Freitag, 30. September 2022

Kindeswohlentscheidung, § 1666 BGB: Anforderungen an Gericht, § 159 FamFG

Das Jugendamt regte ein Verfahren beim Familiengericht an, bei dem dem Kind der nicht verheirateten Eltern eine Verfahrensbeiständin bestellt wurde und die Eltern im Termin, bei dem das Kind nach dem Protokoll zugegen war, angehört wurden. In der Sache ging es um die Verpflichtung der Eltern, Sozialpädagogische Familienhilfe vor dem Hintergrund in Anspruch zu nehmen, dass die Mutter  an einer Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ Schizophrenie litt. Dem gab das Amtsgericht auf der Grundlage von § 1666 BGB („Gerichtliche Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls“) mit der Begründung statt, die Hilfe sei zur dauerhaften Sicherstellung des Kindeswohls notwendig.

Die von den Eltern gegen den Beschluss des Familiengerichts eingelegte Beschwerde führte zur Aufhebung desselben und Zurückverweisung des Verfahrens an das Familiengericht.

Nach Auffassung des OLG lägen die Voraussetzungen für eine Zurückverweisung gem. § 69 Abs. 1 S. 3 FamFG vor, da das Verfahren an einem schwerwiegenden Verfahrensmangel leide und eine umfassende und aufwändige Beweisaufnahme für eine Entscheidung erforderlich würde. Den schwerwiegenden sah das OLG darin, dass die nach § 159 FamFG vorgesehene Anhörung des Kindes unterblieb noch sich das Familiengericht einen unmittelbaren Eindruck von diesem gemacht habe, § 159 Abs. 1 FamFG. Weder seien Gründe dargelegt noch ersichtlich, § 159 Abs. 2 FamFG.

Durch § 159 FamFG in seiner jetzigen Fassung habe der Gesetzgeber (altersunabhängig) der Rechts- und Subjektstellung des Kindes im Verfahren Rechnung getragen und eine kindgerechte Justiz befördert. Auch wenn das Kind noch nicht in der Lage sei, seinen Willen und seine Neigungen zu artikulieren, habe sich das Gericht in Kinderschutzverfahren jedenfalls einen persönlich Eindruck zu verschaffen, § 159 Abs. 2 S. 2 FamFG.  

Es bedürfe hier im Rahmen der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks der expliziten Wahrnehmung des Kindes, was auch bedeute, dass das Gericht das Kind zumindest kurz in seinem Verhalten beobachtet, um so Rückschlüsse auf seine Befindlichkeit ziehen zu können. Das sei bei sehr kleinen Kindern häufig nur durch einen unmittelbaren Kontakt des Richters mit diesen möglich. Es sei zudem zum Ergebnis ein Vermerk zu fertigen, in welchem die der persönliche Eindruck und das Verhalten des Kindes geschildert würde und den Beteiligten zu diesem Vermerk rechtliches Gehör gewährt werde.

Hier wurde lediglich vermerkt, dass das Kind zugegen war. Dass sich das Gericht einen persönlichen Eindruck vom Kind verschafft habe, sei nicht vermerkt. Es sei auch nicht ersichtlich, dass die persönliche Anhörung des Kindes in irgendeiner Art und Weise in die Entscheidung, in der sie auch nicht erwähnt worden sei, berücksichtigt wurde.

Der von den Eltern beantragten Zurückverweisung sei zu entsprechen, da die Nachholung der persönlichen Anhörung des Kindes umfangreich bzw. aufwändig wäre und hinzukommen würde, dass sich in Folge der Anhörung zusätzliche Anhaltspunkte für ein derzeit noch nicht abzusehendes Ausmaß weiterer notwendiger Ermittlungen ergeben könnten. Gründe, die hier einer Zurückverweisung nach § 155 Abs. 1 FamFG (Vorrang- und Beschleunigungsgebot) entgegenstehen könnten, lägen nicht vor.

 OLG Frankfurt, Beschluss vom 12.07.2022 - 1 UF 240/21 -


Aus den Gründen:

Tenor

I. Auf die Beschwerde der weiteren Beteiligten zu 1. und 2. gegen den Beschluss des Amtsgerichts - Familiengericht - Rüsselsheim vom 5. November 2021 wird dieser aufgehoben.

Das Verfahren wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht - Familiengericht - Rüsselsheim zurückverwiesen.

II. Von der Erhebung von Gerichtskosten für das Beschwerdeverfahren wird abgesehen. Außergerichtlichen Kosten werden nicht erstattet.

