Der Betroffene mahnte die
Beschwerdeführerin wegen eines in ihrer Zeitschrift „W“ am 10.05.2020
veröffentlichten Artikels zu einem J.,
der an der Veröffentlichung eines Videos beteiligt gewesen sein sollte, das zum
Rücktritt des österreichischen Politikers Strache führte, am 11.05.2020 mit
einem 15-seitigen Schreiben ab; gegen J. wird seit der Veröffentlichung in
Österreich strafrechtlich ermittelt. Der Beschwerdeführer reagierte am Abend
des gleichen Tages auf die Abmahnung und wies diese unter Darlegung der Gründe
und Beifügung von Anlagen zurück. Am Morgen des 12.05.2020 beantragte er eine
einstweilige Verfügung mit einer bei dem LG Berlin eingereichten 26-seitigen
Antragsschrift, die gegenüber der Abmahnung ausgebaut wurde, auf Argumente der
Abmahnerwiderung reagierte und zwei eidesstattliche Versicherungen des Betroffenen
ergänzte. Nach dem Abruf des Schutzschriftregisters gegen Mittag erließ das LG
Berlin im Wege der einstweiligen Verfügung einen Beschluss (ohne Begründung),
mit dem der Beschwerdeführerin die weitere Verbreitung des Artikels (so über
digitale Kanäle, insbesondere auch im Online-Archiv) untersagt wurde. Gegen
diesen Beschluss lehnte die Beschwerdeführerin nach Zustellung am 14.05.2020 am
19.05.2020 die erkennenden Richter des LG Berlin als Befangen ab und legte am 20.05.2020
gegen den Beschluss Widerspruch zusammen mit einem Antrag auf Aussetzung der Vollziehung
ein. Sodann erhob die Beschwerdeführerin mit der Begründung, es läge eine offenkundige
und bewusste Verletzung ihrer prozessualen Waffengleichheit vor und begehrte
die Aussetzung der einstweiligen Verfügung.
Nach Anhörung des Betroffenen
(des Antragstellers im Verfahren vor dem LG Berlin) gab das BVerfG dem Antrag
der Beschwerdeführerin statt.
Obwohl grundsätzlich zunächst vor
einer Verfassungsbeschwerde der Rechtsweg ausgeschöpft sein muss, sieht hier
das BVerfG die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde als gegeben an. Dies
begründet es mit der Besonderheit des Verfahrens und die darauf bezogene
Begründung: Geltend gemacht würde eine Rechtsverletzung unmittelbar durch die Handhabung
des Prozessrechts im Verfahren über den Erlass der einstweiligen Verfügung
durch (bewusstes) Übergehen ihrer prozessualen Rechte. Insbesondere könne sie
mit dem Antrag auf einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung aus dem Beschluss
die Missachtung des Verfahrensrechts nicht geltend machen (BVerfG, Beschluss
vom 03.06.2020 - 1 BvR 1246/20 -), da dieser Antrag von der Erfolgsaussicht des
Widerspruchs abhängig sei. Auch i übrigen gäbe es keine Rechtsmittel, mit denen
die Verletzung der prozessualen Waffengleichheit geltend gemacht werden könne,
weshalb es hier ausnahmsweise zulässig sei, unmittelbar gegen die einstweilige
Verfügung Verfassungsbeschwerde zu erheben. Da die Rechtsbeeinträchtigung durch den Unterlassungstitel
fortdaure, benötige die Beschwerdeführerin auch kein besonders gewichtiges
Feststellungsinteresse (BVerfG aaO.).
Die von der Beschwerdeführerin
benannte Verletzung der prozessualen Waffengleichheit wurde vom BVerfG als
grundrechtsgleiches Recht bejaht. Auch im Verfahren der einstweiligen
Verfügung, selbst wenn eine Verfügung wegen besonderer Dringlichkeit ohne
mündliche Verhandlung ergehen dürfe, bedürfe es der Einbeziehung der Gegenseite
im verfahren (BVerfG, Beschluss vom 30.09.2018 - 1 BvR 1783/17 -; BVerfG,
Beschluss vom 03.06.2020 aaO.). Diese Einbeziehung des Gegners sei nur
entbehrlich, wenn der eingereichte Antrag mit der Abmahnung identisch sei und
die Erwiderung des Gegners auf die Abmahnung mit eingereicht würde. Läge
erkennbar eine Identität nicht vor, da der Betroffene auf die Erwiderung der Gegenseite
in seiner Antragsschrift inhaltlich eingehen würde und repliziere, müsse das
Gericht dem Antrag zu Gehör der Gegenseite bringen (BVerfG vom 30.09.2018 aaO.;
BVerfG vom 03.06.2020 aaO.).
An diese Vorgaben habe sich das
LG Berlin nicht gehalten und deshalb das grundrechtsgleiche Recht auf
prozessuale Waffengleichheit aus Art. 3 Abs. 1 iVm Art. 20 Abs. 3 GG verletzt. Es
habe die Gleichwertigkeit seiner prozessualen Stellung gegenüber der
Beschwerdeführerin als Verfahrensgegner nicht mehr gewährleistet. Die
Antragsschrift sei ausdrücklich auf die Einwände der Beschwerdeführerin in deren
außergerichtlicher Stellungnahme eingegangen, woraus sich bereits für das
Gericht im Sinne gleichwertiger Äußerungs- und Verteidigungsmöglichkeit hätte
ergeben müssen, der Beschwerdeführerin (evtl. auch fernmündlich oder E-Mail) Gelegenheit
zur Stellungnahme zu geben. Hinzu käme, dass die Antragsbegründung – unabhängig
von unterschiedlichen Anforderungen an ein anwaltliches Schreiben im Vergleich
zu einem Verfahrensschriftsatz – umfassender und differenzierter war als das
Abmahnschreiben, welches auch neue Gesichtspunkte enthielt. Erstmals sei zudem
hier auch ausdrücklich die Tatsachengrundlage der im Artikel benannten Vorwürfe
bestritten, demgegenüber im Abmahnschreiben noch auf deren Nachweislichkeit
anhand der Aktenlage verwiesen worden sei. Damit habe keine Kongruenz zwischen
dem Abmahnschreiben und der Antragsschrift bestanden.
Auch kann nach Ansicht des BVerfG
der Beschwerdeführerin nicht vorgeworfen werden, keine Schutzschrift im
elektronischen Schutzschriftregister zu hinterlegen. Es könne dem Gegner nicht
zugemutet werden, auf einen ihn unbekannten Vortrag vorsorglich zu erwidern.
Auch wenn die Frist zu einer
Stellungnahme der Beschwerdeführerin im Verfahren über die einstweilige
Verfügung hätte kurz bemessen werden können, sei es unzulässig, wegen dadurch bedingter Verzögerungen gänzlich
von einer Einbeziehung der Gegenseite abzusehen und ihn bis zu einer auf den Widerspruch
hin anzuberaumenden mündlichen Verhandlung mit einer einseitig erstrittenen gerichtlichen
Unterlassungsverfügung zu belasten und die zudem auch ohne Begründung ist (Anm.:
und nicht haben muss), weshalb der Beschwerdeführerin nicht ersichtlich sei, ob
ihr Vortrag überhaupt Berücksichtigung gefunden habe bzw. unter welchen Gesichtspunkten
er hintenangestellt worden sei.
BVerfG, Beschluss vom 17.06.2020 - 1 BvR 1380/20 -