstreifenwechsel nur vorgenommen werden, wenn eine Gefährdung „anderer Verkehrsteilnehmer“ ausgeschlossen sei. Zwar sei grundsätzlich „anderer Verkehrsteilnehmer“ jede Person, die sich selbst verkehrserheblich verhalte, also körperlich und unmittelbar auf den Ablauf eines Verkehrsvorgangs einwirke. Im Rahmen des § 7 Abs. 5 S. 1 StVO sei aber „anderer Verkehrsteilnehmer“ nur ein Teilnehmer am fließenden Verkehr, mithin nicht derjenige, der vom Fahrbahnrand in den fließenden Verkehr einfahre.  Dies ergäbe sich zwar nicht aus dem Wortlaut, aber aus der Entstehungsgeschichte der Norm, ihrer systematischen Stellung und ihrem Sinn und Zweck. So würde es in der Begründung zur Norm des § 7 vom 16.11.1970 (VkBl 1970, 735, 805) heißen, die Norm betreffe lediglich, wie sich aus der Überschrift ergeben, lediglich den Fahrverkehr. Vom Schutz der An- und  Einfahrenden sei dort keine Rede.  

Auch die systematische Stellung des Absatzes 5 nach § 7 Abs. 1 bis 4 belege den eingeschränkten Schutzzweck von § 7 Abs. 5 S. 1 StVO. Bei § 7 StVO handele es sich um eine Ausnahmevorschrift vom Rechtsfahrgebot des § 2 Abs. 2 StVO. § 7 Aabs. 1 bis 4 SVO enthalte Regelungen für das Befahren von Fahrbahnen mit mehreren Fahrstreifen für eine Richtung, weshalb mit den Wörtern „in allen Fällen“ in § 7 Abs. 5 S. 1 StVO auf die in § 7 Abs. 1 bis 4 dargestellte Situation des Fahrstreifenwechsel Bezug genommen würde.  Die Ausnahme vom Rechtfahrgebot in § 2 Abs. 2, welches dem Schutz des fließenden Verkehrs diene, sei erfolgt, um den Mehrreihenverkehr von Fahrzeugen zu ermöglichen (Begründung der Norm aaO.).

Müsste daher der fließende Verkehr dieselben höchsten Sorgfaltsanforderungen gegenüber allen Verkehrsteilnehmern wie der Einfahrende wahren, stünden sich gleichartige Sorgfaltsanforderungen gegenüber, die mir dem sich aus § 10 StVO ergebenden Vorrang des fließenden Verkehrs nicht zu vereinbaren wären. Der Vorrang des fließenden Verkehrs würde gerade würde gerade mit den besonders hohen Sorgfaltsanforderungen des Einfahrenden begründet (z.B. Begründung zu § 10 StVO in VkBl 1988, 210, 221).

An einer Entscheidung in der Sache sah sich der BGH gehindert, da sich das Landgericht - folgerichtig nach seiner Rechtsauffassung - nicht geprüft habe, ob die Beklagte schuldhaft gegen § 1 Abs. 2 StVO verstoßen hat. Das Rücksichtnahmegebot aus § 1 StVO gelte auch hier und eine mäßige Behinderung sei hinzunehmen (BGH, Beschluss vom 06.12.2978 - 4 StR 130/78 -). Würden sich für den fließenden Verkehr keine Anzeichen für eine Verletzung seines Vorrangs ergeben, dürfe er darauf vertrauen, dass der Einfahrende sein Vorrecht beachte. Dieses Recht käme auch dem Fahrspurwechsler zugute. Die Weiterfahrt dürfe aber nicht erzwungen werden (§ 11 Abs. 3 StVO), so dass gegebenenfalls durch Verlangsamung die Ein- und Anfahrt erleichtert werden müsse, da ansonsten im Stadtverkehr jedes Ein- oder Anfahren zum Erliegen käme. Die Feststellung des Landgerichts als Berufungsgericht zu einer von ihm angenommenen Verletzung des § 7 Abs. 5 S. 1 StVO (die nach o.g. Darlegung des BGH nicht vorlag) reiche nicht aus, auch eine schuldhafte Verletzung des § 1 Abs. 2 StVO zu bejahen.  Es sei lediglich festgestellt worden, dass die Beklagte zu 1. Den Fahrstreifenwechsel schon zu mehr als die Hälfte vollzogen habe, als es zum Zusammenstoß gekommen sei. Feststellungen dazu, ob die Beklagte zu 1. Den Ausparkvorgang hätte erkennen können und noch vom Fahrstreifenwechsel hätte Abstand nehmen oder diesen unterbrechen können, um einen Zusammenstoß zu verhindern, würden fehlen.

