Donnerstag, 6. Oktober 2022

Arzthaftung: Anhörung des Patienten zum Entscheidungskonflikt bei korrekter Aufklärung

Der Kläger wurde vom beklagten Augenarzt behandelt. Es erfolgte ein refraktiver Eingriff bei Kurzsichtigkeit. In Vollnarkose erfolgte eine LASIK-Laserbehandlung, bei der es infolge des Kneifens des Auges zu einer Dezentrierung des Laserschnitts kam. Der Beklagte brach daraufhin die LASIK-Behandlung ab und führte  eine photoreaktive EXCIMER-Laserbehandlung (PRK) durch. Einige Zeit später behandelte er das andere Auge des Klägers ebenfalls eine Revisions-PRK durch.  Der Kläger machte fortbestehende Sehbeschwerden und Augentrockenheit als Folge der Behandlung geltend; er rügte eine vom Beklagten unterlassene Aufklärung über die Risiken der Operation. Das Landgericht wies die Klage ab; die Berufung des Klägers wurde mit Beschluss nach § 522 ZPO zurückgewiesen. Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers bei dem BGH wurde der Beschluss des OLG aufgehoben und der Rechtsstreit an dieses zurückverwiesen.

Das OLG unterstellte zugunsten des Klägers eine unterlassene Aufklärung des Klägers über die Risiken einer PRK-Operationstechnik, ferner, dass es sich dabei um eine Behandlungsalternative zum LASIK-Verfahren handele. Eine Anhörung des Klägers sei nicht erforderlich, da eine hypothetische Einwilligung des Klägers vorläge; einen Entscheidungskonflikt habe der Kläger nicht plausibel schriftsätzlich dargelegt. Diese Ausführungen des OLG, so der BGH, würden den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör (Art. 103 GG) entscheidungserheblich verletzen.

Genüge die ärztliche Aufklärung nicht den an sie zu stellenden Anforderungen könne der behandelnde Arzt geltend machen, dass der Patient auch bei einer ordnungsgemäßen Aufklärung in die verwandte Behandlungsmethode eingewilligt hätte, § 630h Abs. 2 S. 2 BGB. Die Nachweispflicht dafür obläge dem Arzt. Allerdings setze dies voraus, dass zuvor der Patient zur Überzeugung des Tatrichters plausibel mache, dass er bei einer rechtzeitigen ordnungsgemäßen Aufklärung über Risiken des Eingriffs vor einem echten Entscheidungskonflikt gestanden hätte (so bereits BGH, Urteil vom 21.05.2019 - VI ZR 119/18 -). Dabei könnten an die Substantiierungsanforderung zu einem solchen Konflikt keine zu hohen Anforderungen gestellt werden. Entscheidend sei die persönliche Entscheidungssituation des jeweiligen Patienten; nicht käme es darauf an, was aus ärztlicher Sicht erforderlich oder sinnvoll sei und wie ein „vernünftiger Patient“ entscheiden würde. Das Gericht dürfe seine persönliche Beurteilung nicht an die Stelle des Patienten setzen. Gedankliche Voraussetzung des Entscheidungskonflikts wie der hypothetischen Einwilligung insgesamt sei stets die Hypothese einer ordnungsgemäßen, insbesondere auch vollständigen Aufklärung.

Die Entscheidung, wie der Patient unter der genannten Voraussetzung entschieden hätte und darüber, ob für ihn eine Entscheidungskonflikt vorlag, dürfe der Tatrichter nicht ohne persönliche Anhörung des Patienten treffen. So würde verhindert, dass das Gericht vorschnell auf bei objektiver Betrachtung als naheliegend oder vernünftig  erscheinende Umstände abstelle. Er müsse auch möglicherweise weniger naheliegende oder auch unvernünftig erscheinende Erwägungen des Patienten in Betracht ziehen. Durch die persönliche Anhörung soll es dem Gericht ermöglicht werden, den anwaltlich vorgetragenen Gründen für und gegen einen Entscheidungskonflikt  durch konkrete Nachfragen nachzugehen und sie aufgrund des gewonnenen persönlichen Eindrucks vom Patienten sachgerecht bewerten zu können. Nur dann, wenn die unstreitigen äußeren Umstände eine sichere Beurteilung der hypothetischen Entscheidungssituation erlauben würden, könne von der Anhörung des Patienten abgesehen werden.

