Freitag, 24. Juli 2020

Welcher Vortrag unterliegt der Prüfungspflicht des Berufungsgerichts ?



Die Klage wurde vom Landgericht abgewiesen, die Berufung dagegen vom OLG zurückgewiesen. Im Rahmen der Nichtzulassungsbeschwerde rügte die Klägerin  die Verletzung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG). Der BGH hob das Urteil des OLG aus diesem Grund auf und verwies den Rechtsstreit an das OLG zurück.

Das OLG hatte darauf abgestellt, dass seitens der Klägerin im Rahmen der innerhalb einer Notfrist von zwei Monaten nach Zustellung des erstinstanzlichen Urteils zu begründenden Berufung nicht geltend gemacht worden sei, dass das Landgericht die in einem erstinstanzlichen Schriftsatz benannten Zeugen Z. und G. nicht vernommen habe, sondern erst später in einem Schriftsatz vom 26.03.2019 deren Vernehmung (erstmals im berufungsverfahren) beantragt worden sei. In dem Verfahrensstadium der Beantragung im Berufungsrechtszug sei für eine Nachholung der in erster Instanz nicht erhobenen Beweise gem. § 520 Abs., 3 ZPO (notwendiger Inhalt der Berufungsbegründung) kein Raum mehr.

Dem folgt der BGH nicht.

Die unterlassene Berücksichtigung eines erheblichen Beweisangebotes stelle verstoße gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn dies im Prozessrecht keine Stütze fände. An einer Grundlage für die Versagung der Beweiserhebung fehle es vorliegend, da die Annahme des Berufungsgerichts, nach § 520 Abs. 3 ZPO fehle es an einem Raum für die Beweisaufnahme, fehlerhaft sei. Sei  - wie hier - die Berufung als solche zulässig, gelange der gesamte aus der Gerichtsakte ersichtliche Prozessstoff erster Instand automatisch in die Berufungsinstanz. In erster Instanz erfolgtes Vorbringen (wenn es nicht zulässig dort zurückgewiesen wurde) sei von daher, ohne dass es eines erneuten Vorbringens im Berufungsrechtszug bedürfe, auch Prozessstoff des Berufungsverfahrens.

Das Berufungsgericht müsse alle konkreten Anhaltspunkte, die Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der Tatsachenfeststellungen begründen, berücksichtigen. Dafür sei ausreichend, dass sich diese Anhaltspunkte aus dem erstinstanzlichen Vortrag der Parteien ergäben. Dieses erstinstanzliche Übergehen müssen nicht Gegenstand der Rügen im Rahmen der Berufungsbegründung gewesen sein. Auch ohne Rüge seitens des Berufungsführers sei das Berufungsgericht bei konkreten Anhaltspunkten für Zweifel an der Richtigkeit entscheidungserheblicher Feststellungen durch das Erstgericht gem. § 529 Abs. 1 Nr. 1 Halbs. 1 ZPO gehalten, die Tatsachen (hier durch die Unterlassene Beweisaufnahme durch Einvernahme der Zeugen) erneut festzustellen, die der Entscheidung zugrunde zu legen sind.

Das habe nichts mit der Frage zu tun, welche inhaltlichen Anforderungen (nach § 520 Abs. 3 ZPO) an die Berufungsbegründung zu stellen seien. Entspräche auch nur eine Rüge diesen Anforderungen, sei in Bezug auf ein und denselben Streitgegenstand die Berufung zulässig. Sei danach die Berufung zulässig, sei die Prüfungspflicht des Berufungsgerichts weitergehend und könne sich nicht auf diese Rüge beschränken, sondern würde die Prüfung im Hinblick auf sonstige Anhaltspunkte, die Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der Tatsachenfeststellungen aufkommen ließen, insgesamt betreffen.

Die Gehörsrüge scheitere hier auch nicht am Grundsatz der materiellen Subsidiarität, da der Kläger noch in der Berufungsinstanz sein erstinstanzliches Beweisangebot ausdrücklich wiederholt habe.

BGH, Beschluss vom 28.04.2020 - VI ZR 347/19 -

Aus den Gründen:


Tenor

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers wird das Urteil des 3. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 26. Juni 2019 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Nichtzulassungsbeschwerde, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Streitwert: 21.000 €

