Donnerstag, 6. August 2020

Engstelle: Vorrang und Verständigungspflicht bei Unfall in der Engstelle

An einer Engstelle war die Durchfahrt mit Zeichen 208 geregelt, demzufolge der Verkehr aus einer Richtung gegenüber dem Verkehr aus der anderen Richtung bevorrechtigt ist. Die beteiligten Fahrzeuge fuhren beide in die Engstelle ein und es kam zur Kollision. Die Haftung wurde im Verhältnis von 30% zu Lasten desjenigen, der bevorrechtigt hatte einfahren dürfen zu 70% zu Lasten desjenigen, der wartepflichtig war. Diese Entscheidung wurde mit der Berufung angefochten. Das OLG wies gem. § 522 ZPO darauf hin, dass es gedenke, die Berufung mangels Erfolgsaussicht im Beschlussweg zurückzuweisen.

Zeichen 208


Nach § 17 Abs. 1 StVG sei auf die Umstände des Einzelalls abzustellen, also insbesondere darauf, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder anderen Teil verursacht worden sei. Dabei seien nur unstreitige, bewiesene oder zugestandene Tatsachen zu berücksichtigen. Jeder Beteiligte habe danach diejenigen Tatsachen zu beweisen, die dem anderen Beteiligten zum Verschulden gereichen würden und aus denen er für die Abwägung nach § 17 Abs. 1, 2 StVG für sich günstige Rechtsfolgen herleiten  will.

Nach der Beweisaufnahme sie das Landgericht davon ausgegangen, dass beide beteiligten Fahrer gegen das Gebot der Rücksichtnahme verstoßen hätten. Die Fahrzeuge hätten nebeneinandergestanden, doch habe ein Austausch darüber nicht stattgefunden, wie die Situation, dass ein gemeinsames passieren nicht möglich war, gelöst werden könnte.  Dies sei zutreffend, da bei einer derartigen Situation eine Verständigung darüber stattfinden müsse, wer die Fahrt fortsetzt (OLG Hamm, Urteil vom 07.06.2016 - I-9 U 59/14 -).

Weiterhin sei zu berücksichtigen, dass die Fahrerin des klägerischen Fahrzeuges den durch Zeichen 208 angeordneten Vorrang des gegnerischen Fahrzeuges nicht beachtet habe, wobei auf sich beruhen könne, ob sie dieses bei Einfahren in die Engstelle gesehen haben kann. Der Regelungsgehalt ginge weiter: Da hier die Bäume die Sicht auf entgegenkommende Fahrzeuge behinderten, nicht aber völlig beseitigten, hätte sie durch Anpassen der Geschwindigkeit vor Einfahren in den dortigen Kurvenbereich sicherstellen müssen, dass kein vorrangiges Fahrzeug entgegenkomme. Ansonsten würde die Pflicht zum Fahren mit angepasster Geschwindigkeit gem. § 3 Abs. 1 S. 2 StVO verletzt.

Weiterhin sei für das klägerische Fahrzeug auch eine erhöhte Betriebsgefahr zu berücksichtigen. Die Fahrerin des klägerischen Fahrzeuges hätte, als sie den Unfallgegner erstmals wahrnahm, anhalten und ggf. zurücksetzen müssen. Dafür spreche nicht nur der durch Verkehrszeichen angeordnete Vorrang des Unfallgegners, sondern auch die im Vergleich zum Unfallgegner geringere Wegstrecke bis zur Haltebucht.

Von daher sei hier für den Kläger eine Haftung von 70% anzunehmen.

OLG Schleswig, Hinweisbeschluss vom 24.04.2020 - 7 U 225/19 -


Sonntag, 2. August 2020

Ist vor Erlass einer einstweiligen Verfügung dem Gegner Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben ?


