Montag, 6. Januar 2025

Geht dingliches Vorkaufsrecht zugunsten Familienangehörigen dem Mietervorkaufsrecht vor ?

Die Eheleute haben im Zuge ihrer Scheidung ein gemeinsames Haus in Wohnungseigentum geteilt und drei Wohnungen gebildet. Von denen zwei der Beklagte und eine die Klägerin erhielt. Gleichzeitig wurden wechselseitig dingliche Vorkaufsrechte bewilligt. Zu der einen in 2019 vom Beklagten verkauften Wohnung mit einem Kaufpreis von € 29.000,00 übte die Klägerin ihr Vorkaufsrecht aus. Der Mieter der Wohnung übte sein Mietervorkaufsrecht nach § 577 Abs. 1 BGB aus. Der Beklagte und der Mieter schlossen sodann einen notariellen Vertrag, der die Einzelheiten regelte. Der Mieter wurde als Eigentümer im Grundbuch eingetragen, danach das Vorkaufsrecht der Klägerin gelöscht. Gegen die Löschung erhob die Klägerin Widerspruch und auf ihre Rechtsbeschwerde wies das OLG das Grundbuchamt an, einen Widerspruch gegen die Löschung im Grundbuch einzutragen (Beschluss vom 27.04.2023 - V ZB 58/22 -). Mit der Klage begehrte die Klägerin vom Beklagten die Auflassung des Eigentums an der Wohnung Zug um Zug gegen Zahlung von € 27.000 nebst Bewilligung der Eintragung als Eigentümerin, vom Beklagten vereinnahmte Mieten, Nutzungsentschädigung sowie Feststellung der Erstattungspflicht möglicher weiterer Schäden, Das Landgericht wies die Klage ab, das Oberlandesgericht verurteilte den Beklagten zur Zahlung von € 4.610,90 an die Klägerin und wies im Übrigen die Berufung der Klägerin zurück.  Die Revision der Klägerin führte im Umfang der Zulassung derselben zur Aufhebung des Urteils und Zurückverweisung an das OLG.

Ein Anspruch der Klägerin auf Auslassung könne sich nur aus der Ausübung des dinglichen Vorkaufsrechts ergeben. Ein solcher Kaufvertrag – von dem das OLG ausgegangen sei und der BGH dies deshalb hier voraussetzen müsse – vorausgesetzt wäre zu beachten, dass das dingliche Vorkaufsrecht der Klägerin gegenüber dem Vorkaufsrecht des Mieters den Vorrang genieße. Damit käme die Klägerin in den Genuss der Vormerkungswirkung nach § 1098 Abs. 2 BGB iVm. §§ 883 Abs. 2, 888 BGB mit der Folge, dass die Verfügung des Beklagten zugunsten des Mieters ihr gegenüber unwirksam wäre (BGH, Beschluss vom 27.04.2023 – 58/22 -). Die zu Unrecht gelöschte Vormerkung hätte deren Vormerkungswirkung nicht beseitigt. Damit könne die Klägerin weiterhin die Auflassung Zug um Zug gegen Zahlung des Kaufpreises verlangen und der Beklagte wäre wegen der relativen Unwirksamkeit der Veräußerung an den Dritten (Mieter) auch in der Lage, den Anspruch zu erfüllen.

Das dingliche Vorkaufsrecht genieße jedenfalls dann Vorrang vor dem Vorkaufsrecht des Mieters, wenn es von dem Eigentümer zugunsten eines Familienangehörigen iSv. § 577 Abs. 1 S. 2 BGB bestellt würde. Dieser Fall läge gier vor, da auch die Geschiedenen weiterhin als Familienangehörige anzusehen seien.

Auch käme es nicht darauf an, ob das dingliche Vorkaufsrecht bereits zum Zeitpunkt der Begründung des dinglichen Vorkaufsrechts bereits bestand (wie es vorliegend der Fall war). Dieser Vorrang des dinglichen Vorkaufsrechts ergäbe sich aus dem gesetzgeberischen Regelungskonzept in § 577 BGB. Da der Vermieter das Wohnungseigentum auch nach Überlassung der Wohnung an den Mieter an einen Familienangehörigen verkaufen könne, ohne dass dies ein Vorkaufsrecht des Mieters begründen würde, wäre unerfindlich, weshalb das Mietvorkaufsrecht bei einem nach Überlassung der Wohnung an den Mieter einem für einen Familienangehörigen bestellten Vorkaufsrecht vorgehen sollte.