Gründe

I.
Der Kläger nimmt die Beklagten auf Schadensersatz im Zusammenhang mit seiner Beteiligung an der S. GmbH & Co. KG (im Folgenden: Fondsgesellschaft) in Anspruch.
Der Kläger beteiligte sich Ende 2011 treuhänderisch an der Fondsgesellschaft mit einer Einlage von zweimal 10.000 €. Die Beklagten zu 3 und 4 waren Geschäftsführer der S. GmbH. Die Beklagten zu 1 und 2 waren Geschäftsführer der Treuhandgesellschaft, über die sich der Kläger an der Fondsgesellschaft beteiligte, und Mitglieder des Aufsichtsrats der S. AG. Nach dem Konzept der Vermögensanlage sollte die Fondsgesellschaft der S. AG ihr Kommanditkapital als Darlehen zur Umsetzung und Abwicklung von Immobilieninvestitionen der S. AG zur Verfügung stellen. Die Anleger sollten von den Zinserträgen profitieren.
Der Kläger behauptet, er sei durch falsche Angaben zur Zeichnung der Beteiligung veranlasst worden. In Wirklichkeit habe es sich um ein Schneeballsystem gehandelt. Zudem sei der Prospekt in mehrfacher Hinsicht falsch.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Klägers hat das Oberlandesgericht zurückgewiesen. Hiergegen wendet sich der Kläger mit der Nichtzulassungsbeschwerde, mit der er eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör rügt.
II.
Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 9 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Das angefochtene Urteil beruht auf einer Verletzung des Anspruchs des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG.
1. Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung unter anderem ausgeführt, dass für die im Schriftsatz vom 26. März 2019 beantragte Vernehmung der Zeugen Z. und G., die erstinstanzlich im Schriftsatz vom 29. Oktober 2014 benannt worden seien, gemäß § 520 Abs. 3 ZPO kein Raum sei. Denn in der Berufungsbegründung sei die Nichteinvernahme der beiden Zeugen durch das Landgericht nicht beanstandet worden. Damit sei im jetzigen Verfahrensstadium für eine Nachholung der in erster Instanz nicht erhobenen Beweise kein Raum mehr.
2. Die Nichtzulassungsbeschwerde macht zu Recht geltend, dass der Kläger durch die Zurückweisung seines in der Berufungsinstanz - nach Ablauf der Berufungsbegründungsfrist - wiederholten Antrags auf Vernehmung der Zeugen Z. und G. in seinem verfassungsrechtlich geschützten Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt worden ist. Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots verstößt gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze findet (st. Rspr., vgl. nur Senatsbeschluss vom 28. Mai 2019 - VI ZR 328/18, VersR 2020, 317 Rn. 5 mwN). Dies ist hier der Fall, weil die Auffassung des Berufungsgerichts, für die Zeugenvernehmung sei gemäß § 520 Abs. 3 ZPO kein Raum, offenkundig fehlerhaft ist (vgl. Senatsbeschluss vom 24. September 2019 - VI ZR 517/18, VersR 2020, 379 Rn. 10).
a) Ist die Berufung zulässig, so gelangt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs grundsätzlich der gesamte aus den Akten ersichtliche Prozessstoff erster Instanz ohne weiteres in die Berufungsinstanz (BGH, Urteile vom 12. März 2004 - V ZR 257/03, BGHZ 158, 269, 278; vom 19. März 2004 - V ZR 104/03, BGHZ 158, 295, 309; vom 27. September 2006 - VIII ZR 19/04, NJW 2007, 2414 Rn. 16). Dementsprechend wird im ersten Rechtszug nicht zurückgewiesenes Vorbringen ohne weiteres Prozessstoff der zweiten Instanz; eines erneuten Vorbringens bedarf es insoweit grundsätzlich nicht (Senatsbeschluss vom 24. September 2019 - VI ZR 517/18, VersR 2020, 379 Rn. 8). Das Berufungsgericht muss alle konkreten Anhaltspunkte, die Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der Tatsachenfeststellungen begründen, berücksichtigen, die ihre Grundlage im erstinstanzlichen Vorbringen der Parteien haben, auch wenn das Übergehen dieses Vortrags von dem Berufungskläger nicht zum Gegenstand einer Berufungsrüge gemacht worden ist. Bemerkt das Berufungsgericht etwa anlässlich der Prüfung sonstiger Berufungsrügen, dass das Eingangsgericht eine für die Beweiswürdigung bedeutsame Tatsache oder ein erhebliches Beweisangebot übergangen hat, dann bestehen auch ohne dahingehende Rüge konkrete Anhaltspunkte für Zweifel an der Richtigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen, die das Berufungsgericht gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 Halbs. 2 ZPO zu einer erneuten Tatsachenfeststellung verpflichten (BGH, Urteil vom 12. März 2004 - V ZR 257/03, BGHZ 158, 269, 279).
Anderes ergibt sich nicht aus den im Berufungsurteil zitierten Kommentierungen zu § 520 Abs. 3 ZPO (Reichold in Thomas/Putzo, ZPO, 39. Aufl., § 520 Rn. 23; Heßler in Zöller, ZPO, 32. Aufl., § 520 Rn. 41). Denn § 520 Abs. 3 Satz 2 ZPO und die Kommentierungen hierzu betreffen lediglich die inhaltlichen Anforderungen, die an die Berufungsbegründung zu stellen sind. Entspricht aber auch nur eine Rüge diesen Anforderungen, ist - bezogen auf ein und denselben Streitgegenstand - die Berufung zulässig. Die Prüfungspflicht des Berufungsgerichts erstreckt sich dann nach der genannten Rechtsprechung auch auf sonstige konkrete Anhaltspunkte für Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der Tatsachenfeststellungen.
b) Nach alledem ist mit der zulässigen Berufung das vom Landgericht nicht zurückgewiesene Beweisangebot des Klägers auf Vernehmung der Zeugen Z. und G. auch ohne Erwähnung in der Berufungsbegründung in die Berufungsinstanz gelangt.
Die Gehörsrüge scheitert auch nicht am Grundsatz der materiellen Subsidiarität, da der Kläger noch in der Berufungsinstanz sein erstinstanzliches Beweisangebot ausdrücklich wiederholt hat.
3. Der Gehörsverstoß ist entscheidungserheblich. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht bei Vernehmung der Zeugen zu einer anderen Beurteilung gelangt wäre. Dass aus Sicht des Berufungsgerichts der Sachvortrag, zu dem die Zeugen als Beweis angeboten worden sind, ohnehin nicht entscheidungserheblich wäre, lässt sich dem Berufungsurteil nicht entnehmen.
4. Die neue Verhandlung gibt dem Berufungsgericht im Übrigen Gelegenheit, sich gegebenenfalls mit dem weiteren Vorbringen des Klägers im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde zu befassen.

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