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Freitag, 2. Juni 2023

Haftung bei Unfall eines Businsassen durch starkes Abbremsen (Notbremsung)

An einer Kreuzung hielt der Linienbus an einer Ampel mit Rotlicht. Nachdem die Ampel auf Grün umsprang, fuhr der Bus in den Kreuzungsbereich hinein um dort nach links abzubiegen. Die Klägerin, die kurz nach dem Kreuzung an der Haltestelle aussteigen wollte (und bereits das Haltesignal betätigt hatte) stand auf und positionieret sich am Ausgang, mit einer Hand sich an der Haltestange haltend, in der anderen Hand einen Regenschirm und die Handtasche haltend. Nach einem kurzen Stopp im Kreuzungsbereich, um Gegenverkehr durchfahren zu lassen, fuhr er wieder an; eine im Kreuzungsbereich anwesende Fußgängerin wollte im Bereich der Fußgängerfurt (bei Grünlicht für Fußgänger) die Straße überqueren, in die der Bus im Begriff war einzufahren. Nachdem der Busfahrer (der Beklagte zu 1.) die Fußgängerin wahrnahm, nahm er bei einem Abstand von nur noch 1 m eine Notbremsung vor, erfasste die Fußgängerin aber gleichwohl, die deshalb stürzte (aber unverletzt blieb). Infolge der Notbremsung konnte sich die Klägerin nicht mehr an der Haltestange ausreichend festhalten und stürzte. Sie machte Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche geltend. Das Landgericht wies die Klage mit der Begründung ab, die Klägerin hätte bis zum Halt an der Haltestelle sitzen bleiben können und dann zügig den Bus verlassen können; in diesem Fall wäre es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht zu einer Schädigung gekommen. In der von der Klägerin eingelegten Berufung machte sie nur noch 50% als Haftungsanteil der Beklagten geltend. Das Oberlandesgericht (OLG) stellte dem Grunde nach eine Haftung der Beklagten zu 50% fest und verwies den Rechtsstreit zur Höhe an das Landgericht zurück.

Das OLG verwies darauf, dass die Beklagten die Gefährdungshaftung gem. §§ 7, 8a, 18 StVG treffe. Eine die Haftung nach § 7 StVG ausschließende höhere Gewalt wurde vom OLG nicht erörtert, da diese ersichtlich nicht vorliegen konnte. Stattdessen nahm das OLG sogar (zutreffend) eine durch einen Verkehrsverstoß des Busfahrers leicht gesteigerte Betriebsgefahr beim Abbiegen an. Zwar bedeute das für den Beklagten zu 1. (Busfahrer) gültige Licht der Ampel nach § 37 Abs. 2 S. 3 Nr. 1, S. 2 StVO, dass er nach den Regeln des § 9 StVO abbiegen dürfe. Allerdings habe derjenige, der nach § 9 StVO abbiegen wolle, u.a. auf Fußgänger zu achten und ggf. zu warten, § 9 Abs. 3 S. 3 StVO. Hier habe der Beklagte zu 1. die Fußgängerin übersehen, was zu der Notbremsung führte. Der Verkehrsverstoß sei in die Haftungsabwägung mit einzubeziehen, auch wenn nicht die Klägerin der Grund für die Notbremsung war. Der Bremsvorgang sei kein normaler Bremsvorgang im fließenden Straßenverkehr gewesen, sondern eben als Notbremsung, der eine Verletzung der Pflicht aus § 9 Abs. 3 StVO zugrunde liegt.

Allerdings läge auch ein Mitverschulden der Klägerin vor, §§ 9 StVG, 254 BGB. Der Fahrgast von Straßenbahnen und Bussen sie verpflichtet, sich im Fahrzeug einen festen Halt zu verschaffen, § 4 Abs. 3 S. 5 BefBedV. Ein Beweis des ersten Anscheins läge aber dafür nur vor, wenn keine außergewöhnlichen Fahrereignisse vorlägen (OLG Celle, Urteil vom 02.05.2019 - 14 U 183/18 -), welches hier infolge der Notbremsung vorläge. Jeder Fahrgast sei aber selbst dafür verantwortlich. Dass er durch typische und zu erwartende Bewegungen des Busses nicht zu Fall käme (KG, Urteil vom 07.05.2012 - 22 U 251/11 -). Das erfordere, gerade bei älteren Fahrgästen, ein Festhalten mit beiden Händen an der Haltestange (OLG Düsseldorf, Urteil vom 10.05.2015 - 1 U 71/14 -). Dem sei die Klägerin nicht nachgekommen. Das Festhalten mit nur einer Hand genüge schon bei ruckartigen Fahrt- oder Bremsbewegungen nicht, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.  Zudem habe die Klägerin ihren sicheren Sitzplatz im unmittelbarer Nähe zum Ausgang trotz ausgelösten Haltesignals verlassen.