BGH, Urteil vom 08.03.2022 - VI ZR 1308/20 -


Aus den Gründen:

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil der 22. Zivilkammer des Landgerichts Düsseldorf vom 2. November 2020 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als zum Nachteil der Beklagten erkannt worden ist.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand

Die Parteien streiten um Schadensersatz nach einem Verkehrsunfall.

Die Klägerin ist Halterin eines Transporters Opel Vivaro, der am 25. September 2018 in einer längs zur Fahrbahn angeordneten Parkbucht auf der rechten Seite der in Fahrtrichtung zweispurigen D. Straße in Düsseldorf abgestellt war. Die Beklagte zu 1 hatte mit ihrem bei der Beklagten zu 2 haftpflichtversicherten Pkw einen Wechsel vom linken auf den rechten Fahrstreifen zu mehr als der Hälfte vollzogen, als sie mit dem ausparkenden Fahrzeug der Klägerin zusammenstieß. Das Klägerfahrzeug ragte zum Zeitpunkt der Kollision mit der linken Front in den rechten Fahrstreifen der D. Straße hinein und bewegte sich nach vorne.

Das Amtsgericht hat der auf Zahlung der gesamten Reparaturkosten für das Klägerfahrzeug, von Gutachterkosten und einer Kostenpauschale gerichteten Klage auf der Grundlage einer Haftungsquote von 50 % teilweise stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landgericht die Haftungsquote bestätigt, lediglich die zu erstattenden Reparaturkosten in geringem Umfang der Höhe nach ermäßigt und die Berufung im Übrigen zurückgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgen die Beklagten ihren Klageabweisungsantrag weiter.

Entscheidungsgründe

I.

Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt:

Die Klägerin habe gegen die Beklagten als Gesamtschuldner einen Schadensersatzanspruch gemäß § 7 Abs. 1 StVG i.V.m. § 115 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VVG. Es sei von einer hälftigen Schadensteilung auszugehen, da auf Seiten der Klägerin ein Verstoß gegen § 10 Satz 1 StVO und auf Seiten der Beklagten ein Verstoß gegen § 7 Abs. 5 StVO bei gleichwertiger Betriebsgefahr vorliege.

Zwar spreche der Anschein dafür, dass der vom Straßenrand Anfahrende die besonderen Sorgfaltsanforderungen des § 10 Satz 1 StVO missachtet habe, wenn es in unmittelbarem zeitlichem und räumlichem Zusammenhang mit dem Anfahren zu einer Kollision mit dem rückwärtigen fließenden Verkehr komme. Dieser Anscheinsbeweis gelte nach der bisher herrschenden Meinung auch gegenüber einem Fahrstreifenwechsler im fließenden Verkehr, da § 7 Abs. 5 StVO nach dieser Ansicht allein den fließenden Verkehr schütze. Gelinge es dem Anfahrenden nicht, diesen Anscheinsbeweis zu erschüttern, hafte er nach bislang herrschender Meinung allein für den Unfall. Die Betriebsgefahr des Unfallgegners aus dem fließenden Verkehr trete vollständig zurück, es sei denn, dieser sei erwiesenermaßen mit erhöhter Geschwindigkeit gefahren oder sonst unaufmerksam gewesen. An dieser Meinung sei nach der Entscheidung des Bundesgerichtshofs (Senatsurteil vom 15. Mai 2018 - VI ZR 231/17, VersR 2018, 957 Rn. 12), nach der der "andere Verkehrsteilnehmer" im Sinne von § 9 Abs. 5, § 10 Satz 1 StVO nicht nur ein Teilnehmer aus dem fließenden Verkehr, sondern jede Person sei, die sich selbst verkehrserheblich verhalte, also körperlich und unmittelbar auf den Ablauf eines Verkehrsvorgangs einwirke, nicht mehr festzuhalten. Diese Rechtsprechung sei auf den Begriff des "anderen Verkehrsteilnehmers" in § 7 Abs. 5 StVO übertragbar. Der Führer des Klägerfahrzeugs habe sich verkehrserheblich verhalten, indem er beabsichtigt habe, sein Fahrzeug vom Fahrbahnrand in den fließenden Verkehr einzureihen. Die Beklagte zu 1 habe § 7 Abs. 5 StVO verletzt, da sie den Fahrstreifenwechsel nicht so vollzogen habe, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer, auch des klägerischen Fahrzeugs, ausgeschlossen gewesen sei.