Vorliegend sei schriftsätzlich vorgetragen worden, der Kläger hätte sich gegen eine PRK ausgesprochen, da diese nach seiner Kenntnis nicht unter Vollnarkose durchgeführt würde. Das sei wenig plausibel, da sie vorliegend unter Vollnarkose durchgeführt worden sei. Allerdings sei deswegen ohne Anhörung des Klägers eine sichere Beurteilung nicht ausnahmsweise möglich gewesen, da die äußeren Umstände der Aufklärung und der tatsächlichen Entscheidungssituation des Klägers nicht unstreitig geblieben seien; insbesondere habe das OLG nicht den Inhalt der im Streitfall gebotenen vollständigen Aufklärung definiert und es sei nicht erkennbar, ob der Kläger bei seinen Ausführungen zum Entscheidungskonflikt von der Hypothese einer entsprechenden vollständigen Aufklärung ausgegangen sei.

BGH, Beschluss vom 21.06.2022 - VI ZR 310/21 -

Montag, 3. Oktober 2022

Haftung des Besitzers des störenden Grundstücks (grenznaher Baumbewuchs)

Der Kläger erhob gegen den Beklagten zu 1 als Eigentümer des Nachbargrundstücks und gegen dessen Ehefrau, die Beklagte zu 2 als Mitbesitzerin desselben Klage auf Beseitigung von grenznahen Bäumen. Während des Rechtsstreits beseitigte der Beklagte zu 1 die Bäume. Der Rechtsstreit wurde zwischen dem Beklagten zu 1 und dem Klägerübereinstimmend für erledigt erklärt; die Beklagte zu 2 schloss sich dem nicht an, die behauptete, die Bäume nicht gepflanzt zu haben. Die Klage gegen die Beklagte zu 2, die als Feststellungsantrag gegen sie aufrechterhalten blieb, wurde vom Landgericht abgewiesen. Zwar sei sie zulässig, in der Sache aber nicht begründet gewesen. Die Beklagte zu 2 sei nicht Verhaltensstörerin gewesen; der Kläger habe keinen Beweis dafür erbracht, dass nicht nur der Beklagte zu 1, sondern beiden Beklagten gemeinsam die Bäume gepflanzt hätten.

Die Beklagte zu 2 sei unstreitig nicht als Miteigentümerin im Grundbuch eingetragen. Deshalb könne sie auch nicht Zustandsstörerin kraft Eigentümerstellung sein, auch wenn sie ihre Zustimmungserklärung zu dem Baugesuch des Beklagten zu 1 erteilt habe. Aus dieser Zustimmung ergebe sich kein Rechtsschein oder Vertrauenstatbestand für ihre Eigentümerposition.

Unstreitig sei die Beklagte zu 2 aber Mitbesitzerin des Grundstücks gewesen. Soweit sich der Mitbesitz einer Sache wegen ihrer Lage oder Beschaffenheit störend auswirke, könne aber der Besitzer auch Zustandsstörer sein. Umstritten sei aber, ob dies auch in den Fällen gelte, in denen sich die Störung nur durch einen Eingriff in die Sachsubstanz (hier dem Fällen der Bäume) beseitigen lasse. Soweit dies bejaht würde, würde insoweit auf § 77 ZPO verwiesen. Die Gegenmeinung stütze sich auf § 257 BGB, wonach ein Anspruch gerade insoweit ausgeschlossen würde, wie dem Schuldner die Leistung unmöglich sei, wonach der Besitzer unter Bezugnahme auf § 77 ZPO bejaht würde, folge dem das Gericht nicht. Der Gegenmeinung sei zu folgen.