Der Betroffene mahnte die Beschwerdeführerin wegen eines in ihrer Zeitschrift „W“ am 10.05.2020 veröffentlichten Artikels  zu einem J., der an der Veröffentlichung eines Videos beteiligt gewesen sein sollte, das zum Rücktritt des österreichischen Politikers Strache führte, am 11.05.2020 mit einem 15-seitigen Schreiben ab; gegen J. wird seit der Veröffentlichung in Österreich strafrechtlich ermittelt. Der Beschwerdeführer reagierte am Abend des gleichen Tages auf die Abmahnung und wies diese unter Darlegung der Gründe und Beifügung von Anlagen zurück. Am Morgen des 12.05.2020 beantragte er eine einstweilige Verfügung mit einer bei dem LG Berlin eingereichten 26-seitigen Antragsschrift, die gegenüber der Abmahnung ausgebaut wurde, auf Argumente der Abmahnerwiderung reagierte und zwei eidesstattliche Versicherungen des Betroffenen ergänzte. Nach dem Abruf des Schutzschriftregisters gegen Mittag erließ das LG Berlin im Wege der einstweiligen Verfügung einen Beschluss (ohne Begründung), mit dem der Beschwerdeführerin die weitere Verbreitung des Artikels (so über digitale Kanäle, insbesondere auch im Online-Archiv) untersagt wurde. Gegen diesen Beschluss lehnte die Beschwerdeführerin nach Zustellung am 14.05.2020 am 19.05.2020 die erkennenden Richter des LG Berlin als Befangen ab und legte am 20.05.2020 gegen den Beschluss Widerspruch zusammen mit einem Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ein. Sodann erhob die Beschwerdeführerin mit der Begründung, es läge eine offenkundige und bewusste Verletzung ihrer prozessualen Waffengleichheit vor und begehrte die Aussetzung der einstweiligen Verfügung.


Nach Anhörung des Betroffenen (des Antragstellers im Verfahren vor dem LG Berlin) gab das BVerfG dem Antrag der Beschwerdeführerin statt.

Obwohl grundsätzlich zunächst vor einer Verfassungsbeschwerde der Rechtsweg ausgeschöpft sein muss, sieht hier das BVerfG die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde als gegeben an. Dies begründet es mit der Besonderheit des Verfahrens und die darauf bezogene Begründung: Geltend gemacht würde eine Rechtsverletzung unmittelbar durch die Handhabung des Prozessrechts im Verfahren über den Erlass der einstweiligen Verfügung durch (bewusstes) Übergehen ihrer prozessualen Rechte. Insbesondere könne sie mit dem Antrag auf einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung aus dem Beschluss die Missachtung des Verfahrensrechts nicht geltend machen (BVerfG, Beschluss vom 03.06.2020 - 1 BvR 1246/20 -), da dieser Antrag von der Erfolgsaussicht des Widerspruchs abhängig sei. Auch i übrigen gäbe es keine Rechtsmittel, mit denen die Verletzung der prozessualen Waffengleichheit geltend gemacht werden könne, weshalb es hier ausnahmsweise zulässig sei, unmittelbar gegen die einstweilige Verfügung Verfassungsbeschwerde zu erheben.  Da die Rechtsbeeinträchtigung durch den Unterlassungstitel fortdaure, benötige die Beschwerdeführerin auch kein besonders gewichtiges Feststellungsinteresse (BVerfG aaO.).

Die von der Beschwerdeführerin benannte Verletzung der prozessualen Waffengleichheit wurde vom BVerfG als grundrechtsgleiches Recht bejaht. Auch im Verfahren der einstweiligen Verfügung, selbst wenn eine Verfügung wegen besonderer Dringlichkeit ohne mündliche Verhandlung ergehen dürfe, bedürfe es der Einbeziehung der Gegenseite im verfahren (BVerfG, Beschluss vom 30.09.2018 - 1 BvR 1783/17 -; BVerfG, Beschluss vom 03.06.2020 aaO.). Diese Einbeziehung des Gegners sei nur entbehrlich, wenn der eingereichte Antrag mit der Abmahnung identisch sei und die Erwiderung des Gegners auf die Abmahnung mit eingereicht würde. Läge erkennbar eine Identität nicht vor, da der Betroffene auf die Erwiderung der Gegenseite in seiner Antragsschrift inhaltlich eingehen würde und repliziere, müsse das Gericht dem Antrag zu Gehör der Gegenseite bringen (BVerfG vom 30.09.2018 aaO.; BVerfG vom 03.06.2020 aaO.).