II.

Die Revision hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des Berufungsurteils, soweit das Berufungsgericht die Berufung der Beklagten zurückgewiesen hat. Die vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen rechtfertigen seine Annahme, die Beklagte zu 1 habe den Unfall schuldhaft mitverursacht, nicht.

1. Grundsätzlich ist die Entscheidung über die Haftungsverteilung im Rahmen des § 17 StVG - wie im Rahmen des § 254 BGB - Sache des Tatrichters und im Revisionsverfahren nur darauf zu überprüfen, ob alle in Betracht kommenden Umstände vollständig und richtig berücksichtigt und der Abwägung rechtlich zulässige Erwägungen zugrunde gelegt worden sind (Senatsurteile vom 15. Mai 2018 - VI ZR 231/17, VersR 2018, 957 Rn. 10; vom 11. Oktober 2016 - VI ZR 66/16, NJW 2017, 1175 Rn. 7; jeweils mwN). Die Abwägung ist aufgrund aller festgestellten, das heißt unstreitigen, zugestandenen oder nach § 286 ZPO bewiesenen Umstände des Einzelfalls vorzunehmen, die sich auf den Unfall ausgewirkt haben. In erster Linie ist hierbei das Maß der Verursachung von Belang, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben. Ein Faktor bei der Abwägung ist dabei das beiderseitige Verschulden (Senatsurteile vom 15. Mai 2018 - VI ZR 231/17, VersR 2018, 957 Rn. 10; vom 11. Oktober 2016 - VI ZR 66/16, NJW 2017, 1175 Rn. 7; jeweils mwN). Einer Überprüfung nach diesen Grundsätzen hält die vom Berufungsgericht vorgenommene Abwägung nicht stand.

a) Das Berufungsgericht ist auf der Grundlage der getroffenen und von der Revisionserwiderung nicht angegriffenen Feststellungen allerdings im Ergebnis zu Recht von einem schuldhaften Verstoß des Führers des klägerischen Fahrzeugs gegen § 10 Satz 1 StVO ausgegangen. Nach § 10 Satz 1 StVO hat derjenige, der von einem anderen Straßenteil - hier aus einer Parkbucht - auf die Fahrbahn einfährt, sich so zu verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Die auf der Straße fahrenden Fahrzeuge haben gegenüber dem vom rechten Fahrbahnrand an- und in die Straße einfahrenden Verkehr Vorrang (vgl. BGH, Beschlüsse vom 20. Januar 2009 - 4 StR 396/08, juris; vom 6. Dezember 1978 - 4 StR 130/78, NJW 1979, 1894, juris Rn. 8). Auf diesen Vorrang gegenüber dem einfahrenden Verkehr dürfen die auf der Straße fahrenden Fahrzeuge vertrauen (vgl. Senatsurteil vom 20. September 2011 - VI ZR 282/10, NJW-RR 2012, 157 Rn. 9; BGH, Beschluss vom 6. Dezember 1978 - 4 StR 130/78, NJW 1979, 1894, juris Rn. 8; Müller in Bachmeier/Müller/Rebler, Verkehrsrecht, 3. Aufl., § 10 StVO Rn. 10). Der Vorrang gilt grundsätzlich für die gesamte Fahrbahn. Der Einfahrende hat sich darauf einzustellen, dass der ihm gegenüber vorrangig Berechtigte in diesem Sinne von seinem Recht Gebrauch macht. Auch das Befahren des linken Fahrstreifens durch den am fließenden Verkehr teilnehmenden Fahrzeugführer beseitigt nicht die Verpflichtung des Einfahrenden, dem fließenden Verkehr den Vorrang zu belassen und diesen nicht zu behindern (vgl. Senatsurteile vom 20. September 2011 - VI ZR 282/10, NJW-RR 2012, 157 Rn. 8 mwN; vom 13. November 1990 - VI ZR 15/90, NJW-RR 1991, 536, juris Rn. 12 f.). Der Einfahrende kann nicht darauf vertrauen, dass die rechte Fahrspur frei bleibt. Vielmehr muss er stets mit einem Fahrstreifenwechsel eines Teilnehmers des fließenden Verkehrs rechnen (KG, NZV 2004, 632, 633, juris Rn. 12).