Die Argumentation zu § 77 ZPO sei nicht überzeugend, da prozessuale Regelungen materiell-rechtliche Ansprüche lediglich flankieren und ihnen zur Durchsetzung verhelfen sollen. Sie würden nicht dazu dienen, die Reichweite eines materiell-rechtlichen Anspruchs auszudehnen. Zudem ergäbe sich ein Widerspruch zu § 903 BGB, demzufolge der Eigentümer einer Sache mit dieser nach belieben verfahren könne und Dritte - auch den sein Besitzrecht überschreitenden Mitbesitzer - von jeder Einwirkung ausschließen kann.  Das Eigentum würde nur durch beschränkt dingliche Rechte beschränkt. Daher sei der beklagten zu 2 die vom Kläger begehret Handlung unmöglich gewesen, da sie nicht gegen den Willen des Eigentümers die streitgegenständlichen Bäume hätte beseitigen oder beseitigen lassen durfte.

Anderes ergebe sich auch nicht aus § 862 Abs. 1 BGB, da sich die gleiche Problematik stelle, ob der bloße Mitbesitz als Nichteigentümer gegenüber dem Besitzer des Nachbargrundstücks eine Pflicht zur Verhinderung möglicher Störungen der Besitzstellung des Nachbarn unterfalle. Es würden hier die Grundsätze des § 1004 BGB gelten.  

LG Baden-Baden, Urteil vom 11.04.2022 - 4 O 19/21 -

Freitag, 30. September 2022

Kindeswohlentscheidung, § 1666 BGB: Anforderungen an Gericht, § 159 FamFG

Das Jugendamt regte ein Verfahren beim Familiengericht an, bei dem dem Kind der nicht verheirateten Eltern eine Verfahrensbeiständin bestellt wurde und die Eltern im Termin, bei dem das Kind nach dem Protokoll zugegen war, angehört wurden. In der Sache ging es um die Verpflichtung der Eltern, Sozialpädagogische Familienhilfe vor dem Hintergrund in Anspruch zu nehmen, dass die Mutter  an einer Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ Schizophrenie litt. Dem gab das Amtsgericht auf der Grundlage von § 1666 BGB („Gerichtliche Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls“) mit der Begründung statt, die Hilfe sei zur dauerhaften Sicherstellung des Kindeswohls notwendig.

Die von den Eltern gegen den Beschluss des Familiengerichts eingelegte Beschwerde führte zur Aufhebung desselben und Zurückverweisung des Verfahrens an das Familiengericht.

Nach Auffassung des OLG lägen die Voraussetzungen für eine Zurückverweisung gem. § 69 Abs. 1 S. 3 FamFG vor, da das Verfahren an einem schwerwiegenden Verfahrensmangel leide und eine umfassende und aufwändige Beweisaufnahme für eine Entscheidung erforderlich würde. Den schwerwiegenden sah das OLG darin, dass die nach § 159 FamFG vorgesehene Anhörung des Kindes unterblieb noch sich das Familiengericht einen unmittelbaren Eindruck von diesem gemacht habe, § 159 Abs. 1 FamFG. Weder seien Gründe dargelegt noch ersichtlich, § 159 Abs. 2 FamFG.

Durch § 159 FamFG in seiner jetzigen Fassung habe der Gesetzgeber (altersunabhängig) der Rechts- und Subjektstellung des Kindes im Verfahren Rechnung getragen und eine kindgerechte Justiz befördert. Auch wenn das Kind noch nicht in der Lage sei, seinen Willen und seine Neigungen zu artikulieren, habe sich das Gericht in Kinderschutzverfahren jedenfalls einen persönlich Eindruck zu verschaffen, § 159 Abs. 2 S. 2 FamFG.  

Es bedürfe hier im Rahmen der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks der expliziten Wahrnehmung des Kindes, was auch bedeute, dass das Gericht das Kind zumindest kurz in seinem Verhalten beobachtet, um so Rückschlüsse auf seine Befindlichkeit ziehen zu können. Das sei bei sehr kleinen Kindern häufig nur durch einen unmittelbaren Kontakt des Richters mit diesen möglich. Es sei zudem zum Ergebnis ein Vermerk zu fertigen, in welchem die der persönliche Eindruck und das Verhalten des Kindes geschildert würde und den Beteiligten zu diesem Vermerk rechtliches Gehör gewährt werde.

