Der Transporter Opel Vivaro der Klägerin
stand in einer längs zur Fahrbahn angeordneten Parkbucht auf der rechten Seite
der in Fahrtrichtung zweispurig verlaufenden Straße in Düsseldorf. Die Beklagte
vollzog mit ihrem Pkw einen Fahrspurwechsel vom linken auf den rechten Fahrstreifen
und hatte diesen auch schon zur Hälfte beendet, als sie mit dem Transporter der
Klägerin, die gerade ausparkte, kollidierte. Der Transporter befand sich zum
Kollisionszeitpunkt mit der linken Front auf dem rechten Fahrtstreifen und fuhr
vorwärts.
Vorab verwies der BGH darauf, dass die Entscheidung über die Haftungsverteilung im Rahmen des § 17 StVG (wie auch im Rahmen des Mitverschuldens nach § 254 BGB) Sache des Tatrichters sei und im Rahmen der Revision nur darauf überprüft werden könne, ob alle in Betracht kommenden Umstände vollständig und richtig berücksichtigt und der Abwägung rechtlich zulässige Erwägungen zugrunde gelegt worden seien. Dies sah der BGH vorliegend als nicht gegeben an.
Richtig habe zwar das Landgericht ein schuldhaftes Verhalten der Klägerin in deren Verstoß gegen § 10 S. 1 StVO gesehen. Danach müsse sich derjenige, der von einem anderen Straßenteil (hier die Parkbucht) auf die Fahrbahn einfährt, so verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen sei; die auf der Straße fahrenden Fahrzeuge hätten gegenüber dem auf diese einfahrenden Verkehr Vorrang. Auf diesen Vorrang dürfte die auf der Straße fahrenden Verkehrsteilnehmer (mithin der fließende Verkehr) vertrauen, wobei der Vorrang für die gesamte Fahrbahn gelte. Nur unter Beachtung dieses Umstandes dürfe der Einfahrende einfahren und könne nicht darauf vertrauen, dass die rechte Fahrspur frei bleibe; er müsse stets mit einem Fahrspurwechsel rechnen. Vor diesem Hintergrund habe die Klägerin habe die Klägerin, nachdem das Beklagtenfahrzeug für sie sichtbar wurde, was unterblieben sei.
Rechtsfehlerhaft sei allerdings die Annahme eines Verstoßes der Beklagten gegen § 7 Abs. 5 S. 1 StVO. Danach dürfe ein Fahrstreifenwechsel nur vorgenommen werden, wenn eine Gefährdung „anderer Verkehrsteilnehmer“ ausgeschlossen sei. Zwar sei grundsätzlich „anderer Verkehrsteilnehmer“ jede Person, die sich selbst verkehrserheblich verhalte, also körperlich und unmittelbar auf den Ablauf eines Verkehrsvorgangs einwirke. Im Rahmen des § 7 Abs. 5 S. 1 StVO sei aber „anderer Verkehrsteilnehmer“ nur ein Teilnehmer am fließenden Verkehr, mithin nicht derjenige, der vom Fahrbahnrand in den fließenden Verkehr einfahre. Dies ergäbe sich zwar nicht aus dem Wortlaut, aber aus der Entstehungsgeschichte der Norm, ihrer systematischen Stellung und ihrem Sinn und Zweck. So würde es in der Begründung zur Norm des § 7 vom 16.11.1970 (VkBl 1970, 735, 805) heißen, die Norm betreffe lediglich, wie sich aus der Überschrift ergeben, lediglich den Fahrverkehr. Vom Schutz der An- und Einfahrenden sei dort keine Rede.