Das Berufungsgericht hat festgestellt, dass der Führer des klägerischen Fahrzeugs im Begriff war, aus der Parkbucht am rechten Straßenrand auszufahren und sich das Fahrzeug in einer Vorwärtsbewegung befand, als es mit dem Beklagtenfahrzeug zusammenstieß. Der Führer des Klägerfahrzeugs hätte, als sich das Beklagtenfahrzeug für ihn sichtbar näherte, aufgrund des Vorrangs des Beklagtenfahrzeugs nicht weiter in den rechten Fahrstreifen einfahren dürfen (vgl. Senatsurteil vom 25. Januar 1994 - VI ZR 285/92, NJW-RR 1994, 1303, juris Rn. 15 f.). Da bereits aufgrund der vom Berufungsgericht festgestellten Tatsachen von einem schuldhaften Verstoß des Führers des klägerischen Fahrzeugs gegen § 10 Satz 1 StVO auszugehen ist (vgl. Senatsurteil vom 20. September 2011 - VI ZR 282/10, NJW-RR 2012, 157 Rn. 9), kann dahinstehen, ob - wovon das Berufungsgericht ausgegangen ist - ein solcher auch nach den Regeln des Anscheinsbeweises zu bejahen wäre.

b) Die Annahme des Berufungsgerichts, es liege eine schuldhafte Verletzung des § 7 Abs. 5 Satz 1 StVO durch die Beklagte zu 1 vor, ist jedoch rechtsfehlerhaft, da § 7 Abs. 5 Satz 1 StVO nur dem Schutz des fließenden Verkehrs dient.