Hier wurde lediglich vermerkt, dass das Kind zugegen war. Dass sich das Gericht einen persönlichen Eindruck vom Kind verschafft habe, sei nicht vermerkt. Es sei auch nicht ersichtlich, dass die persönliche Anhörung des Kindes in irgendeiner Art und Weise in die Entscheidung, in der sie auch nicht erwähnt worden sei, berücksichtigt wurde.

Der von den Eltern beantragten Zurückverweisung sei zu entsprechen, da die Nachholung der persönlichen Anhörung des Kindes umfangreich bzw. aufwändig wäre und hinzukommen würde, dass sich in Folge der Anhörung zusätzliche Anhaltspunkte für ein derzeit noch nicht abzusehendes Ausmaß weiterer notwendiger Ermittlungen ergeben könnten. Gründe, die hier einer Zurückverweisung nach § 155 Abs. 1 FamFG (Vorrang- und Beschleunigungsgebot) entgegenstehen könnten, lägen nicht vor.

 OLG Frankfurt, Beschluss vom 12.07.2022 - 1 UF 240/21 -

Montag, 26. September 2022

Insolvenzantrag beim örtlich unzuständigen Gericht und Sitzverlegung in EU-Mitgliedstaat

Eine Gläubigerin beantragte die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Schuldnerin bei dem AG Cottbus. Dort ging der Antrag am 28.10.2018 ein. Mit Beschluss vom 12.06.2019 verwies das AG Cottbus die Sache an das örtlich zuständige AG Charlottenburg. Von der Schuldnerin wurde die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte bestritten. Sie hatte zum Zeitpunkt des Eingangs des Insolvenzantrages bei dem AG Cottbus hatte sie nach Handelsregistereintrag ihren Sitz im dortigen Amtsgerichtsbezirk. Dort war sie allerdings nie tätig, sondern hatte in 2017 ihr Gewerbe in Berlin angemeldet. Am 24.04.2019 übertrug der geschäftsführende Alleingesellschafter seine Anteile an der Schuldnerin auf eine in Polen ansässige Person, der Sitz der Gesellschaft wurde zeitgleich nach Berlin verlegt und eine in Polen ansässige Person zur Geschäftsführerin bestellt. Diese teilte dem Insolvenzgericht (AG Charlottenburg) mit Datum vom 25.07.2019 mit, sie führe die Geschäfte der Schuldnerin ausschließlich von Polen aus.

Mit Beschluss vom 08.07.2019 wies das AG - Insolvenzgericht - Charlottenburg den Eröffnungsantrag mangels einer die Kosten des Verfahrens deckenden Masse ab. Die dagegen von der Schuldnerin eingelegte Beschwerde wurde zurückgewiesen, ebenso die gegen die Zurückweisung zugelassene Rechtsbeschwerde zum BGH, mit der die Schuldnerin die Zurückweisung des Eröffnungsantrages als unzulässig begehrte.

Der BGH verwies darauf, dass sich die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichts nach Art. 3 der Verordnung (EU) 2015/848 vom 20.05.2015 über Insolvenzverfahren (EuInsVO) richte. Danach seien die Gerichte des Mitgliedsstaates der EU für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens zuständig, in dessen Hoheitsgebiet der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen habe. Entscheidend sei danach der Zeitpunkt der Antragstellung, wenn der Schuldner nach Antragstellung, aber vor einer Entscheidung über den Antrag über die Eröffnung des Insolvenzantrages diesen Mittelpunkt in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats verlege (EuGH, Urteile vom 17.01.2006 - C-1/04 - und vom 24.03.2022 - C-723/20 -).

Der Mittelpunkt habe sich hier zum Zeitpunkt des Eingangs des Antrages bei dem AG Cottbus in Deutschland, nämlich Berlin, befunden. Erst durch die Transaktion der Anteile an der Schuldnerin, und Änderung der Geschäftsführung habe die Schuldnerin, deren satzungsmäßiger Sitz weiterhin in Deutschland lag, die Geschäfte von Polen aus fortgeführt.