Mit dem Kammergericht (KG, Beschluss vom 29.06.2010 - 12 U 30/10 -) würde das Eigenverschulden des Fahrgastes, der sich nicht ordnungsgemäß festhalte, eine Gefährdungshaftung aus einfacher Betriebsgefahr des Busses vollkommen verdrängen. Das Eigenverschulden könne sich bei Vorliegen besonderer Umstände verringern. Es sei (so hier) eine Haftungsquotelung von 50 : 50 bei einer kausalen Notbremsung des Busfahrers anzunehmen.

Schleswig-Holsteinisches OLG, Urteil vom 25.04.2023 - 7 U 125/22 -

Freitag, 31. März 2023

Rückwärtsfahrt aus Garagenausfahrt und Mithaftung des Vorbeifahrenden

Die Klägerin, deren Geschäftsführer aus einer Garagenausfahrt rückwärts auf die verkehrsberuhigte Straße auffuhr und dort mit dem vorbeifahrenden Beklagtenfahrzeug kollidierte, machte Schadensersatzansprüche gegen die Beklagten geltend. Nach Behauptung der Klägerin sei das Beklagtenfahrzeug mit überhöhter Geschwindigkeit in ihr Fahrzeug hineingefahren, nach Vortrag der Beklagten habe das Beklagtenfahrzeug zunächst gestanden, es sei (da eine Personen im anderen Fahrzeug gesehen wurde, die beabsichtigte aus der Grundstück rückwärts herauszufahren) gehupt worden und langsam wieder angefahren worden; das klägerische Fahrzeug sei dann in das Beklagtenfahrzeug hineingefahren.

Das Amtsgericht (AG) wies die Klage ab. Auf der Berufung wurde ihr zu einem geringen Teil stattgegeben. Richtig sei das Amtsgericht davon ausgegangen, dass beide Parteien grundsätzlich nach §§ 7, 17, 18 StVG für den Unfall einzustehen hätten, da beide Fahrzeuge im Betrieb waren und der Unfall auch nicht auf höhere Gewalt zurückzuführen sei, ferner der Unfall auch für beide Parteien kein unabwendbares Ereignis iSv. § 17 Abs. 3 StVG darstelle.

Zu Lasten der Klägerin sei zudem ein Sorgfaltsverstoß beim Rückwärtsfahren einzustellen. Das Berufungsreicht ließ offen, ob dies unmittelbar aus § 9 Abs. 5 StVO (beim Rückwärtsfahren ist eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer auszuschließen)  abgeleitet werden könne, da es sich um eine verkehrsberuhigten Bereich handele (§ 42 StVO, Zeichen 325.1/325.2), oder in einem solchen ähnlich wie auf einem Parkplatz entsprechendes aus dem Rücksichtnahmegebot des § 1 Abs. 2 StVO abzuleiten wäre. Auch im Anwendungsbereich des § 1 Abs. 2 StVO greife ein Anscheinsbeweis für ein Verschulden des Rückwärtsfahrenden (BGH, Urteil vom 11..10.2016 - VI ZR 66/16 -). Ferner sei zu Lasten der Klägerin ein Verstoß gegen die Sorgfaltspflicht aus § 10 StVO (der aus  einem Grundstück Herausfahrende hat sich so zu verhalten hat, dass er andere Verkehrsteilnehmer nicht gefährdet) zu berücksichtigen.

Ein Überschreiten der zulässigen Geschwindigkeit in einem verkehrsberuhigten Bereich durch das Beklagtenfahrzeug sie nicht festzustellen. Nicht berücksichtigt habe das AG allerdings, dass  der Fahrer des Beklagtenfahrzeugs die Gefahr erkannt habe: Das mit einer Person besetzte Fahrzeug und dass dieses über kurz oder lang rückwärts ausfahren würde. Deshalb sei auch gehupt worden. Allerdings hätte in dieser Situation das Klägerfahrzeug weiter beobachtet werden müssen, um bei dessen Zurücksetzen sofort anhalten zu können. Die Beobachtung wurde beim Losfahren unterlassen, weshalb es auch vorkollisionär nicht zum Stillstand des Beklagtenfahrzeugs gekommen sei.