Auch die systematische Stellung des Absatzes 5 nach § 7 Abs. 1 bis 4 belege den eingeschränkten Schutzzweck von § 7 Abs. 5 S. 1 StVO. Bei § 7 StVO handele es sich um eine Ausnahmevorschrift vom Rechtsfahrgebot des § 2 Abs. 2 StVO. § 7 Aabs. 1 bis 4 SVO enthalte Regelungen für das Befahren von Fahrbahnen mit mehreren Fahrstreifen für eine Richtung, weshalb mit den Wörtern „in allen Fällen“ in § 7 Abs. 5 S. 1 StVO auf die in § 7 Abs. 1 bis 4 dargestellte Situation des Fahrstreifenwechsel Bezug genommen würde. Die Ausnahme vom Rechtfahrgebot in § 2 Abs. 2, welches dem Schutz des fließenden Verkehrs diene, sei erfolgt, um den Mehrreihenverkehr von Fahrzeugen zu ermöglichen (Begründung der Norm aaO.).
Müsste daher der fließende Verkehr dieselben höchsten Sorgfaltsanforderungen gegenüber allen Verkehrsteilnehmern wie der Einfahrende wahren, stünden sich gleichartige Sorgfaltsanforderungen gegenüber, die mir dem sich aus § 10 StVO ergebenden Vorrang des fließenden Verkehrs nicht zu vereinbaren wären. Der Vorrang des fließenden Verkehrs würde gerade würde gerade mit den besonders hohen Sorgfaltsanforderungen des Einfahrenden begründet (z.B. Begründung zu § 10 StVO in VkBl 1988, 210, 221).
An einer Entscheidung in der Sache sah sich der BGH gehindert, da sich das Landgericht - folgerichtig nach seiner Rechtsauffassung - nicht geprüft habe, ob die Beklagte schuldhaft gegen § 1 Abs. 2 StVO verstoßen hat. Das Rücksichtnahmegebot aus § 1 StVO gelte auch hier und eine mäßige Behinderung sei hinzunehmen (BGH, Beschluss vom 06.12.2978 - 4 StR 130/78 -). Würden sich für den fließenden Verkehr keine Anzeichen für eine Verletzung seines Vorrangs ergeben, dürfe er darauf vertrauen, dass der Einfahrende sein Vorrecht beachte. Dieses Recht käme auch dem Fahrspurwechsler zugute. Die Weiterfahrt dürfe aber nicht erzwungen werden (§ 11 Abs. 3 StVO), so dass gegebenenfalls durch Verlangsamung die Ein- und Anfahrt erleichtert werden müsse, da ansonsten im Stadtverkehr jedes Ein- oder Anfahren zum Erliegen käme. Die Feststellung des Landgerichts als Berufungsgericht zu einer von ihm angenommenen Verletzung des § 7 Abs. 5 S. 1 StVO (die nach o.g. Darlegung des BGH nicht vorlag) reiche nicht aus, auch eine schuldhafte Verletzung des § 1 Abs. 2 StVO zu bejahen. Es sei lediglich festgestellt worden, dass die Beklagte zu 1. Den Fahrstreifenwechsel schon zu mehr als die Hälfte vollzogen habe, als es zum Zusammenstoß gekommen sei. Feststellungen dazu, ob die Beklagte zu 1. Den Ausparkvorgang hätte erkennen können und noch vom Fahrstreifenwechsel hätte Abstand nehmen oder diesen unterbrechen können, um einen Zusammenstoß zu verhindern, würden fehlen.
BGH, Urteil vom 08.03.2022
- VI ZR 1308/20 -
Aus den Gründen:
Tenor
Auf die
Revision der Beklagten wird das Urteil der 22. Zivilkammer des Landgerichts
Düsseldorf vom 2. November 2020 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als zum
Nachteil der Beklagten erkannt worden ist.
Im Umfang der
Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die
Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts
wegen
Tatbestand
Die Parteien
streiten um Schadensersatz nach einem Verkehrsunfall.