Es käme nicht darauf an, dass der Antrag bei dem örtlich unzuständigen Gericht AG Cottbus und nicht bei dem zuständigen Amtsgericht in Berlin gestellt worden sei. Ein Insolvenzantrag würde nach dem (insoweit maßgeblichen) deutschem Recht mit dem Eingang bei dem zuerst angerufenen Gericht anhängig. Mit der Verweisung durch das örtlich unzuständige an das örtlich zuständige Gericht würde kein neues Eröffnungsverfahren begründet, sondern das Verfahren bei dem dann örtlich zuständigen Gericht lediglich fortgesetzt.

Der vorliegende europäische Bezug würde daran nichts ändern, da die EuInsVO nur die internationale Zuständigkeit regele (§ 26 EuInsVO), nicht aber die sachliche und örtliche Zuständigkeit im Mitgliedstaat.  Dies entspräche auch Sinn und Zweck der EuInsVO über Insolvenzverfahren, deren Ziel die Verhinderung der Verlagerung von Vermögensgegenständen oder Rechtsstreitigkeiten von einem Mitgliedstaat in einen anderen zu verhindern, um so eine verbesserte Rechtslage zu erhalten. Damit würde die nach den Erwägungsgründen drei und acht der EuInsVO gewollte Effizienz und Wirksamkeit grenzüberschreitender Verfahren beeinträchtigt, da der Gläubiger gezwungen wäre, gegen den Schuldner immer wieder dort vorzugehen, wo dieser sich gerade für kürzere oder längere Zeit niederlasse, was zu einer Verlängerung des Verfahrens führen könnte (EuGH, Urteil vom 24.03.2022 - C-723/20 -). Selbst wenn der Eröffnungsantrag in einem Mitgliedstaat bei dem örtlich unzuständigen Gericht erhoben würde, soll dem Schuldner nicht die Möglichkeit zu einem Wechsel der internationalen Zuständigkeit gegeben werden.

Anmerkung: Die hier vorliegende Problematik hat ihren Hintergrund in dem Umstand, dass der satzungsmäßige Sitz nicht identisch mit dem Sitz der Verwaltung sein muss. Innerhalb der EU kann daher eine Gesellschaft zwar ihren Sitz z.B. in Berlin haben, ihren Verwaltungssitz aber in Frankreich oder Polen. Der Verwaltungssitz ist der o.g. Mittelpunkt, weshalb sich die Zuständigkeit auch für Insolvenzverfahren danach orientiert. Diesen Umstand wollte sich hier offensichtlich die Schuldnerin nutzbar machen, indem sie den Verwaltungssitz nach Polen verlagerte, um so die internationale Zuständigkeit der deutschen Insolvenzgerichte auszuschließen, da mit der Eröffnung des Insolvenzverfahren als auch, wie geschehen, durch die Versagung der Eröffnung mangels einer die Kosten des Verfahrens deckenden Masse die Gesellschaft nicht mehr werbend tätig werden kann.

BGH, Beschluss vom 07.07.2022 - IX ZB 14/21 -

Sonntag, 25. September 2022

Rechte des unmittelbaren Fahrzeugbesitzers nach Verkehrsunfall

Der Kläger war zum Unfallzeitpunkt Besitzer und Halter des bei einem Verkehrsunfall beschädigten Fahrzeugs, nicht aber dessen Eigentümer und machte gegen die Beklagten Schadensersatzansprüche (fiktive Reparaturkosten, Wertminderung, Sachverständigenkosten und Schadenspauschale) geltend. Während das Landgericht der Klage stattgab, wies sie das OLG ab. Die (teilweise) zugelassene Revision wurde vom BGH zurückgewiesen.

Der Kläger hatte (in seinem der Revision zugrundeliegendem Hauptantrag) den Anspruch auf eigenes Recht gestützt. Unklar sei, auf welcher Grundlage der Kläger den Besitz des sicherungshalber an eine Bank (Darlehensnehmerin die Schwester des Klägers) innehalte und es könne zudem nicht beurteilt werden, welche Rechte und Pflichten er in diesem Zusammenhang habe.