Damit sei ein Zurücktretend er Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs hinter dem Verschulden der Klägerseite ausgeschlossen. Dahinstehen könne, ob - wie auf Parkplätzen- im verkehrsberuhigten Bereich die Betriebsgefahr regelmäßig nicht zurücktrete, da Sorgfaltspflichten stärker einander angenähert seien,, indem Kraftfahrer jederzeit auf bevorrechtigten Fußgängerverkehr Rücksicht zu nehmen hätten, was nur bei Einhaltung der Schrittgeschwindigkeit und ständiger Bremsbereitschaft möglich sei. Der festgestellte leichte Sorgfaltsverstoß führe zu einer unfallursächlichen Erhöhung der allgemeinen Betriebsgefahr und rechtfertige eine Mithaftung von 20% (§ 17 Abs. 1 StVG).

LG Saarbrücken, Urteil vom 20.01.2023 - 13 S 60/22 -

Dienstag, 21. Juni 2022

Crash bei Ausparken und Fahrspurwechsel - wer haftet ?

Der Transporter Opel Vivaro der Klägerin stand in einer längs zur Fahrbahn angeordneten Parkbucht auf der rechten Seite der in Fahrtrichtung zweispurig verlaufenden Straße in Düsseldorf. Die Beklagte vollzog mit ihrem Pkw einen Fahrspurwechsel vom linken auf den rechten Fahrstreifen und hatte diesen auch schon zur Hälfte beendet, als sie mit dem Transporter der Klägerin, die gerade ausparkte, kollidierte. Der Transporter befand sich zum Kollisionszeitpunkt mit der linken Front auf dem rechten Fahrtstreifen und fuhr vorwärts.

 Das Amtsgericht hatte auf der Basis einer hälftigen Haftungsquotelung der Klage stattgegeben.  Dies wurde vom Landgericht (Berufungsgericht) auf die Berufung der Beklagten bestätigt. Der BGH hob auf die zugelassene Revision hin das Urteil auf und verwies den Rechtsstreit an das Landgericht zurück.

Vorab verwies der BGH darauf, dass die Entscheidung über die Haftungsverteilung im Rahmen des § 17 StVG (wie auch im Rahmen des Mitverschuldens nach § 254 BGB) Sache des Tatrichters sei und im Rahmen der Revision nur darauf überprüft werden könne, ob alle in Betracht kommenden Umstände vollständig und richtig berücksichtigt und der Abwägung rechtlich zulässige Erwägungen zugrunde gelegt worden seien. Dies sah der BGH vorliegend als nicht gegeben an.

Richtig habe zwar das Landgericht ein schuldhaftes Verhalten der Klägerin in deren Verstoß gegen § 10 S. 1 StVO gesehen. Danach müsse sich derjenige, der von einem anderen Straßenteil (hier die Parkbucht) auf die Fahrbahn einfährt, so verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen sei; die auf der Straße fahrenden Fahrzeuge hätten gegenüber dem auf diese einfahrenden Verkehr Vorrang. Auf diesen Vorrang dürfte die auf der Straße fahrenden Verkehrsteilnehmer (mithin der fließende Verkehr) vertrauen, wobei der Vorrang für die gesamte Fahrbahn gelte.  Nur unter Beachtung dieses Umstandes dürfe der Einfahrende einfahren und könne nicht darauf vertrauen, dass die rechte Fahrspur frei bleibe; er müsse stets mit einem Fahrspurwechsel rechnen. Vor diesem Hintergrund habe die Klägerin habe die Klägerin, nachdem das Beklagtenfahrzeug für sie sichtbar wurde, was unterblieben sei.