Die Klägerin
ist Halterin eines Transporters Opel Vivaro, der am 25. September 2018 in einer
längs zur Fahrbahn angeordneten Parkbucht auf der rechten Seite der in
Fahrtrichtung zweispurigen D. Straße in Düsseldorf abgestellt war. Die Beklagte
zu 1 hatte mit ihrem bei der Beklagten zu 2 haftpflichtversicherten Pkw einen Wechsel
vom linken auf den rechten Fahrstreifen zu mehr als der Hälfte vollzogen, als
sie mit dem ausparkenden Fahrzeug der Klägerin zusammenstieß. Das
Klägerfahrzeug ragte zum Zeitpunkt der Kollision mit der linken Front in den
rechten Fahrstreifen der D. Straße hinein und bewegte sich nach vorne.
Das Amtsgericht
hat der auf Zahlung der gesamten Reparaturkosten für das Klägerfahrzeug, von
Gutachterkosten und einer Kostenpauschale gerichteten Klage auf der Grundlage
einer Haftungsquote von 50 % teilweise stattgegeben. Auf die Berufung der
Beklagten hat das Landgericht die Haftungsquote bestätigt, lediglich die zu
erstattenden Reparaturkosten in geringem Umfang der Höhe nach ermäßigt und die
Berufung im Übrigen zurückgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen
Revision verfolgen die Beklagten ihren Klageabweisungsantrag weiter.
Entscheidungsgründe
I.
Das
Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen
ausgeführt:
Die Klägerin
habe gegen die Beklagten als Gesamtschuldner einen Schadensersatzanspruch gemäß
§ 7 Abs. 1 StVG i.V.m. § 115 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1
VVG. Es sei von einer hälftigen Schadensteilung auszugehen, da auf Seiten der
Klägerin ein Verstoß gegen § 10 Satz 1 StVO und auf Seiten der
Beklagten ein Verstoß gegen § 7 Abs. 5 StVO bei gleichwertiger
Betriebsgefahr vorliege.
Zwar spreche
der Anschein dafür, dass der vom Straßenrand Anfahrende die besonderen
Sorgfaltsanforderungen des § 10 Satz 1 StVO missachtet habe, wenn es
in unmittelbarem zeitlichem und räumlichem Zusammenhang mit dem Anfahren zu
einer Kollision mit dem rückwärtigen fließenden Verkehr komme. Dieser
Anscheinsbeweis gelte nach der bisher herrschenden Meinung auch gegenüber einem
Fahrstreifenwechsler im fließenden Verkehr, da § 7 Abs. 5 StVO nach
dieser Ansicht allein den fließenden Verkehr schütze. Gelinge es dem
Anfahrenden nicht, diesen Anscheinsbeweis zu erschüttern, hafte er nach bislang
herrschender Meinung allein für den Unfall. Die Betriebsgefahr des
Unfallgegners aus dem fließenden Verkehr trete vollständig zurück, es sei denn,
dieser sei erwiesenermaßen mit erhöhter Geschwindigkeit gefahren oder sonst
unaufmerksam gewesen. An dieser Meinung sei nach der Entscheidung des
Bundesgerichtshofs (Senatsurteil vom 15. Mai 2018 - VI ZR 231/17, VersR 2018,
957 Rn. 12), nach der der "andere Verkehrsteilnehmer" im Sinne von
§ 9 Abs. 5, § 10 Satz 1 StVO nicht nur ein Teilnehmer aus
dem fließenden Verkehr, sondern jede Person sei, die sich selbst
verkehrserheblich verhalte, also körperlich und unmittelbar auf den Ablauf eines
Verkehrsvorgangs einwirke, nicht mehr festzuhalten. Diese Rechtsprechung sei
auf den Begriff des "anderen Verkehrsteilnehmers" in § 7
Abs. 5 StVO übertragbar. Der Führer des Klägerfahrzeugs habe sich
verkehrserheblich verhalten, indem er beabsichtigt habe, sein Fahrzeug vom
Fahrbahnrand in den fließenden Verkehr einzureihen. Die Beklagte zu 1 habe
§ 7 Abs. 5 StVO verletzt, da sie den Fahrstreifenwechsel nicht so
vollzogen habe, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer, auch des klägerischen
Fahrzeugs, ausgeschlossen gewesen sei.