Nach § 7 Abs. 5 Satz 1 StVO darf ein Fahrstreifen nur gewechselt werden, wenn eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. "Anderer Verkehrsteilnehmer" ist an sich grundsätzlich jede Person, die sich selbst verkehrserheblich verhält, das heißt körperlich und unmittelbar auf den Ablauf eines Verkehrsvorgangs einwirkt (vgl. Senatsurteil vom 15. Mai 2018 - VI ZR 231/17, VersR 2018, 957 Rn. 12 zu § 9 Abs. 5, § 10 Satz 1 StVO; BGH, Beschluss vom 25. November 1959 - 4 StR 424/59, BGHSt 14, 24, 27 zu § 1 StVO; König in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 46. Aufl., § 1 StVO Rn. 17 mwN). Im Rahmen des § 7 Abs. 5 Satz 1 StVO ist "anderer Verkehrsteilnehmer" aber nur ein Teilnehmer des fließenden Verkehrs, also nicht der vom Fahrbahnrand An- und in den fließenden Verkehr Einfahrende (vgl. KG, NZV 2004, 632, 633, juris Rn. 13; KG, NZV 2006, 369, 370, juris Rn. 25; KG, NZV 2008, 413, 414, juris Rn. 8; KG, NJW-RR 2011, 26, 27, juris Rn. 14; OLG München, NJW-RR 1994, 1442, 1443, juris Rn. 5; OLG München, Urteil vom 17. Dezember 2010 - 10 U 2926/10, juris Rn. 5; OLG Naumburg, NJW-RR 2013, 737, juris Rn. 20; AG Hamburg, SVR 2021, 182, 183, juris Rn. 21 ff.; Haarmann, DAR 1987, 139, 145; ders., VersR 1986, 666, 667; König in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 46. Aufl., § 7 StVO Rn. 17; Grabow in BeckOK Straßenverkehrsrecht, 14. Ed. 15.01.2022, § 7 StVO Rn. 51 f.; Heß in Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, Straßenverkehrsrecht, 27. Aufl., § 7 StVO Rn. 22; Quarch in Haus/Krumm/Quarch, Gesamtes Verkehrsrecht, 2. Aufl., § 7 StVO Rn. 7b; Feskorn in Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl., § 7 StVO Rn. 35; Schröder in Bachmeier/Müller/Rebler, Verkehrsrecht, 3. Aufl., § 7 StVO Rn. 8; a.A. OLG Köln, VersR 1986, 666, juris Rn. 27). Das ergibt sich zwar nicht aus dem Wortlaut des § 7 Abs. 5 Satz 1 StVO, aber aus der Entstehungsgeschichte der Norm, ihrer systematischen Stellung und ihrem Sinn und Zweck.

Bereits die Entstehungsgeschichte des § 7 Abs. 5 Satz 1 StVO spricht für eine Beschränkung des Schutzzwecks des § 7 Abs. 5 Satz 1 StVO auf den fließenden Verkehr vor einer Gefährdung durch den Fahrstreifenwechsler (so auch Haarmann, DAR 1987, 139, 145; ders., VersR 1986, 666, 667). In der Begründung zu § 7 StVO in der Fassung vom 16. November 1970 (VkBl 1970, 735, 805) heißt es, die Vorschrift betreffe lediglich den Fahrverkehr, wie sich aus ihrer Überschrift ergebe. Diese lautete "Nebeneinanderfahren". In Satz 2 der Norm war das Gebot enthalten, dass ein Fahrstreifen nur gewechselt werden darf, wenn eine Gefährdung anderer ausgeschlossen ist. Wie das diesen Satz einleitende Wort "dann" zeigt, bezog sich das Gebot auf die in Satz 1 beschriebene Situation, wonach unter bestimmten Voraussetzungen rechts schneller als links gefahren werden darf. Daran knüpft die mit § 7 Abs. 5 Satz 1 StVO im Wortlaut identische Regelung an, die mit der Verordnung über Maßnahmen im Straßenverkehr vom 27. November 1975 in § 7 Abs. 4 Satz 1 StVO eingefügt wurde (VkBl 1975, 667). In der Begründung zu dieser Vorschrift heißt es, dass durch die Regelung klargestellt werden soll, dass denjenigen, der den Fahrstreifen wechseln wolle, ein Höchstmaß an Sorgfaltspflicht treffe und dies für alle Arten des Nebeneinanderfahrens gelte (VkBl 1975, 667, 673). Vom Schutz des An- oder Einfahrenden ist in der Begründung nicht die Rede.