BGH, Urteil vom 27.09.2024 - V ZR 48/23 -

Freitag, 3. Januar 2025

Dreiseitige Vereinbarung zum Mieterwechsel und deren Durchsetzung

Die Beklagte und die W GmbH schlossen am 13./22.10.2020 einen Mietvertrag über Gewerberäume, befristet vom 01.01.2021 bis zum 31.12.2024. Die Beklagte wurde vom Kläger aufgrund erteilter Handlungsvollmacht (§ 54 HGB) vertreten. Am 23.02.2022 schlossen die W GmbH, die Beklagte und der Kläger (der sich und die Beklagte vertrat, letztere aufgrund der Handlungsvollmacht) mit seiner Einzelfirma GD eine als „Nachtrag zum Mietvertrag vom 13.10.2020 Vertragspartnerwechsel und Übernahmevereinbarung zum 01.03.2022“ überschriebene Vereinbarung, der zufolge die Beklagte zum 01.03.2022 aus dem Mietverhältnis mit der W GmbH austritt und die Einzelfirma GD des Klägers mit Übernahme aller Rechte und Pflichten und Regelungen  in dieses eintritt. Am 23.02.2022 forderte der Kläger die Beklagte zur Räumung des Mietobjekts und Herausgabe an sich auf, die Beklagte forderte von dem Kläger die Herausgabe der Handlungsvollmacht. Am 29.11.2023 erhob der Kläger Räumungsklage. Das Landgericht gab der Räumungsklage statt. Dagegen wandte sich die Beklagte mit ihrer Berufung. Die Parteien erklärten den Rechtsstreit einvernehmlich in der Hauptsache für erledigt, nachdem der Kläger darauf verwies, dass das Mietverhältnis am 31.12.2023 geendet habe.

Das Oberlandesgericht musste nunmehr noch nach der übereinstimmenden Erledigungserklärung durch die Parteien über die Kosten des Verfahrens nach § 91a Abs. 1 ZPO unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes nach billigem Ermessen entscheiden. Maßgeblich sei insoweit, wer im Verfahren voraussichtlich unterlegen gewesen wäre, wenn es nicht zur Hauptsacheerledigung gekommen wäre (BGH, Beschluss vom 20.07.2017 - IX ZR 56/16 -).

Her sah das OLG den Kläger im Hinblick auf das Räumungsverlangen als voraussichtlich unterlegene Partei an, da die Klage bereits zum Zeitpunkt ihrer Erhebung im November 2022 unbegründet gewesen sei.  Der Kläger sie nicht Eigentümer der Mieträume gewesen, weshalb sich ein Herausgabeanspruch nicht aus § 985 BGB ergäbe. Damit könne nur die Nachtragsvereinbarung als Anspruchsgrundlage in Betracht kommen. Aber diese ergäbe bei Auslegung nach §§ 133, 157 BGB keinen Anspruch des Klägers auf Räumung und Herausgabe an sich.

Bei der Auslegung wäre in erster Linie der von den Parteien gewählte Wortlaut und der diesem zu entnehmende Parteiwille zu berücksichtigen (BGH, Urteil vom 15.012012 - XI ZR 22/12 -). Der übereinstimmende Parteiwille würde dabei aber dem Wortlaut und jeder anderen Interpretation vorgehen (BGH, Beschluss vom 30.04.2012 – XII ZR 124/12 -).