II.
Die Revision
hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des Berufungsurteils, soweit das
Berufungsgericht die Berufung der Beklagten zurückgewiesen hat. Die vom
Berufungsgericht getroffenen Feststellungen rechtfertigen seine Annahme, die
Beklagte zu 1 habe den Unfall schuldhaft mitverursacht, nicht.
1.
Grundsätzlich ist die Entscheidung über die Haftungsverteilung im Rahmen des
§ 17 StVG - wie im Rahmen des § 254 BGB - Sache des Tatrichters und
im Revisionsverfahren nur darauf zu überprüfen, ob alle in Betracht kommenden
Umstände vollständig und richtig berücksichtigt und der Abwägung rechtlich
zulässige Erwägungen zugrunde gelegt worden sind (Senatsurteile vom 15. Mai
2018 - VI ZR 231/17, VersR 2018, 957 Rn. 10; vom 11. Oktober 2016 - VI ZR
66/16, NJW 2017, 1175 Rn. 7; jeweils mwN). Die Abwägung ist aufgrund aller
festgestellten, das heißt unstreitigen, zugestandenen oder nach § 286 ZPO
bewiesenen Umstände des Einzelfalls vorzunehmen, die sich auf den Unfall
ausgewirkt haben. In erster Linie ist hierbei das Maß der Verursachung von
Belang, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben. Ein
Faktor bei der Abwägung ist dabei das beiderseitige Verschulden (Senatsurteile
vom 15. Mai 2018 - VI ZR 231/17, VersR 2018, 957 Rn. 10; vom 11. Oktober 2016 -
VI ZR 66/16, NJW 2017, 1175 Rn. 7; jeweils mwN). Einer Überprüfung nach diesen
Grundsätzen hält die vom Berufungsgericht vorgenommene Abwägung nicht stand.
a) Das
Berufungsgericht ist auf der Grundlage der getroffenen und von der
Revisionserwiderung nicht angegriffenen Feststellungen allerdings im Ergebnis
zu Recht von einem schuldhaften Verstoß des Führers des klägerischen Fahrzeugs
gegen § 10 Satz 1 StVO ausgegangen. Nach § 10 Satz 1 StVO
hat derjenige, der von einem anderen Straßenteil - hier aus einer Parkbucht -
auf die Fahrbahn einfährt, sich so zu verhalten, dass eine Gefährdung anderer
Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Die auf der Straße fahrenden Fahrzeuge
haben gegenüber dem vom rechten Fahrbahnrand an- und in die Straße einfahrenden
Verkehr Vorrang (vgl. BGH, Beschlüsse vom 20. Januar 2009 - 4 StR 396/08,
juris; vom 6. Dezember 1978 - 4 StR 130/78, NJW 1979, 1894, juris Rn. 8). Auf
diesen Vorrang gegenüber dem einfahrenden Verkehr dürfen die auf der Straße
fahrenden Fahrzeuge vertrauen (vgl. Senatsurteil vom 20. September 2011 - VI ZR
282/10, NJW-RR 2012, 157 Rn. 9; BGH, Beschluss vom 6. Dezember 1978 - 4 StR
130/78, NJW 1979, 1894, juris Rn. 8; Müller in Bachmeier/Müller/Rebler,
Verkehrsrecht, 3. Aufl., § 10 StVO Rn. 10). Der Vorrang gilt grundsätzlich
für die gesamte Fahrbahn. Der Einfahrende hat sich darauf einzustellen, dass
der ihm gegenüber vorrangig Berechtigte in diesem Sinne von seinem Recht
Gebrauch macht. Auch das Befahren des linken Fahrstreifens durch den am
fließenden Verkehr teilnehmenden Fahrzeugführer beseitigt nicht die
Verpflichtung des Einfahrenden, dem fließenden Verkehr den Vorrang zu belassen
und diesen nicht zu behindern (vgl. Senatsurteile vom 20. September 2011 - VI
ZR 282/10, NJW-RR 2012, 157 Rn. 8 mwN; vom 13. November 1990 - VI ZR 15/90,
NJW-RR 1991, 536, juris Rn. 12 f.). Der Einfahrende kann nicht darauf
vertrauen, dass die rechte Fahrspur frei bleibt. Vielmehr muss er stets mit
einem Fahrstreifenwechsel eines Teilnehmers des fließenden Verkehrs rechnen
(KG, NZV 2004, 632, 633, juris Rn. 12).