Rechtsfehlerhaft sei allerdings die Annahme eines Verstoßes der Beklagten gegen § 7 Abs. 5 S. 1 StVO. Danach dürfe ein Fahrstreifenwechsel nur vorgenommen werden, wenn eine Gefährdung „anderer Verkehrsteilnehmer“ ausgeschlossen sei. Zwar sei grundsätzlich „anderer Verkehrsteilnehmer“ jede Person, die sich selbst verkehrserheblich verhalte, also körperlich und unmittelbar auf den Ablauf eines Verkehrsvorgangs einwirke. Im Rahmen des § 7 Abs. 5 S. 1 StVO sei aber „anderer Verkehrsteilnehmer“ nur ein Teilnehmer am fließenden Verkehr, mithin nicht derjenige, der vom Fahrbahnrand in den fließenden Verkehr einfahre.  Dies ergäbe sich zwar nicht aus dem Wortlaut, aber aus der Entstehungsgeschichte der Norm, ihrer systematischen Stellung und ihrem Sinn und Zweck. So würde es in der Begründung zur Norm des § 7 vom 16.11.1970 (VkBl 1970, 735, 805) heißen, die Norm betreffe lediglich, wie sich aus der Überschrift ergeben, lediglich den Fahrverkehr. Vom Schutz der An- und  Einfahrenden sei dort keine Rede.  

Auch die systematische Stellung des Absatzes 5 nach § 7 Abs. 1 bis 4 belege den eingeschränkten Schutzzweck von § 7 Abs. 5 S. 1 StVO. Bei § 7 StVO handele es sich um eine Ausnahmevorschrift vom Rechtsfahrgebot des § 2 Abs. 2 StVO. § 7 Aabs. 1 bis 4 SVO enthalte Regelungen für das Befahren von Fahrbahnen mit mehreren Fahrstreifen für eine Richtung, weshalb mit den Wörtern „in allen Fällen“ in § 7 Abs. 5 S. 1 StVO auf die in § 7 Abs. 1 bis 4 dargestellte Situation des Fahrstreifenwechsel Bezug genommen würde.  Die Ausnahme vom Rechtfahrgebot in § 2 Abs. 2, welches dem Schutz des fließenden Verkehrs diene, sei erfolgt, um den Mehrreihenverkehr von Fahrzeugen zu ermöglichen (Begründung der Norm aaO.).

Müsste daher der fließende Verkehr dieselben höchsten Sorgfaltsanforderungen gegenüber allen Verkehrsteilnehmern wie der Einfahrende wahren, stünden sich gleichartige Sorgfaltsanforderungen gegenüber, die mir dem sich aus § 10 StVO ergebenden Vorrang des fließenden Verkehrs nicht zu vereinbaren wären. Der Vorrang des fließenden Verkehrs würde gerade würde gerade mit den besonders hohen Sorgfaltsanforderungen des Einfahrenden begründet (z.B. Begründung zu § 10 StVO in VkBl 1988, 210, 221).

An einer Entscheidung in der Sache sah sich der BGH gehindert, da sich das Landgericht - folgerichtig nach seiner Rechtsauffassung - nicht geprüft habe, ob die Beklagte schuldhaft gegen § 1 Abs. 2 StVO verstoßen hat. Das Rücksichtnahmegebot aus § 1 StVO gelte auch hier und eine mäßige Behinderung sei hinzunehmen (BGH, Beschluss vom 06.12.2978 - 4 StR 130/78 -). Würden sich für den fließenden Verkehr keine Anzeichen für eine Verletzung seines Vorrangs ergeben, dürfe er darauf vertrauen, dass der Einfahrende sein Vorrecht beachte. Dieses Recht käme auch dem Fahrspurwechsler zugute. Die Weiterfahrt dürfe aber nicht erzwungen werden (§ 11 Abs. 3 StVO), so dass gegebenenfalls durch Verlangsamung die Ein- und Anfahrt erleichtert werden müsse, da ansonsten im Stadtverkehr jedes Ein- oder Anfahren zum Erliegen käme. Die Feststellung des Landgerichts als Berufungsgericht zu einer von ihm angenommenen Verletzung des § 7 Abs. 5 S. 1 StVO (die nach o.g. Darlegung des BGH nicht vorlag) reiche nicht aus, auch eine schuldhafte Verletzung des § 1 Abs. 2 StVO zu bejahen.  Es sei lediglich festgestellt worden, dass die Beklagte zu 1. Den Fahrstreifenwechsel schon zu mehr als die Hälfte vollzogen habe, als es zum Zusammenstoß gekommen sei. Feststellungen dazu, ob die Beklagte zu 1. Den Ausparkvorgang hätte erkennen können und noch vom Fahrstreifenwechsel hätte Abstand nehmen oder diesen unterbrechen können, um einen Zusammenstoß zu verhindern, würden fehlen.

BGH, Urteil vom 08.03.2022 - VI ZR 1308/20 -