Das OLG sah in dem Nachtrag zwei Vereinbarungen, die aber keinen unmittelbaren Anspruch des Klägers gegen die Beklagte begründen würden: Gegenstand des Nachtrages sei zum Einen die Abänderung einer schuldrechtlichen Vereinbarung der W GmbH mit der Beklagte dahingehend, dass das Mietverhältnis zum 01.03.2022 endet.  Gleichzeitig sollte zum Anderen ein Mietverhältnis mit der Einzelfirma des Klägers und der W GmbH durch Eintritt der Einzelfirma in das bisherige Mietverhältnis begründet werden; die klägerische Einzelfirma sollte die Rechte, Pflichten und Regelungen, die zwischen der Beklagten und der W GmbH bestanden, übernehmen.  Eine Regelung zu unmittelbaren Ansprüchen im Verhältnis zwischen Kläger zur Beklagten wurde nicht getroffen; vielmehr beinhalte die Regelung nur die Beendigung des Schuldverhältnisses zwischen W GmbH und Beklagter und die Begründung eines Schuldverhältnisses zwischen der Einzelfirma des Klägers und der W GmbH. Ein eigener Anspruch des Klägers gegen die Beklagte war damit nicht begründet worden.

Es habe dafür auch kein praktisches Bedürfnis bestanden, da die Umsetzung des Mieterwechsels über die Ansprüche in den jeweiligen schuldrechtlichen Vereinbarungen möglich gewesen sei. Die W GmbH habe gegen die Beklagte einen Räumungs- und Herausgabeanspruch aus § 546 Abs. 1 BGB geltend machen können, die Einzelfirma des Klägers gegen die W GmbH einen Anspruch auf Überlassung des Besitzes gem. § 535 Abs. 1 BGB.

OLG Dresden, Beschluss vom 08.04.2024 - 5 U 1855/23 -

Sonntag, 29. Dezember 2024

Scheinbeklagter und dessen Kostenantrag nach Klagerücknahme

Die Klägerin erhob gegen eine Firma X Gesellschaft mit beschränkter Haftung, vertreten durch die Mehrheitsgesellschafterin VX Klage. Im Rahmen des schriftlichen Vorverfahrens erließ das Landgericht am 03.11.2023 ein Versäumnisurteil. Am 14.11.2023 teilte das Landgericht der Klägerin mit, dass sowohl das Versäumnisurteil als auch die Erstverfügung nicht hätten zugestellt werden können. Die Klägerin teile eine neue Anschrift der Gesellschaft mit. Nachdem dort die Erstverfügung und das Versäumnisurteil am 18.11.2023 zugestellt werden konnten, zeigte ein Rechtsanwalt die Vertretung von Frau YX an und teilte mit, diese habe „das Unternehmen veräußert“, was auch im Handelsregister vor Klageerhebung „vollzogen“ worden sei. Vorsorglich legte er Einspruch gegen das Versäumnisurteil ein, wobei er es ausdrücklich demjenigen vorbehielt, den Einspruch zu begründen, die die Gesellschaft/Beklagte tatsächlich vertritt. Das Landgericht beraumte Termin zur mündlichen Verhandlung an gewährte der Klägerin rechtliches <Gehör zur Frage der Passivlegitimation. Mit Beschluss vom 09.01.2023 hob das Landgericht den Termin auf und erteilte Hinweise zum Stand des Handelsregisters ab dem 04.07.2023 und dessen Folgen. Am 10.01.2024 teilte das Insolvenzgericht  mit, dass am 04.01.2023 über das  Vermögen der X GmbH des Insolvenzverfahren eröffnet worden sei, was das Landgericht der Klägerin und Frau YX zur Kenntnis brachte. Am 05.03.2024 nahm die Klägerin die Klage zurück. Auf den Kostenantrag  von Frau YX erlegte das Landgericht der Klägerin mit Beschluss vom 20.03.2024 die Kosten des Rechtsstreits auf. Die Klägerin legte gegen den Beschluss vom 20.03.2024 sofortige Beschwerde ein und beantragte, die Kosten der X GmbH aufzuerlegen mit Hinweis darauf, dass der Insolvenzverwalter der X GmbH die Forderung der Klägerin zur Tabelle festgestellt habe. Der Beschwerde halb das Landgericht nicht ab und legte den Vorgang dem Oberlandegericht zur Entscheidung über die Beschwerde vor. Die Beschwerde wurde vom Oberlandesgericht als unbegründet abgewiesen.