Das
Berufungsgericht hat festgestellt, dass der Führer des klägerischen Fahrzeugs
im Begriff war, aus der Parkbucht am rechten Straßenrand auszufahren und sich
das Fahrzeug in einer Vorwärtsbewegung befand, als es mit dem Beklagtenfahrzeug
zusammenstieß. Der Führer des Klägerfahrzeugs hätte, als sich das
Beklagtenfahrzeug für ihn sichtbar näherte, aufgrund des Vorrangs des
Beklagtenfahrzeugs nicht weiter in den rechten Fahrstreifen einfahren dürfen
(vgl. Senatsurteil vom 25. Januar 1994 - VI ZR 285/92, NJW-RR 1994, 1303, juris
Rn. 15 f.). Da bereits aufgrund der vom Berufungsgericht festgestellten
Tatsachen von einem schuldhaften Verstoß des Führers des klägerischen Fahrzeugs
gegen § 10 Satz 1 StVO auszugehen ist (vgl. Senatsurteil vom 20.
September 2011 - VI ZR 282/10, NJW-RR 2012, 157 Rn. 9), kann dahinstehen, ob -
wovon das Berufungsgericht ausgegangen ist - ein solcher auch nach den Regeln
des Anscheinsbeweises zu bejahen wäre.
b) Die
Annahme des Berufungsgerichts, es liege eine schuldhafte Verletzung des
§ 7 Abs. 5 Satz 1 StVO durch die Beklagte zu 1 vor, ist jedoch
rechtsfehlerhaft, da § 7 Abs. 5 Satz 1 StVO nur dem Schutz des
fließenden Verkehrs dient.
Nach § 7
Abs. 5 Satz 1 StVO darf ein Fahrstreifen nur gewechselt werden, wenn
eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. "Anderer
Verkehrsteilnehmer" ist an sich grundsätzlich jede Person, die sich selbst
verkehrserheblich verhält, das heißt körperlich und unmittelbar auf den Ablauf
eines Verkehrsvorgangs einwirkt (vgl. Senatsurteil vom 15. Mai 2018 - VI ZR
231/17, VersR 2018, 957 Rn. 12 zu § 9 Abs. 5, § 10 Satz 1
StVO; BGH, Beschluss vom 25. November 1959 - 4 StR 424/59, BGHSt 14, 24, 27 zu
§ 1 StVO; König in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 46. Aufl.,
§ 1 StVO Rn. 17 mwN). Im Rahmen des § 7 Abs. 5 Satz 1 StVO
ist "anderer Verkehrsteilnehmer" aber nur ein Teilnehmer des
fließenden Verkehrs, also nicht der vom Fahrbahnrand An- und in den fließenden
Verkehr Einfahrende (vgl. KG, NZV 2004, 632, 633, juris Rn. 13; KG, NZV 2006,
369, 370, juris Rn. 25; KG, NZV 2008, 413, 414, juris Rn. 8; KG, NJW-RR 2011,
26, 27, juris Rn. 14; OLG München, NJW-RR 1994, 1442, 1443, juris Rn. 5; OLG
München, Urteil vom 17. Dezember 2010 - 10 U 2926/10, juris Rn. 5; OLG
Naumburg, NJW-RR 2013, 737, juris Rn. 20; AG Hamburg, SVR 2021, 182, 183, juris
Rn. 21 ff.; Haarmann, DAR 1987, 139, 145; ders., VersR 1986, 666, 667; König in
Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 46. Aufl., § 7 StVO Rn. 17;
Grabow in BeckOK Straßenverkehrsrecht, 14. Ed. 15.01.2022, § 7 StVO Rn. 51
f.; Heß in Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, Straßenverkehrsrecht, 27. Aufl.,
§ 7 StVO Rn. 22; Quarch in Haus/Krumm/Quarch, Gesamtes Verkehrsrecht, 2.