An diese Vorgaben habe sich das LG Berlin nicht gehalten und deshalb das grundrechtsgleiche Recht auf prozessuale Waffengleichheit aus Art. 3 Abs. 1 iVm Art. 20 Abs. 3 GG verletzt. Es habe die Gleichwertigkeit seiner prozessualen Stellung gegenüber der Beschwerdeführerin als Verfahrensgegner nicht mehr gewährleistet. Die Antragsschrift sei ausdrücklich auf die Einwände der Beschwerdeführerin in deren außergerichtlicher Stellungnahme eingegangen, woraus sich bereits für das Gericht im Sinne gleichwertiger Äußerungs- und Verteidigungsmöglichkeit hätte ergeben müssen, der Beschwerdeführerin (evtl. auch fernmündlich oder E-Mail) Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Hinzu käme, dass die Antragsbegründung – unabhängig von unterschiedlichen Anforderungen an ein anwaltliches Schreiben im Vergleich zu einem Verfahrensschriftsatz – umfassender und differenzierter war als das Abmahnschreiben, welches auch neue Gesichtspunkte enthielt. Erstmals sei zudem hier auch ausdrücklich die Tatsachengrundlage der im Artikel benannten Vorwürfe bestritten, demgegenüber im Abmahnschreiben noch auf deren Nachweislichkeit anhand der Aktenlage verwiesen worden sei. Damit habe keine Kongruenz zwischen dem Abmahnschreiben und der Antragsschrift bestanden.

Auch kann nach Ansicht des BVerfG der Beschwerdeführerin nicht vorgeworfen werden, keine Schutzschrift im elektronischen Schutzschriftregister zu hinterlegen. Es könne dem Gegner nicht zugemutet werden, auf einen ihn unbekannten Vortrag vorsorglich zu erwidern.

Auch wenn die Frist zu einer Stellungnahme der Beschwerdeführerin im Verfahren über die einstweilige Verfügung hätte kurz bemessen werden können, sei es unzulässig,  wegen dadurch bedingter Verzögerungen gänzlich von einer Einbeziehung der Gegenseite abzusehen und ihn bis zu einer auf den Widerspruch hin anzuberaumenden mündlichen Verhandlung  mit einer einseitig erstrittenen gerichtlichen Unterlassungsverfügung zu belasten und die zudem auch ohne Begründung ist (Anm.: und nicht haben muss), weshalb der Beschwerdeführerin nicht ersichtlich sei, ob ihr Vortrag überhaupt Berücksichtigung gefunden habe bzw. unter welchen Gesichtspunkten er hintenangestellt worden sei.  

BVerfG, Beschluss vom 17.06.2020 - 1 BvR 1380/20 -

Montag, 27. Juli 2020

Verjährung des Erfüllungsanspruchs des Bestellers und Fälligkeit des Werklohnes


Gegenstand war eine Klage auf Restwerklohn aus einem Bauwerkvertrag. Einem Abnahmebegehren der Klägerin nach Fertigstellung der Werkleistung lehnte die Beklagte wegen von ihr behaupteter erheblicher Restarbeiten und Mängel ab. In der Folge überließ die Beklagte der Klägerin ein Protokoll mit Mängeln, von denen einige von der Klägerin abgearbeitet wurden. Sie überließ sodann der Beklagten eine auf den 20.04.2013 datierenden Schlussrechnung. Die Beklagte ihrerseits erstellte ein neues Gutachten, überprüfte und kürzte die Schlussrechnung und machte ihrerseits nunmehr gegen die insoweit selbst berechnete Restforderung der Klägerin Kosten der Ersatzvornahme und Verzugskosten geltend, die insgesamt die nach ihrer Berechnung der Klägerin zustehenden Ansprüche übersteigen würden, wobei sie insoweit einen Kostenvorschuss zur Mängelbeseitigung geltend machte, wobei sie darauf hinwies, dass die Klägerin für die korrekte Erbringung ihrer Leistungen mangels Abnahme darlegungs- und beweisbelastet sei.