Würde wie hier nach Einreichung der Klage bei Gericht, aber noch vor Zustellung derselben an die Beklagte das Insolvenzverfahren über deren Vermögen eröffnet, finde eine Unterbrechung des Rechtsstreits nicht statt (BGH, Beschluss vom 11.12.2008 - IX ZB 232/08 -). Für das Beschwerdeverfahren könne nichts anderes gelten.

Rechtsgrundlage der Kostenentscheidung des Landgerichts sei § 269 Abs. 4 S. 1 ZPO. Den erforderlichen Kostenantrag nach § 269 Abs. 4 S. 1 ZPO könne auch eine Scheinbeklagte stellen, da auch eine solche Anlass zur Verteidigung habe und die Möglichkeit haben müsse, sich entsprechend § 269 Abs. 3 S. 2 ZPO bei der Klägerin schadlos zu halten, die die falsche Zustellung veranlasst habe. 

Nach § 269 Abs. 3 S. 3 Halbs. 1 ZPO bestimme sich die Kostentragungspflicht unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes nach billigem Ermessen, wenn der Anlass zur Einreichung der Klage vor Rechtshängigkeit weggefallen und die Klage daraufhin zurückgenommen würde. Der „Anlass zur Klage“ iSv. § 269 Abs. 3 S. 3 ZPO könne nur angenommen werden, wenn die Klage bei ihrer Einreichung zulässig und begründet war oder jedenfalls zu irgendeinem Zeitpunkt vor ihrer Einreichung zulässig und begründet gewesen wäre. Auf eine aus objektiver Sicht zu keinem Zeitpunkt aussichtsreichen Klage sei die Bestimmung nicht anwendbar (BGH, Beschluss vom 17.12.2020 - I ZB 38/20 -).

Hier sei die Klage zu keinem Zeitpunkt aussichtsreich gewesen. Sei der gesetzliche Vertreter der Beklagten nicht nur irrtümlich falsch bezeichnet worden und die Klage an den vermeintlichen gesetzlichen Vertreter mit Willen der Klägerin zugestellt worden, sei die Klage unzulässig (BGH, Urteil vom 14.03.2017 - XI ZR 442/16 -). Zwar sei die Annahme des Landgerichts fehlerhaft, dass bereits über einen Monat vor Einreichung der Klage ein neuer Geschäftsführer im Handelsregister eingetragen worden sei; bis zum heutigen Tag sei B als Geschäftsführer im Handelsregister eingetragen, der allerdings bereits Ende 2022 verstorben sei.

(Anmerkung: Ist die GmbH „führungslos“, hat sie also keinen Geschäftsführer, greift § 35 Abs. 1 S. 2 GmbHG, wonach für den Fall, dass sich die Gesellschaft nicht in Liquidation oder im Insolvenzverfahren befindet, und ihr gegenüber Willenserklärungen abgegeben oder Schriftstücke zugestellt werden sollen, die Gesellschafter due Gesellschaft vertreten.)

Entscheidend sei vorliegend, dass eine Zustellung der Klageschrift an die dort benannte Frau YX nicht in Betracht gekommen sei, da diese bereits mit notariellen Vertrag vom 16.04.2019 alle ihre Gesellschaftsanteile an B veräußert habe, in dessen Hand ab diesem Zeitpunkt alle Gesellschaftsanteile der Gesellschaft gelegen hätten, was im Handelsregister aus der in den Registerordner am 04.07.2023 eingestellten Liste der Gesellschafter ersichtlich gewesen sei. Deshalb sei eine Zustellung der Klageschrift vom 03.08.2023 an Frau YX nach § 35 Abs. 1 S. 3 GmbHG nicht mehr in Betracht gekommen.

OLG Frankfurt, Beschluss vom 30.09.2024 - 3 W 8/24

Samstag, 21. Dezember 2024

Regress des Sozialversicherungsträgers – Grouper als Beweis der Aufwendungen ?