Aufl., § 7 StVO Rn. 7b; Feskorn in Freymann/Wellner,
jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl., § 7 StVO Rn. 35; Schröder in
Bachmeier/Müller/Rebler, Verkehrsrecht, 3. Aufl., § 7 StVO Rn. 8; a.A. OLG
Köln, VersR 1986, 666, juris Rn. 27). Das ergibt sich zwar nicht aus dem
Wortlaut des § 7 Abs. 5 Satz 1 StVO, aber aus der
Entstehungsgeschichte der Norm, ihrer systematischen Stellung und ihrem Sinn
und Zweck.
Bereits die
Entstehungsgeschichte des § 7 Abs. 5 Satz 1 StVO spricht für
eine Beschränkung des Schutzzwecks des § 7 Abs. 5 Satz 1 StVO
auf den fließenden Verkehr vor einer Gefährdung durch den Fahrstreifenwechsler
(so auch Haarmann, DAR 1987, 139, 145; ders., VersR 1986, 666, 667). In der
Begründung zu § 7 StVO in der Fassung vom 16. November 1970 (VkBl 1970,
735, 805) heißt es, die Vorschrift betreffe lediglich den Fahrverkehr, wie sich
aus ihrer Überschrift ergebe. Diese lautete "Nebeneinanderfahren". In
Satz 2 der Norm war das Gebot enthalten, dass ein Fahrstreifen nur
gewechselt werden darf, wenn eine Gefährdung anderer ausgeschlossen ist. Wie
das diesen Satz einleitende Wort "dann" zeigt, bezog sich das Gebot
auf die in Satz 1 beschriebene Situation, wonach unter bestimmten
Voraussetzungen rechts schneller als links gefahren werden darf. Daran knüpft
die mit § 7 Abs. 5 Satz 1 StVO im Wortlaut identische Regelung
an, die mit der Verordnung über Maßnahmen im Straßenverkehr vom 27. November
1975 in § 7 Abs. 4 Satz 1 StVO eingefügt wurde (VkBl 1975, 667).
In der Begründung zu dieser Vorschrift heißt es, dass durch die Regelung klargestellt
werden soll, dass denjenigen, der den Fahrstreifen wechseln wolle, ein
Höchstmaß an Sorgfaltspflicht treffe und dies für alle Arten des
Nebeneinanderfahrens gelte (VkBl 1975, 667, 673). Vom Schutz des An- oder
Einfahrenden ist in der Begründung nicht die Rede.
Eine
Beschränkung des Schutzzwecks des § 7 Abs. 5 Satz 1 StVO auf
Verkehrsteilnehmer des fließenden Verkehrs ergibt sich auch aus der
systematischen Stellung des § 7 Abs. 5 StVO nach den Absätzen 1 bis 4
des § 7 StVO (so auch OLG Düsseldorf, NZV 1989, 404, 405, juris Rn. 12;
Feskorn in Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl., § 7
StVO Rn. 33) und dem Sinn und Zweck des § 7 StVO als Ausnahmevorschrift
zum Rechtsfahrgebot des § 2 Abs. 2 StVO. § 7 Abs. 1 bis 4
StVO enthalten Regelungen für das Befahren von Fahrbahnen mit mehreren
Fahrstreifen für eine Richtung und damit Vorschriften für den gleichgerichteten
fließenden Verkehr, so dass sich die Wörter "in allen Fällen" in
§ 7 Abs. 5 Satz 1 StVO auf die in § 7 Abs. 1 bis 4
geregelten Situationen eines Fahrstreifenwechsels beziehen (so Haarmann, DAR
1987, 139, 145; Feskorn in Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2.