Der berechtigte unmittelbare Besitz an einer Sache sei nach § 823 Abs. 1 BGB geschützt. Das entsprechende Recht könne auch vom Besitzer der Sache geltend gemacht werden. Auch könne sich ein Anspruch des Besitzers aus § 7 StVG ergeben BGH, Urteil vom 29.01.2019 - VI ZR 481/17 -). Jedenfalls könne der in seinem unmittelbaren Besitz Verletzte Ersatz des Haftungs- und Nutzungsschadens verlangen; ob er auch den Substanzschaden begehren könne, könne auch im vorliegenden Fall auf sich beruhen.

Das OLG habe den begehrten Schadenersatz zutreffend mit der Begründung abgewiesen, es läge ein Haftungsschaden des Klägers mangels einer Instandsetzungsverpflichtung des Klägers nicht vor. Insoweit besteht die Möglichkeit, dass der Schaden des Besitzers in seiner Verpflichtung zu einer Reparatur gegenüber der Person besteht, von der er sein Recht zum Besitz ableite (BGH aaO.). Hier ergäbe sich nach den Feststellungen des OLG nicht, ob, wie und wem gegenüber er zur Instandsetzung verpflichtet gewesen wäre. Der Verweis auf die Finanzierungsbedingungen und den Sicherungsübereignungsvertrag , demgemäß das Fahrzeug instand zu setzen sei, trage nicht, da Kreditnehmerin die Schwester des Klägers sei. Die träfe die Pflicht zur Reparatur. Eine an die Haltereigenschaft anknüpfende Wertung, der Kreditvertrag sei zugunsten des Klägers geschlossen worden, finde im Vortrag des Klägers keine Grundlage.

Einen Anspruch auf den Substanzschaden habe der Kläger auch nicht, unabhängig davon, welche Voraussetzungen für die Geltendmachung durch den unmittelbaren Besitzer dafür ggf. vorliegen müssten und auf welche Weise eine etwaige Anspruchskonkurrenz aufzulösen wäre (zum Schaden des Leasingnehmers BGH aaO.). Es sei kein Vortrag dazu erfolgt, welche Rechte dem Kläger zum Unfallzeitpunkt durch den Besitz verschafft werden sollten, so zu der Rechtsbeziehung bezüglich des Fahrzeugs zwischen ihm und seiner Schwester bestanden hätten. Ein Recht zum Besitz könne aber der Kläger allenfalls von bzw. über seine Schwester, die das Darlehen aufgenommen und die Sicherungsübereignung vorgenommen habe, erworben haben.

BGH, Urteil vom 24.05.2022 - VI ZR 1215/20 -

Freitag, 23. September 2022

Gebäudeversicherung: Gebäudeschaden durch Abriss von Efeubewuchs bei Sturm

Die Kläger unterhielten (jedenfalls einer der Kläger, was offen bleiben konnte) bei der Beklagten eine Wohngebäudeversicherung. Nach dem klägerischen Vortrag sei der Efeu, mit dem die Fassade bewachsen gewesen sei, bei Sturm mit Gewalt von der Gebäudefassade abgerissen worden und hatte diese dabei beschädigt. Das Landgericht wies die Klage gegen den Versicherer, der eine Regulierung abgelehnt hatte, ab; auf die eingelegte Berufung der Kläger wies das OLG darauf hin, dass die Berufung keine Aussicht auf Erfolg habe, woraufhin sie zurückgenommen wurde.

Das OLG hielt unter Bezugnahme auf die dem Versicherungsvertrag zugrunde liegenden Allgemeinen Versicherungsbedingungen für Wohngebäude (VGB 2017) fest, dass der Versicherer Entschädigung für versicherte Sachen leiste, die durch einen Sturm zerstört oder beschädigt würden oder infolge des Sturms abhanden kämen (Nr. 4.1.3 VGB 2017). Der Sturm müsse entweder unmittelbar auf die versicherte Sache (Gebäude) einwirken oder es müssten sonstige Gegenstände auf die versicherte Sache geworfen werden (Nr. 7.2.1. und 7.2.2 VGB 2017) und es müsste dadurch zu dem Schaden am Gebäude kommen. Der Sturm habe hier ersichtlich keine Gegenstände auf das Gebäude geworfen, weshalb für einen Anspruch aufgrund der Schäden nur die erste Variante in Betracht käme.