Eine Beschränkung des Schutzzwecks des § 7 Abs. 5 Satz 1 StVO auf Verkehrsteilnehmer des fließenden Verkehrs ergibt sich auch aus der systematischen Stellung des § 7 Abs. 5 StVO nach den Absätzen 1 bis 4 des § 7 StVO (so auch OLG Düsseldorf, NZV 1989, 404, 405, juris Rn. 12; Feskorn in Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl., § 7 StVO Rn. 33) und dem Sinn und Zweck des § 7 StVO als Ausnahmevorschrift zum Rechtsfahrgebot des § 2 Abs. 2 StVO. § 7 Abs. 1 bis 4 StVO enthalten Regelungen für das Befahren von Fahrbahnen mit mehreren Fahrstreifen für eine Richtung und damit Vorschriften für den gleichgerichteten fließenden Verkehr, so dass sich die Wörter "in allen Fällen" in § 7 Abs. 5 Satz 1 StVO auf die in § 7 Abs. 1 bis 4 geregelten Situationen eines Fahrstreifenwechsels beziehen (so Haarmann, DAR 1987, 139, 145; Feskorn in Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl., § 7 StVO Rn. 32). Damit steht zwar zunächst nur fest, wer Adressat der Verhaltenspflicht des § 7 Abs. 5 Satz 1 StVO ist. Wie die Revision zu Recht anführt, ergibt sich aber aus dem Zusammenhang des § 7 StVO mit dem Rechtsfahrgebot des § 2 Abs. 2 StVO eine Beschränkung des Schutzzwecks des § 7 Abs. 5 Satz 1 StVO auf den fließenden Verkehr (zu diesem Gedanken Haarmann, VersR 1986, 667). § 7 StVO enthält Ausnahmen vom Rechtsfahrgebot des § 2 Abs. 2 StVO, um den Mehrreihenverkehr von Fahrzeugen zu ermöglichen (so die Begründung zu § 7 StVO in der Fassung vom 16. November 1970, VkBl 1970, 735, 805; vgl. zu § 7 Abs. 3 StVO Senatsurteil vom 12. Dezember 2006 - VI ZR 75/06, NJW-RR 2007, 380 Rn. 6; Schröder in Bachmeier/Müller/Rebler, Verkehrsrecht, 3. Aufl., § 7 StVO Rn. 1). Wenn das Rechtsfahrgebot des § 2 Abs. 2 StVO nur dem Schutz des fließenden Verkehrs dient, aber nach ständiger Rechtsprechung nicht der Verhinderung von Zusammenstößen mit einbiegendem Seitenverkehr oder mit Grundstücksausfahrern (vgl. hierzu Senatsurteile vom 20. September 2011 - VI ZR 282/10, NJW-RR 2012, 157 Rn. 11 mwN; vom 11. Januar 1977 - VI ZR 268/74, VersR 1977, 524, 526, juris Rn. 18; vom 15. November 1966 - VI ZR 57/65, VersR 1967, 157, juris Rn. 11), muss dieser beschränkte Schutzzweck auch für die Ausnahmevorschrift des § 7 StVO und damit auch für § 7 Abs. 5 Satz 1 StVO gelten.

Müsste der Fahrstreifenwechsler gegenüber allen Verkehrsteilnehmern, auch gegenüber Einfahrenden, dieselben höchsten Sorgfaltsanforderungen wie der Einfahrende wahren, stünden sich gleichartige Sorgfaltsanforderungen gegenüber. Dies wäre schwerlich mit dem sich aus § 10 StVO ergebenden Vorrang des fließenden Verkehrs (vgl. hierzu Senatsurteil vom 20. September 2011 - VI ZR 282/10, NJW-RR 2012, 157 Rn. 8 f.; BGH, Beschluss vom 6. Dezember 1978 - 4 StR 130/78, NJW 1979, 1894, juris Rn. 9 f.) vereinbar. Denn der Vorrang des fließenden Verkehrs wird gerade mit den besonders hohen Sorgfaltsanforderungen des Einfahrenden begründet (vgl. Verordnung zur Änderung der Straßenverkehrs-Ordnung vom 21. Juli 1980 - Begründung zu Nr. 1e, VkBl 1980, 511, 515; Neunte Verordnung zur Änderung der Straßenverkehrs-Ordnung vom 22. März 1988 - Begründung zu § 10, VkBl 1988, 210, 221; Haarmann, VersR 1986, 667). Hier liegt ein wesentlicher Unterschied zu der dem Senatsurteil vom 15. Mai 2018 (VI ZR 231/17, VersR 2018, 957) zugrundeliegenden Konstellation aus dem Anwendungsbereich der § 9 Abs. 5, § 10 Satz 1 StVO. Richtete sich das Gebot der höchsten Sorgfalt dort an Verkehrsteilnehmer, die sich selbst nicht notwendig auf den Vorrang des fließenden Verkehrs berufen können, ist in der hier streitgegenständlichen Konstellation des § 7 Abs. 5 StVO der Fahrstreifenwechsler stets selbst Teil des fließenden Verkehrs und insoweit gegenüber den sonstigen Verkehrsteilnehmern bevorrechtigt.