Aufl., § 7 StVO Rn. 32). Damit steht zwar zunächst nur fest, wer Adressat
der Verhaltenspflicht des § 7 Abs. 5 Satz 1 StVO ist. Wie die
Revision zu Recht anführt, ergibt sich aber aus dem Zusammenhang des § 7
StVO mit dem Rechtsfahrgebot des § 2 Abs. 2 StVO eine Beschränkung
des Schutzzwecks des § 7 Abs. 5 Satz 1 StVO auf den fließenden
Verkehr (zu diesem Gedanken Haarmann, VersR 1986, 667). § 7 StVO enthält
Ausnahmen vom Rechtsfahrgebot des § 2 Abs. 2 StVO, um den
Mehrreihenverkehr von Fahrzeugen zu ermöglichen (so die Begründung zu § 7
StVO in der Fassung vom 16. November 1970, VkBl 1970, 735, 805; vgl. zu
§ 7 Abs. 3 StVO Senatsurteil vom 12. Dezember 2006 - VI ZR 75/06,
NJW-RR 2007, 380 Rn. 6; Schröder in Bachmeier/Müller/Rebler, Verkehrsrecht, 3.
Aufl., § 7 StVO Rn. 1). Wenn das Rechtsfahrgebot des § 2 Abs. 2
StVO nur dem Schutz des fließenden Verkehrs dient, aber nach ständiger
Rechtsprechung nicht der Verhinderung von Zusammenstößen mit einbiegendem
Seitenverkehr oder mit Grundstücksausfahrern (vgl. hierzu Senatsurteile vom 20.
September 2011 - VI ZR 282/10, NJW-RR 2012, 157 Rn. 11 mwN; vom 11. Januar 1977
- VI ZR 268/74, VersR 1977, 524, 526, juris Rn. 18; vom 15. November 1966 - VI
ZR 57/65, VersR 1967, 157, juris Rn. 11), muss dieser beschränkte Schutzzweck
auch für die Ausnahmevorschrift des § 7 StVO und damit auch für § 7
Abs. 5 Satz 1 StVO gelten.
Müsste der
Fahrstreifenwechsler gegenüber allen Verkehrsteilnehmern, auch gegenüber
Einfahrenden, dieselben höchsten Sorgfaltsanforderungen wie der Einfahrende
wahren, stünden sich gleichartige Sorgfaltsanforderungen gegenüber. Dies wäre
schwerlich mit dem sich aus § 10 StVO ergebenden Vorrang des fließenden
Verkehrs (vgl. hierzu Senatsurteil vom 20. September 2011 - VI ZR 282/10,
NJW-RR 2012, 157 Rn. 8 f.; BGH, Beschluss vom 6. Dezember 1978 - 4 StR 130/78,
NJW 1979, 1894, juris Rn. 9 f.) vereinbar. Denn der Vorrang des fließenden
Verkehrs wird gerade mit den besonders hohen Sorgfaltsanforderungen des
Einfahrenden begründet (vgl. Verordnung zur Änderung der
Straßenverkehrs-Ordnung vom 21. Juli 1980 - Begründung zu Nr. 1e, VkBl
1980, 511, 515; Neunte Verordnung zur Änderung der Straßenverkehrs-Ordnung vom
22. März 1988 - Begründung zu § 10, VkBl 1988, 210, 221; Haarmann, VersR
1986, 667). Hier liegt ein wesentlicher Unterschied zu der dem Senatsurteil vom
15. Mai 2018 (VI ZR 231/17, VersR 2018, 957) zugrundeliegenden Konstellation
aus dem Anwendungsbereich der § 9 Abs. 5, § 10 Satz 1 StVO.