Der von der Klägerin generierte Werklohnanspruch, so der BGH, sei nicht fällig. Grundsätzlich habe die Fälligkeit die Abnahme der Werkleistung zur Voraussetzung, § 641 Abs. 1 S. 1 BGB. Der Abnahme stünde gleich, dass der Besteller das Werk nicht innerhalb einer vom Unternehmer bestimmten Frist abnehme, obwohl er dazu verpflichtet sei, § 640 Abs. 1 S. 3 BGB, wobei bei endgültiger Abnahmeverweigerung eine Fristsetzung entbehrlich sei. Vorliegend habe die Beklagte das Werk nicht abgenommen noch sei sie dazu verpflichtet gewesen.

Allerdings sei dann nicht auf die Abnahme als Fälligkeitsvoraussetzung abzustellen, wenn der Besteller a) nicht mehr Erfüllung sondern Minderung oder Schadensersatz verlange oder b) weitere Arbeiten des Unternehmers ernsthaft verweigere oder c) die Erfüllung unmöglich geworden wäre. In diesen Fällen würde ein Abrechnungsverhältnis entstehen, was zum Einen den Vergütungsanspruch des Unternehmers begründe und zum Anderen die Ansprüche des Bestellers wegen unvollständiger oder mangelhafter Arbeiten des Werkes auf Geldausgleich gerichtet wären (Abrechnungsverhältnis). Diese Voraussetzungen seien hier nicht festgestellt worden.

Allerdings sei der Erfüllungsanspruch der Beklagten zwischenzeitlich verjährt.

Unzutreffend sei die Annahme der Klägerin, mit der Erhebung der Verjährungseinrede läge ein den §§ 215, 641 Abs. 1 BGB gleicher Fall vor. Anders als in den Fällen eines Abrechnungsverhältnisses sei es hier dem Unternehmer möglich, den Anspruch des Bestellers (im Wesentlichen mangelfrei) zu erfüllen und damit selbst die Voraussetzungen für eine Abnahmepflicht des Bestellers zu schaffen und so die Fälligkeit des Werklohnanspruchs herzustellen. Die Verjährungseinrede hindere vorliegend die Durchsetzung des Erfüllungsanspruchs des Bestellers, § 214 Abs. 1 BGB, der aber durch den Unternehmer erfüllbar bliebe.

Auch aus § 215 Abs. 1 BGB könne die Klägerin nichts herleiten, da die auf die Einrede des nicht erfüllten Vertrages anwendbare Norm nicht das Zurückbehaltungsrecht begründe, sondern voraussetze und dessen Fortbestand bei Verjährung regele. Im Hinblick auf die Vorleistungspflicht bedürfe es eines Leistungsverweigerungsrechts des Bestellers mangels Abnahme und Abnahmefähigkeit nicht, um die Vergütungsklage abzuwehren.

Ein Nichterfüllungseinwand der Beklagten nach § 320 BGB sei auch nicht erforderlich, § 242 BGB. Ein Verstoß gegen Treu und Glauben (§ 242 BGB) läge auch nicht vor, wenn in dieser Situation der Werklohn nicht fällig würde, da es an der Klägerin läge, die Fälligkeitsvoraussetzungen zu schaffen. Aus dem Umstand, dass der Besteller seinen Erfüllungsanspruch habe verjähren lassen, könne der Unternehmer nichts herleiten, da er nicht gehalten sei, bei berechtigter Verweigerung der Abnahme Maßnahmen zur Verjährungshemmung zu ergreifen.