c) Nicht geprüft hat das Berufungsgericht - aus seiner Sicht konsequent -, ob die Beklagte zu 1 schuldhaft § 1 Abs. 2 StVO verletzt hat. Trotz des grundsätzlichen Vorrangs des fließenden Verkehrs hat auch dieser auf den Ein- oder Anfahrenden im Rahmen des § 1 StVO Rücksicht zu nehmen und eine mäßige Behinderung hinzunehmen (vgl. BGH, Beschluss vom 6. Dezember 1978 - 4 StR 130/78, NJW 1979, 1894, juris Rn. 9). Der sich im fließenden Verkehr bewegende Vorfahrtsberechtigte darf, sofern nicht Anzeichen für eine bestehende Verletzung seines Vorrangs sprechen, darauf vertrauen, dass der Einfahrende sein Vorrecht beachten wird (vgl. Senatsurteile vom 20. September 2011 - VI ZR 282/10, NJW-RR 2012, 157 Rn. 9; vom 25. März 2003 - VI ZR 161/02, VersR 2003, 784, 785, juris Rn. 16 ff.; Müller in Bachmeier/Müller/Rebler, Verkehrsrecht, 3. Aufl., § 10 StVO Rn. 10). Diesen Vorrang gegenüber dem Einfahrenden hat auch der den Fahrstreifen Wechselnde. Der fließende Verkehr darf seine ungehinderte Weiterfahrt aber nicht erzwingen (§ 11 Abs. 3 StVO) und muss das Ein- oder Anfahren gegebenenfalls durch Verringern seiner Geschwindigkeit erleichtern, da ansonsten im Stadtverkehr jedes Ein- oder Anfahren zum Erliegen käme (vgl. BGH, Beschluss vom 6. Dezember 1978 - 4 StR 130/78, NJW 1979, 1894, juris Rn. 9 mwN; König in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 46. Aufl., § 10 StVO Rn. 8 f.).

Da die Feststellungen des Berufungsgerichts schon dessen Annahme, die Beklagte zu 1 habe schuldhaft die Sorgfaltspflicht des § 7 Abs. 5 Satz 1 StVO verletzt - unterstellt, § 7 Abs. 5 Satz 1 StVO wäre anwendbar - nicht tragen, reichen sie auch nicht aus, um eine schuldhafte Verletzung des § 1 Abs. 2 StVO zu bejahen. Das Berufungsgericht hat nur festgestellt, dass die Beklagte zu 1 einen Fahrstreifenwechsel vom linken auf den rechten Fahrstreifen der D. Straße bereits zu mehr als der Hälfte abgeschlossen hatte, als es zum Zusammenstoß mit dem Klägerfahrzeug kam, das sich bei der Kollision vorwärts bewegte. Aus einem solchen Zusammenstoß kann jedoch nicht ohne Weiteres auf eine schuldhafte Verletzung einer Sorgfaltspflicht der Beklagten zu 1 geschlossen werden. Das Berufungsgericht hat keine Feststellungen dazu getroffen, ob die Beklagte zu 1 den Ausparkvorgang des Klägerfahrzeugs hätte erkennen und vom Fahrstreifenwechsel absehen oder diesen abbrechen können, um einen Zusammenstoß zu vermeiden.

2. Die angefochtene Entscheidung beruht auf den dargestellten Rechtsfehlern, soweit zum Nachteil der Beklagten erkannt worden ist. Das Berufungsurteil war daher insoweit aufzuheben und die Sache im Umfang der Aufhebung zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 562 Abs. 1, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO), damit dieses ergänzende Feststellungen zum Unfallhergang treffen kann.


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