Richtete sich das Gebot der höchsten Sorgfalt dort an Verkehrsteilnehmer, die
sich selbst nicht notwendig auf den Vorrang des fließenden Verkehrs berufen
können, ist in der hier streitgegenständlichen Konstellation des § 7
Abs. 5 StVO der Fahrstreifenwechsler stets selbst Teil des fließenden
Verkehrs und insoweit gegenüber den sonstigen Verkehrsteilnehmern
bevorrechtigt.
c) Nicht
geprüft hat das Berufungsgericht - aus seiner Sicht konsequent -, ob die
Beklagte zu 1 schuldhaft § 1 Abs. 2 StVO verletzt hat. Trotz des
grundsätzlichen Vorrangs des fließenden Verkehrs hat auch dieser auf den Ein-
oder Anfahrenden im Rahmen des § 1 StVO Rücksicht zu nehmen und eine
mäßige Behinderung hinzunehmen (vgl. BGH, Beschluss vom 6. Dezember 1978 - 4
StR 130/78, NJW 1979, 1894, juris Rn. 9). Der sich im fließenden Verkehr
bewegende Vorfahrtsberechtigte darf, sofern nicht Anzeichen für eine bestehende
Verletzung seines Vorrangs sprechen, darauf vertrauen, dass der Einfahrende
sein Vorrecht beachten wird (vgl. Senatsurteile vom 20. September 2011 - VI ZR
282/10, NJW-RR 2012, 157 Rn. 9; vom 25. März 2003 - VI ZR 161/02, VersR 2003,
784, 785, juris Rn. 16 ff.; Müller in Bachmeier/Müller/Rebler, Verkehrsrecht,
3. Aufl., § 10 StVO Rn. 10). Diesen Vorrang gegenüber dem Einfahrenden hat
auch der den Fahrstreifen Wechselnde. Der fließende Verkehr darf seine
ungehinderte Weiterfahrt aber nicht erzwingen (§ 11 Abs. 3 StVO) und
muss das Ein- oder Anfahren gegebenenfalls durch Verringern seiner
Geschwindigkeit erleichtern, da ansonsten im Stadtverkehr jedes Ein- oder
Anfahren zum Erliegen käme (vgl. BGH, Beschluss vom 6. Dezember 1978 - 4 StR
130/78, NJW 1979, 1894, juris Rn. 9 mwN; König in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht,
46. Aufl., § 10 StVO Rn. 8 f.).
Da die
Feststellungen des Berufungsgerichts schon dessen Annahme, die Beklagte zu 1
habe schuldhaft die Sorgfaltspflicht des § 7 Abs. 5 Satz 1 StVO
verletzt - unterstellt, § 7 Abs. 5 Satz 1 StVO wäre anwendbar -
nicht tragen, reichen sie auch nicht aus, um eine schuldhafte Verletzung des
§ 1 Abs. 2 StVO zu bejahen. Das Berufungsgericht hat nur
festgestellt, dass die Beklagte zu 1 einen Fahrstreifenwechsel vom linken auf
den rechten Fahrstreifen der D. Straße bereits zu mehr als der Hälfte
abgeschlossen hatte, als es zum Zusammenstoß mit dem Klägerfahrzeug kam, das
sich bei der Kollision vorwärts bewegte. Aus einem solchen Zusammenstoß kann
jedoch nicht ohne Weiteres auf eine schuldhafte Verletzung einer Sorgfaltspflicht
der Beklagten zu 1 geschlossen werden. Das Berufungsgericht hat keine
Feststellungen dazu getroffen, ob die Beklagte zu 1 den Ausparkvorgang des
Klägerfahrzeugs hätte erkennen und vom Fahrstreifenwechsel absehen oder diesen
abbrechen können, um einen Zusammenstoß zu vermeiden.
2. Die
angefochtene Entscheidung beruht auf den dargestellten Rechtsfehlern, soweit
zum Nachteil der Beklagten erkannt worden ist. Das Berufungsurteil war daher
insoweit aufzuheben und die Sache im Umfang der Aufhebung zur neuen Verhandlung
und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 562
Abs. 1, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO), damit dieses ergänzende
Feststellungen zum Unfallhergang treffen kann.
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