An einer unmittelbaren Einwirkung des Sturms würde es hier aber fehlen. Eine unmittelbare Einwirkung läge vor, wen Luft (als Sog oder als Druck) auf diese einwirke und zur Beschädigung führe. Vorliegend aber habe der Sturm auf das Efeu eingewirkt und dieses von der Fassade mit Gewalt abgerissen; durch das Abreißen sei es zur Beschädigung an der Gebäudefassade gekommen. Der Efeu sei keine versicherte Sache, wie Nr. 1.3.4 VGB 2017 klarstelle, demzufolge Pflanzen nicht zu den versicherten Bestandteilen in der Versicherung zählen würden. Auch würde es sich bei dem Efeu nicht um versichertes Zubehör iSv. Nr. 1.3.3 VGB 2017 handeln; auch wenn der Efeu nach dem Vortrag der Kläger dazu diene, die Fassade vor „normalen“ Witterungseinflüssen zu schützen, sei dieser doch dauerhaft mit dem Boden verbunden und daher kein Bestandteil des Gebäudes sondern des Grundstücks. Das Efeu sei nicht iSv. Nr. 1.3.3 VGB 2017 zur Instandhaltung des Gebäudes genutzt worden.

Das Abreißen des Efeus durch den Sturm sei auch nicht vergleichbar mit einer künstlich (durch den Menschen angebrachten) Fassadenverkleidung vergleichbar, bei deren sturmbedingten Herausreißen und dadurch bedingter Schädigung der Fassade Ersatz zu leisten sei. Denn in diesem Fall der künstlichen Fassadenverkleidung, die an der Fassade angebracht worden wäre, würde es sich um einen Bestandteil der Fassade handeln, anders als nach Nr. 1.3.4 VGB 2017 bei Pflanzen.

OLG Hamm, Beschluss vom 03.06.2022 - 20 U 173/22 -

Sonntag, 18. September 2022

Prozesskostenhilfe deckt nicht die auf die Staatskasse übergegangenen Ansprüche

In einem Familienrechtsverfahren wurde beiden Seiten Prozesskostenhilfe (PKH) gewährt. In diesem Verfahren legte das Familiengericht Antragsteller und Antragsgegnerin die Kosten des Verfahrens zu je 50% auf. Nachdem der Verfahrensbevollmächtigte der Antragsgegnerin gem. §§ 49 ff RVG die Festsetzung seiner Gebühren verlangte und diese in Ansehung der gewährten PKH von der Staatskasse ausgeglichen wurden, machte die Staatskasse die auf sie nach § 59 RVG übergegangenen Rechtsanwaltskosten mit Schlusskostenrechnung entsprechend der Quote in dem Kostenbeschluss des Familiengerichts gegen den Antragsteller geltend. Dagegen wandte sich der Antragsteller mit seiner Erinnerung. Das Familiengericht wies die Erinnerung zurück. Die dagegen eingelegte Beschwerde hatte lediglich betreffend der berechneten Termingebühr Erfolg, da ein Termin oder eine Besprechung als Voraussetzung nicht stattgefunden hatte, und wurde im Übrigen zurückgewiesen.

Im Rahmen seiner Entscheidung wies das OLG darauf hin, dass es an seiner bisherigen Auffassung (Beschlüsse aus 2001 und 1013) nicht mehr festhalte und sich der ganz herrschenden anderweitigen Meinung im Schrifttum zur Frage der Berechtigung der Geltendmachung der auf die Staatskasse übergegangenen Ansprüche gegenüber der anderen, auch prozesskostenberechtigten Partei anschließe.