III. Der Wert des Beschwerdeverfahrens wird auf 4.000 € festgesetzt.

IV. Den Beschwerdeführern wird ratenfreie Verfahrenskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren bewilligt und insoweit Rechtsanwältin B, Stadt1, beigeordnet.

Gründe

I.

Die Beteiligten sind nach den Feststellungen des Amtsgerichts die nicht miteinander verheirateten Eltern des Kindes A und haben die gemeinsame elterliche Sorge inne.

Das vorliegende Verfahren wurde auf Anregung des Jugendamtes vom 16. Juli 2021 eingeleitet. Dem Kind wurde eine Verfahrensbeiständin bestellt und die Eltern am 13. September 2021 persönlich angehört und die Sache erörtert. Zudem findet sich in der Akte ein handschriftlicher Vermerk mit dem Inhalt: “Ebenfalls im Termin zugegen war das Kind im Maxi-Cosi“.

Durch Beschluss des Amtsgerichts Rüsselsheim vom 5. November 2021, welcher am 10. November 2021 an die Bevollmächtigte der weiteren Beteiligten zu 1. und 2. zugestellt worden ist, wurden den Eltern aufgegeben, öffentliche Hilfen in Anspruch zu nehmen und zwar eine Sozialpädagogische Familienhilfe im Umfang von zwölf Fachleistungsstunden im Monat. Zur Begründung hat das Amtsgericht im Wesentlichen ausgeführt, dass die Voraussetzungen nach § 1666 BGB gegeben seien. Die Mutter leide an einer Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ Schizophrenie. Wie der Vater im Falle einer erneuten akuten Krankheitsphase reagiere sei unklar. Die Hilfe sei notwendig, um „das Kindeswohl dauerhaft sicherzustellen“.

Hiergegen wenden sich die Eltern mit ihrer Beschwerde vom 7. Dezember 2021, die am 8. Dezember 2021 beim Amtsgericht eingegangen ist. Am 19. Mai 2022 beantragten sie die Aufhebung des Beschlusses und Zurückverweisung an das Amtsgericht.

Von einer weitergehenden Darstellung des Tatbestandes wird abgesehen.

II.

Die mit Blick auf §§ 58ff. FamFG statthafte und auch im Übrigen zulässige Beschwerde der Eltern führt zur Aufhebung der amtsgerichtlichen Entscheidung sowie Zurückverweisung der Sache an das Amtsgericht. Denn nach § 69 Abs. 1 Satz 3 FamFG kann die Sache unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses auf Antrag eines Beteiligten an das Amtsgericht zurückverwiesen werden, wenn das Verfahren des Amtsgerichts an einem wesentlichen Mangel leidet und zur Entscheidung eine umfangreiche oder aufwändige Beweisaufnahme erforderliche wäre. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt.

1. Die persönliche Anhörung des Kindes bzw. die Verschaffung eines unmittelbaren Eindrucks von diesem auf der Grundlage der am 1. Juli 2021 in Kraft getretenen Neufassung des § 159 FamFG ist unterblieben. Dass Gründe gegeben sein könnten, die vorliegend ein Absehen von diesen Verfahrenshandlungen rechtfertigen könnten, ist weder dargetan noch ersichtlich und vom Amtsgericht in der angegriffenen Entscheidung auch nicht aufgeführt.

a) Der Gesetzgeber hat durch die Neufassung des § 159 FamFG nicht nur eine altersunabhängige Verpflichtung zur persönlichen Anhörung des Kindes eingeführt, sondern zugleich eine solche zur Verschaffung eines persönlichen Eindrucks. Damit wird nicht nur der Rechts- und Subjektstellung des Kindes im Verfahren Rechnung getragen, sondern auch eine kindgerechte Justiz befördert. Selbst wenn das Kind noch nicht in der Lage ist, seinen Willen und seine Neigungen kundzutun, so hat sich das Gericht in Kinderschutzverfahren gleichwohl einen persönlichen Eindruck zu verschaffen (§ 159 Abs. 2 Satz 2 FamFG). Dies dient nicht nur der Amtsermittlung, sondern soll auch die Subjektstellung des Kindes in diesen höchst grundrechtssensiblen Verfahren betonen und stärken.

Vor diesem Hintergrund bedarf es im Rahmen der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks der expliziten Wahrnehmung des Kindes als eigenständige Persönlichkeit durch das Gericht, was auch damit einhergeht, dass das Kind zumindest kurz in seinem Verhalten beobachtet wird, um so auch Rückschlüsse auf seine Befindlichkeit ziehen zu können (ähnlich Kischkel, FamRZ 2021, 1595, 1597).Dies wird bei sehr kleinen Kindern häufig nur möglich sein, wenn durch den Richter unmittelbarer Kontakt zum Kind selbst aufgenommen wird.

