Im Ausgangsfall legte der Kläger
gegen den „Bescheid für 2015 über Einkommensteuer, Kirchensteuer und Soli vom
22.03.2018“ (ein sogenannter verbundener Bescheid, da er hier nach der Bescheidüberschrift
die Bescheide zur Einkommensteuer, Kirchensteuer und zum Solidaritätszuschlag
umfasste, darüber hinaus, in der in der Bescheidüberschrift nicht benannte
Zinsen zur Einkommensteuer) mit Schreiben vom 09.04.2018 Einspruch ein. Nach einer
von ihm erbetenen Erörterung mit dem
Finanzamt (FA) äußerte der Kläger Zweifel an einem zusätzlichen (vom FA
berücksichtigten) veräußerungsgewinn in 2015 (statt 2016), bat erneut um einen
Erörterungstermin und erhob im Rahmen desselben mit Schreiben vom 23.07.2018
erstmals Einwendungen gegen die im angefochtenen Bescheid festgesetzte
Verzinsung. In der Einspruchsentscheidung setzte sich das FA mit der
Zinsfestsetzung nicht auseinander und lehnte mit besonderen Bescheid vom
gleichen Tag eine Änderung der Zinsfestsetzung wegen Bestandskraft des
Bescheides ab, da sich der Einspruch nicht gegen die Zinsen gerichtet habe.
Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger Klage. Mit Zwischenurteil stellte das Finanzgericht
fest, dass der Kläger rechtzeitig gegen die Zinsfestsetzung im Bescheid vom
22.03.2018 Einspruch erhoben habe. Auf die Revision des FA hob der BFH das
Urteil auf und verwies den Rechtstreit an das Finanzgericht zurück.
Der BFH wies darauf hin, dass auf
der Grundlage des § 357 Abs. 3 S. 1 AO die genaue Bezeichnung des angefochtenen
Verwaltungsaktes nicht erforderlich sei, allerdings die Zielrichtung des Begehrens
angegeben werden müsse, aus der sich der angefochtene Verwaltungsakt ergeben
müsse oder Zweifel/Unklarheiten beseitigt
werden müssten. Fehle es an einer eindeutigen und zweifelsfreien Erklärung, sei
eine Auslegung erforderlich. Diese Auslegung eines Rechtsbehelfs richte sich
außerprozessual als auch prozessual nach § 133 BGB. Es sei der wirkliche Wille
zu erforschen, weshalb auch außerhalb der Erklärung liegende Umstände
berücksichtigt werden dürften. Allerdings dürfe dies nicht dazu führen, dass
die Auslegung zu einem Ergebnis führe, für welches es in der Erklärung selbst
keine Anhaltspunkte gäbe. Damit ergäben sich im Wesentlichen folgende
Fallgruppen:
- Würden miteinander verbundene Bescheide unter Wiedergabe der amtlichen Bescheidbezeichnung (wie hier: „Bescheid für 2015 über Einkommensteuer, Kirchensteuer und Solidaritätszuschlag“) angefochten, ohne dass (zunächst) konkrete Einwendungen erhoben würden und erfolgt späterhin (ggf. nach Ablauf der Einspruchsfrist) eine Begründung gegen einen bestimmten Bescheid, beziehe sich der Rechtsbehelf jedenfalls auch gegen diesen Bescheid. So hatte das FG Düsseldorf mit Urteil vom 26.05.2008 - 18 K 2172/07 AO - (zitiert vom BFH) den Einspruch gegen einen wie oben bezeichneten Bescheid auch als Einspruch gegen den im Bescheid festgesetzten Verspätungszuschlag angesehen, wobei allerdings das FG Düsseldorf die Auffassung vertrat, dass die korrekte Bezeichnung des Bescheides dies bereits umfasse und sich vorliegend zusätzlich (worauf der BFH einzig abstellt) aus der darauf bezogenen Begründung desselben ergäben.
- Enthalte das (unspezifisch) auf verbundene Bescheide bezogene Einspruchsschreiben eine Begründung, sei der Gegenstand des Einspruchs einengend auszulegen. Würden nach Ablauf der Einspruchsfrist auch Einwendungen gegen einen weiteren verbundenen Verwaltungsakt erhoben, die in der ursprünglichen Begründung nicht benannt worden seien, so würde dem die Bestandskraft des Bescheides entgegenstehen (BFHE 222, 196; BFHE 243, 304).
- Richte sich der Einspruch ausdrücklich zwar nur gegen einzelne miteinander verbundene Verwaltungsakte und würde innerhalb der Einspruchsfrist der Einspruch auf einen weiteren verbundenen Verwaltungsakt ausgedehnt, stünde der weiteren Anfechtung keine Bestandskraft entgegen. Dies ist verständlich, da der nur eingeschränkte zunächst erhobene Einspruch nicht als Verzicht auf ein Rechtsmittel im Übrigen gedeutet werden kann; erfolgt allerdings der weitere Einspruch nach Ablauf der Einspruchsfrist, stünde ihm auch die Bestandskraft entgegen.
Die Auslegung des Einspruchs
obliege, so der BFH, dem Finanzgericht. Der BFH als Revisionsgericht könne nur
prüfen, ob das Finanzgericht die anerkannten Auslegungsregeln beachtet und
nicht gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstoßen habe, ferner, ob der
Einspruch überhaupt auslegungsbedürftig sei. An der Auslegungsbedürftigkeit
würde es bei einer nach Wortlaut und Zweck eindeutigen Erklärung fehlen.
Vorliegend sei zwar die Bescheidüberschrift
gewählt worden, doch sei diese unvollständig gewesen, insoweit die mit festgesetzten
Zinsen zur Einkommensteuer nicht erwähnt worden seien. Von daher habe es hier
einer Auslegung bedurft.
Da das Finanzgericht diese
Grundsätze nicht gewahrt habe, sei die Sache zurückzuverweisen und das Finanzgericht
müsse sich mit dem Verhalten des Klägers nach Einlegung des Einspruchs und
insbesondere auch seinen an das FA gerichteten Schreiben auseinandersetzen.
BFH, Urteil vom 29.10.2019 - IX R 4/19 -