BGH, Urteil vom 28.05.2020 - VII ZR 108/19 -

Freitag, 24. Juli 2020

Welcher Vortrag unterliegt der Prüfungspflicht des Berufungsgerichts ?



Die Klage wurde vom Landgericht abgewiesen, die Berufung dagegen vom OLG zurückgewiesen. Im Rahmen der Nichtzulassungsbeschwerde rügte die Klägerin  die Verletzung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG). Der BGH hob das Urteil des OLG aus diesem Grund auf und verwies den Rechtsstreit an das OLG zurück.

Das OLG hatte darauf abgestellt, dass seitens der Klägerin im Rahmen der innerhalb einer Notfrist von zwei Monaten nach Zustellung des erstinstanzlichen Urteils zu begründenden Berufung nicht geltend gemacht worden sei, dass das Landgericht die in einem erstinstanzlichen Schriftsatz benannten Zeugen Z. und G. nicht vernommen habe, sondern erst später in einem Schriftsatz vom 26.03.2019 deren Vernehmung (erstmals im berufungsverfahren) beantragt worden sei. In dem Verfahrensstadium der Beantragung im Berufungsrechtszug sei für eine Nachholung der in erster Instanz nicht erhobenen Beweise gem. § 520 Abs., 3 ZPO (notwendiger Inhalt der Berufungsbegründung) kein Raum mehr.

Dem folgt der BGH nicht.

Die unterlassene Berücksichtigung eines erheblichen Beweisangebotes stelle verstoße gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn dies im Prozessrecht keine Stütze fände. An einer Grundlage für die Versagung der Beweiserhebung fehle es vorliegend, da die Annahme des Berufungsgerichts, nach § 520 Abs. 3 ZPO fehle es an einem Raum für die Beweisaufnahme, fehlerhaft sei. Sei  - wie hier - die Berufung als solche zulässig, gelange der gesamte aus der Gerichtsakte ersichtliche Prozessstoff erster Instand automatisch in die Berufungsinstanz. In erster Instanz erfolgtes Vorbringen (wenn es nicht zulässig dort zurückgewiesen wurde) sei von daher, ohne dass es eines erneuten Vorbringens im Berufungsrechtszug bedürfe, auch Prozessstoff des Berufungsverfahrens.

Das Berufungsgericht müsse alle konkreten Anhaltspunkte, die Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der Tatsachenfeststellungen begründen, berücksichtigen. Dafür sei ausreichend, dass sich diese Anhaltspunkte aus dem erstinstanzlichen Vortrag der Parteien ergäben. Dieses erstinstanzliche Übergehen müssen nicht Gegenstand der Rügen im Rahmen der Berufungsbegründung gewesen sein. Auch ohne Rüge seitens des Berufungsführers sei das Berufungsgericht bei konkreten Anhaltspunkten für Zweifel an der Richtigkeit entscheidungserheblicher Feststellungen durch das Erstgericht gem. § 529 Abs. 1 Nr. 1 Halbs. 1 ZPO gehalten, die Tatsachen (hier durch die Unterlassene Beweisaufnahme durch Einvernahme der Zeugen) erneut festzustellen, die der Entscheidung zugrunde zu legen sind.

Das habe nichts mit der Frage zu tun, welche inhaltlichen Anforderungen (nach § 520 Abs. 3 ZPO) an die Berufungsbegründung zu stellen seien. Entspräche auch nur eine Rüge diesen Anforderungen, sei in Bezug auf ein und denselben Streitgegenstand die Berufung zulässig. Sei danach die Berufung zulässig, sei die Prüfungspflicht des Berufungsgerichts weitergehend und könne sich nicht auf diese Rüge beschränken, sondern würde die Prüfung im Hinblick auf sonstige Anhaltspunkte, die Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der Tatsachenfeststellungen aufkommen ließen, insgesamt betreffen.