Soweit in § 122 Abs. 1 Nr. 1 b ZPO von „beigeordneten Rechtsanwälten“ die Rede sei, könne dies allenfalls ein Indiz dafür sein, dass der aus einer PKH auf die Staatsasse übergegangene Anspruch nicht gegenüber der anderen Partei, der auch PKH gewährt worden sei, geltend gemacht werden könne. Theoretisch sei es auch möglich, dass einer Partei zwei Rechtsanwälte beigeordnet werden. Angesehen davon sei in der Verwendung des Plurals durch den Gesetzgeber kein Argument dafür zu sehen, dass § 122 Abs. 1 Nr. 1 b ZPO auch Ansprüche aus § 126 ZPO (Beitreibung der Kosten durch die Partei selbst) sperre, soweit diese auf die Staatskasse übergegangen seien. Zudem ließe sich eine Sperre aus den Gesetzesmaterialien auch nicht klar entnehmen und könne auch eine gesetzgeberische Vorstellung ohnehin nicht im Vergleich zum Wortlaut und der klaren Vorgabe in §$ 123 ZPO entscheidende Bedeutung zukommen.

In den früheren Entscheidungen habe der Senat des OLG auf den Zweck der Verfahrenskostenhilfe abgestellt. Dieser stünde aber der Geltendmachung der Ansprüche der Rechtsanwälte über § 59 RVG nicht entgegen. Auch eine weniger bemittelte Partei soll die Chance erhalten, ihre Rechte durchzusetzen, weshalb die Staatskasse nach Maßgabe des entsprechenden bewilligenden PKH-Beschlusses des Gerichts sowohl die Gerichts- als auch die Anwaltsgebühren übernehme (§ 122 ZPO). Dass auch die Anwaltskosten des obsiegenden Gegners übernommen würden, finde sich im Gesetz nicht. Es bliebe bei der Wertung des § 123 ZPO (OLG Hamm Beschluss vom 23.09.2016 - 6 WF 190/16 -; OLG Nürnberg, Beschluss vom 04.12.2018 - 9 WF 1426/18 -).

Zwar ließe sich im Sinne der bisherigen Rechtsprechung des Senats dagegen einwenden, dass die Staatskasse, anders als die gegnerische Partei nach § 123 ZPO oder deren Rechtsanwälte nach § 126 ZPO, die bedürftige Partei unterstützen, nicht bare mit Verfahrenskosten belasten soll.  Dieser Nachteil einer prozesskostenhilfebedürftigen Partei sei aber der gesetzlichen Ausgestaltung immanent. Wenn der Gesetzgeber gewollt hätte, dass die unterlegene Partei (der KH bewilligt wurde) nicht für die Kosten der Gegenseite aufkommen müsse, hätte er dies deutlich regeln können, zumal in diesem Fall auch die Regelungen in §§ 123 und 126 ZPO nicht passen würden. Zwar habe der Gesetzgeber mehrfach kostenrechtliche Änderungen vorgenommen, nicht aber zu §§ 123, 126 ZPO.

Von daher könnten nach ganz herrschender Meinung, der sich der Senat anschließen würde, auf die Staatskasse übergegangene Ansprüche von Rechtsanwälten iSv. § 126 ZPO auch gegen eine Partei geltend gemacht werden, der PKH gewährt worden sei.

Ob die Staatskasse eine derartige Forderung gegen eine Partei, der PKH ohne Ratenzahlung bewilligt wurde, geltend machen soll oder dies Erfolg verspreche, sei eine Frage der Praktikabilität und würde nicht durch § 122 Abs. 1 Nr. 1 b ZPO untersagt.

Anmerkung: Es ist häufig einer Partei, die Prozesskostenhilfe begehrt, dass sie im Falle des Unterliegens (oder auch quotenmäßigen Unterliegens) verpflichtet ist, die Kosten der Gegenpartei zu tragen (auch wenn dieser selbst PKH bewilligt wurde). Gerade in einem solchen Fall sollte sich die um PKH nachsuchende Partei überlegen, ob sie mit der von ihr vertretenen Rechtsansicht (auch im Rahmen der Darlegungs- und Beweislast) tatsächlich erfolgreich sein kann.

OLG München, Beschluss vom 11.07.2022 - 1 WF 352/22 -