Im Übrigen ist auch zum Ergebnis der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks ein Vermerk zu fertigen, in welchem die wesentlichen Vorgänge aufzunehmen sind (§ 28 Abs. 4 Satz 2 FamFG). Dazu gehört es auch, dass der persönliche Eindruck vom Kind und das Verhalten des Kindes im Vermerk geschildert und den Beteiligten hierzu rechtliches Gehör gewährt wird.

b) Diese Anforderungen sind vorliegend nicht erfüllt. Nach dem Vermerk des Amtsgerichts war das Kind lediglich im Termin zugegen. Einen persönlichen Eindruck hat sich das Gericht ausweislich des Vermerks nicht verschafft. Es ist auch nicht ersichtlich, dass die persönliche Anhörung des Kindes, die auch in den Gründen der Entscheidung keine Erwähnung findet, in irgendeiner Form bei der Entscheidungsfindung Berücksichtigung gefunden hat.

2. Die Sache ist vor dem Hintergrund des Umfangs der notwendig werdenden weiteren Ermittlungen an das Amtsgericht - wie von den Eltern als Beteiligte beantragt - zurückzuverweisen. Denn die Nachholung der persönlichen Anhörung des Kindes wäre umfangreich bzw. aufwändig (hierzu Heilmann/Dürbeck, Praxiskommentar Kindschaftsrecht, 2. Auflage, § 69 FamFG Rn. 8 m.w.Nachw.). Es kommt noch hinzu, dass sich in der Folge dieser nachgeholten Verfahrenshandlungen zusätzliche Anhaltspunkte für ein derzeit noch nicht absehbares Ausmaß weiter notwendig werdender Ermittlungen ergeben könnten, um eine hinreichende Grundlage für eine am Kindeswohl orientierte Entscheidung zu erlangen. Dementsprechend stellt auch der Bundesgerichtshof insoweit keine hohen Anforderungen (BGH, Beschluss vom 20.11.2013; Az.: XII ZB 569/12 - juris - unter Bestätigung von KG, ZKJ 2012, 450).

Etwas anderes wird dann zu gelten haben, wenn das Vorrang- und Beschleunigungsgebot i.S.v. § 155 Abs. 1 FamFG nach einer anderen Betrachtung verlangt und einer Zurückverweisung entgegensteht. Dies ist mit Blick auf die bisherige Gesamtverfahrensdauer und den Gegenstand des vorliegenden erstinstanzlichen Verfahrens jedoch hier nicht der Fall.

Nach alledem kann dahinstehen, ob sich die Aufwändigkeit auch daraus ergibt, dass die persönliche Anhörung der Eltern, unbeschadet der Frage der Anwendbarkeit der gesetzlichen Neuregelung in § 68 Abs. 5 Ziff. 1 FamFG im vorliegenden Fall, im Beschwerdeverfahren bereits vor dem Hintergrund der Entwicklungen seit Durchführung des erstinstanzlichen Termins erneut vorzunehmen wäre. Ohnehin hätte das Amtsgericht seine Entscheidung mit Blick auf das Alter des Kindes unter Einbeziehung der Maßstäbe des § 166 Abs. 2 FamFG bei unterbliebener Einlegung der Beschwerde inzwischen zu überprüfen gehabt.

Vorsorglich weist der Senat darauf hin, dass die Grundlagen der gemeinsamen elterlichen Sorge der Eltern der vorliegenden Akte nicht zu entnehmen sind. Eine Vervollständigung der Akte bzw. entsprechende Ermittlungen sind vom Amtsgericht ebenfalls nachzuholen.

III.

1. Die Entscheidung hinsichtlich der Kosten beruht auf § 81 FamFG und die Wertfestsetzung hat ihre Rechtsgrundlage in § 45 Abs. 1 Nr. 1 FamGKG n.F.

2. Die Entscheidung zur Verfahrenskostenhilfe hat ihre Rechtsgrundlage in § 76 Abs. 1 FamFG i.V.m. §§ 114ff. ZPO. Im Rahmen des vorliegenden Beschwerdeverfahrens bestehen auch keine Bedenken hinsichtlich der Beiordnung der Bevollmächtigten für beide Elternteile (vgl. § 78 Abs. 2 FamFG). Etwas anderes mag dann gelten, wenn sich mit Blick auf die Rechtslage zum Sorgerecht in einem Kinderschutzverfahren ein Interessenwiderstreit zwischen beiden Elternteilen ergeben könnte.


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