Die Gehörsrüge scheitere hier auch nicht am Grundsatz der materiellen Subsidiarität, da der Kläger noch in der Berufungsinstanz sein erstinstanzliches Beweisangebot ausdrücklich wiederholt habe.

BGH, Beschluss vom 28.04.2020 - VI ZR 347/19 -

Montag, 20. Juli 2020

Kosten der Bauteilöffnung für eine Beweisaufnahme und Kostenaufhebung im gerichtlichen Verfahren


Die Parteien stritten um Baumängel. Im gerichtlichen Verfahren wurde ein Sachverständigengutachten eingeholt, für welches die Klägerin die Kosten der notwendigen Bauteilöffnung trug. Im Anschluss verglichen sich die Parteien und vereinbarten eine Kostenaufhebung. In deren Rahmen beantragte die Klägerin auch die von ihr aufgewandten Kosten für die Bauteilöffnung auszugleichen, also gegen die Beklagte festzusetzen. Dies lehnte der Rechtspfleger ab. Der dagegen eingelegten sofortigen Beschwerde der Klägerin half das Landgericht nicht ab; die Beschwerde wurde vom OLG zurückgewiesen.

Entscheidend stellte das OLG dabei zutreffend darauf ab, dass es sich bei den der Klägerin entstandenen Kosten für die Bauteilöffnung nicht um Gerichtskosten handele, die im Rahmen der Vergleichsregelung zwischen den Parteien auszugleichen waren, sondern um eigene Kosten der Klägerin, die mithin nach dem Vergleich jede Partei für sich zu tragen hatte.

Das OLG wies darauf hin, dass in Literatur und Rechtsprechung streitig sei, ob notwendige vorbereitende Maßnahmen zur Schaffung der Voraussetzungen für die Erstattung des Gutachtens vom Gericht dem von diesem beauftragten Sachverständigen aufgegeben werden können (dazu; OLG Schleswig, Beschluss vom 14.12.2017 - 16 W 152/17 -), wobei in Abrede gestellt würde, dass dem Sachverständigen das Verschließen der Bauteilöffnung durch das Gericht auch übertragen werden könne (OLG Celle, Beschluss vom 01.12.2016 - 5 W 49/16 -.).

Darauf kam es hier nach zutreffender Ansicht des OLG nicht an, da das Landgericht dem Sachverständigen nicht aufgegeben hatte, die Voraussetzungen für seine Gutachtenerstattung durch Bauteilöffnung selbst zu veranlassen. Die Arbeiten wurden von der Klägerin (einschließlich des Verschließens nach Begutachtung durch den Sachverständigen) beauftragt und bezahlt, weshalb auch der Sachverständige insoweit keine Entlohnung nach §§ 413 ZPO, 8ff JVEG erhalten habe. Auslagen des Gerichts iSv. KV-GKG Nr. 9005 seien deshalb nicht entstanden, die auszugleichen wären.

Ausdrücklich dahingestellt ließ das OLG die Frage, ob in entsprechender Anwendung der §§ 667, 683, 670 BGB hier die außergerichtlichen Kosten der Klägerin als Gerichtskosten gewertet werden könnten. Dem habe Punkt IV. des Beweisbeschlusses entgegengestanden, nach dem eine notwendige Bauteilöffnung der Klägerin „auf ihre Kosten“ auferlegt worden sei.

Anmerkung: Der Fall verdeutlicht, dass die Partei versuchen sollte, derartige Kosten von vornherein als Gerichtskosten zu postulieren, indem der Sachverständige mit der Bauteilöffnung beauftragt wird.  Kann die Partei damit nicht durchdringen, sollte jedenfalls im Falle eines Vergleichsschlusses, bei dem die Kosten gegeneinander aufgehoben werden, bezüglich der von der Partei getragenen Kosten für Bauteilöffnung aber auch -schließung geregelt werden, dass diese hälftig von der gegnerischen Partei getragen werden.

OLG Nürnberg, Beschluss vom 22.05.2020 - 2 W 1128/20 -

Donnerstag, 16. Juli 2020

Haftungsverteilung: Überholen einer stockenden Kolonne


Gegenstand der Klage war ein Verkehrsunfall anlässlich eines Überholvorgangs des Klägers. Dieser fuhr ebenso wie der Erstbeklagte in einer Fahrzeugkolonne, die sich hinter einem Traktor gebildet hatte. Der Kläger befand sich etwa 10 bis 12 Fahrzeuge hinter dem Traktor. Nachdem 3 bis 6 Fahrzeuge, die sich direkt hinter dem Traktor befanden, zunächst diesen überholten, scherte der Kläger mit eingeschalteten Warnblinklicht aus der Kolonne aus und wollte die vor ihm fahrenden Fahrzeuge nebst dem Traktor links überholen. Der Erstbeklagte, der sich zwischenzeitlich direkt hinter dem Traktor befand, scherte nun ebenfalls nach links zum Überholen des Traktors aus und kollidierte dabei mit dem klägerischen Fahrzeug. Das Landgericht ging von einer Haftungsquote von 30% zu Lastend es Klägers zu 70% zu Lasten der Beklagten aus. Die vom Kläger eingelegte Berufung wurde zurückgewiesen.

Das OLG wies darauf hin, dass bei der Bildung der Haftungsquote nach § 17 Abs. 2 StVG auf die Umstände des Einzelfalls abzustellen sei, mithin insbesondere darauf, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder anderen Beteiligten verursacht worden sei. Neben der Betriebsgefahr der beteiligten Fahrzeuge dürften dabei nur unstreitige, zugestandene oder aber bewiesene Umstände berücksichtigt werden. Jeder beteiligte hätte dabei die Umstände zu beweisen, die dem anderen Beteiligten zum Verschulden reichen würden und aus denen er meint, für die Abwägung günstige Rechtsfolgen herleiten zu können.  

Dabei sei zu Lasten der Beklagten der Verstoß des Erstbeklagten gegen § 5 Abs. 4 S. 1 StVO (überholen darf nur, wenn eine Gefährdung nachfolgenden Verkehrs ausgeschlossen ist) zu berücksichtigen.

Allerdings sei bei dem Kläger eine gesteigerte Betriebsgefahr zu berücksichtigen. Er habe mit 67km/h eine Fahrzeugkolonne links überholt, die sich auf der Bundesstraße hinter einem Traktor aufgestaut habe. Er sei dann mit Warnblinklicht ausgeschert um zu überholen. Der weitere Verlauf der Bundesstraße nach der Unfallstelle sei wegen einer Kuppe nicht einsehbar gewesen, weshalb sich der Kläger bei möglichen Gegenverkehr in die Fahrzeugschlange hätte „reinquetschen“ müssen. Ferner hätte er, wie geschehen, damit rechnen müssen, dass eines der ersten Fahrzeuge hinter dem Traktor aus der Kolonne ausschert um ebenfalls zu überholen.

§ 5 Abs. 4 und 4a StVO verlange von dem Überholer auf die Fahrweise des Eingeholten zu achten und er dürfe diesen nicht gefährden. Er müsse nach der Örtlichkeit sicher sein, dass kein Vorausfahrender links abbiegen will. Wer eine stockende Kolonne überhole, ohne mit Gewissheit vorn eine Einscherlücke erkenne, zeige keine äußerste Sorgfalt nach § 5 Abs. 4 S. 1 StVO. Der Kläger habe sich nicht alleine auf das von ihm eingeschaltete Warnblinklicht verlassen dürfen; § 16 Abs. 2 StVO sehe entsprechende ausdrückliche Benutzungsvorschriften vor, damit keine übertriebene Benutzung erfolge, die hier das Warnblinklicht nicht vorgesehen hätten.

OLG Schleswig, Beschluss nach § 522 ZPO vom 30.01.2020 - 7 U 210/19 -

Dienstag, 14. Juli 2020

WEG: Klage des ausgeschiedenen Eigentümers und zuständiges Landgericht bei Berufung


Das Amtsgericht hatte die Klage abgewiesen und in der Rechtsbehelfsbelehrung darauf verwiesen, die Berufung müsse bei dem LG Essen eingelegt werden. Der Kläger erhob allerdings Berufung zum LG Dortmund, da dieses für Wohnungseigentumssachen im berufungsverfahren zuständig ist. Die Berufung wurde als unzulässig zurückgewiesen. Die Revision führte zur Aufhebung und Zurückverweisung an das Landgericht.

Die Kläger machten Schadensersatzansprüche aus einer Leckage des Abflussrohres im Badezimmer der Beklagten wegen Schäden an der Badezimmerdecke gegen diese geltend. Die Parteien waren Mitglieder einer Wohnungseigentümergemeinschaft. Vor Rechtshängigkeit der Klage veräußerten die Kläger allerdings ihre Wohnung. Nach Ansicht des im Berufungsverfahren angerufenen Landgerichts würde es sich nicht um eine Wohnungseigentumssache handeln, weshalb das für das Amtsgericht örtliche Landgericht für das Berufungsverfahren zuständig gewesen wäre. Die Kläger sein keine Wohnungseigentümer gewesen, als der Rechtsstreit rechtshängig wurde.

Das sah nun der BGH anders. Es würde sich um eine Wohnungseigentumssache iSv. § 43 Nr. 1 WEG handeln. Dazu würden auch Streitigkeiten über sich aus der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer ergebende Rechte und Pflichten der Wohnungseigentümer untereinander. Ausschlaggebend sei nicht die jeweilige Rechtsgrundlage des Anspruchs, sondern alleine der Umstand, ob ein innerer Zusammenhang mit einer Angelegenheit bestünde, die aus dem Gemeinschaftsverhältnis der Wohnungseigentümer erwachse.

Der Schaden an der Badezimmerdecke der ehemaligen Wohnung der Kläger durch ein (nach Behauptung der Kläger) Leckage des Abflussrohres in der Wohnung der Beklagten würde in einem inneren Zusammenhang mit dem Gemeinschaftsverhältnis stehen, da der Schaden durch den baulichen Zustand des Abflussrohres in der Wohnanlage verursacht worden sein soll.

Nicht entscheidend sei, dass die Kläger bereits vor Rechtshängigkeit aus der Wohnungseigentumsgemeinschaft ausgeschieden seien. § 43 WEG sei gegenstands- und nicht personenbezogen zu verstehen. Alleine dadurch, dass eine der Parteien vor Rechtshängigkeit aus der Wohnungseigentümergemeinschaft ausscheide, ändere mithin nichts an der Zuständigkeit des Wohnungseigentumsgerichts (st. Rspr., so BGH, Beschluss vom 26. 09.2002 – V ZB 24/02 -; BGH, Beschluss vom 17.03.2016 – V ZR 185/15 -).

Die Berufung sei trotz falscher Rechtsmittelbelehrung richtig eingelegt worden. Dabei käme es nicht darauf an, ob erstinstanzlich der nach dem Geschäftsverteilungsplan für diese Streitigkeit zuständige Amtsrichter entschieden habe (BGH, Beschluss vom 12.11.2015 - V ZB 36/15 -).

Anmerkung: Wäre die Berufung bei dem in der Rechtsmittelbelehrung benannten (unzuständigen) Landgericht eingelegt worden, hätte dieses auf seine Unzuständigkeit hinweisen müssen und wäre es dem Rechtsmittelführer möglich gewesen, das Rechtsmittel noch bei dem zuständigen Gericht (ggf. verbunden mit einem grundsätzlich stattzugebenden Wiedereinsetzungsantrag wegen Versäumung der Berufungsfrist einzulegen.

BGH, Beschluss vom 13.12.2019  - V ZR 313/16 -