Wie so häufig machte auch hier der klagende Sozialversicherungsträger nach einem Unfall einen nach § § 116 Abs. 1 SGBX auf sie übergegangenen Ersatzanspruch gegen den gesetzlichen Haftpflichtversicherer (Direktanspruch gem. § 115 Abs. 1 S. 1 Nr, 1 VVG) geltend. Die Haftung war unstreitig. Streitig war die Höhe des von der Klägerin begehrten Schadens. Von der Beklagten wurde eingewandt, der Schaden sei bisher – soweit nicht anerkannt – nicht durch prüffähige Unterlagen belegt worden. Hier wie zwischenzeitlich ständig wurde vom Sozialversicherungsträger eingewandt, die von ihr vorgelegten „Grouper“-Ausdrucke (vom Krankenhausträger der Krankenkasse übermittelte Abrechnungsdaten) und vorgelegten Krankenhausberichte seien ausreichend. Ebenso wie es zwischenzeitlich meist geschieht, wurde dies vom Landgericht und – aufgrund der von der Beklagten eingelegten Berufung – auch vom Oberlandesgericht so gesehen (Urteil OLG Sachsen-Anhalt vom 02.07.2023 - 9 U 125/22 -), weshalb der Klage stattgegeben, die Berufung der Beklagten zurückgewiesen wurde. Das OLG argumentiert u.a. damit, dass § 116 Abs. 1 S. 1 SGB X nicht zu entnehmen sei, dass von der Krankenkasse tatsächlich gezahlte Krankenhauskosten aufgrund von Einwendungen gegen die Höhe vom Anspruchsübergang ausgeschlossen sein sollten, wobei es darauf verwies, dass dies auch im Zusammenhang mit dem bei Sachschäden gebräuchlichen Begriff des „Werkstattrisikos“ stünde.

Grundsätzlich, so zutreffend der BGH, stehe der Klägerin gegen die Beklagte ein Anspruch aus nach 116 Abs. 1 S. 1 SGB X zu, und zwar auf Ersatz der Kosten der Heilung der bei dem Verkehrsunfall erlittenen Verletzungen (§§ 7 Abs. 1, 11 S. 1 StVG, 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG iVm. § 1 S. 1 PflVG). Die Bemessung der Höhe des Schadenersatzanspruchs sei in erster Linie des nach § 287 ZPO besonders freigestellten Tatrichters, wobei im Revisionsverfahren nur geprüft werden könne, ob dieser wesentliche Rechtsgrundsätze der Schadensbemessung verkannt, wesentliche Bemessungsgrundlagen außer Acht gelassen oder seien Schätzung unrichtige Maßstäbe zugrunde gelegt habe (st. Rspr., so Urteil vom 29.09.2020 - VI ZR 271/19 -). Solche Fehler lägen hier vor.

Die Klägerin sei, was das OLG verkannt habe, trotz des bereits im Zeitpunkt des schadensstiftenden Ereignisses stattfindenden Anspruchsübergangs nicht als Geschädigte anzusehen. Der Schaden, der der Klägerin zu ersetzen sei, sei nicht ohne weiteres der Vermögenseinbuße gleichzusetzen, die der Klägerin durch ihre Leistungsplicht gegenüber ihrem Versicherten gem. § 11 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 2, § 27 Abs. 1, § 39 Abs. 1 S. 2 SGB V entstanden sei (BGH, Urteil vom 23.02.2010 - VI ZR 331/08 -). Der nach § 116 Abs. 1 S. 1 SGB X übergehende Anspruch auf Ersatz gehe über, soweit dieser aufgrund des Schadensereignisses der Versicherungsträger Sozialleistungen zu erbringen habe, die der Behebung eines Schadens der gleichen Art dienen würden (sachliche Kongruenz) und sich auf denselben Zeitraum wie der vom Schädiger zu leistende Schadensersatz beziehen würde (zeitliche Kongruenz). Dabei knüpfe der Forderungsübergang an die Leistungspflicht des Sozialversicherungsträgers („zu erbringen hat“) und nicht an tatsächlich erbrachte Leistungen an (BGH, Urteil vom 18.10.2022 – VI ZR 1177/20 -). Dabei könne er einen Aufwendungsersatz nur insoweit verlangen, als er Aufwendungen auf einen Schaden des Versicherten zu erbringen habe. Zu unterscheiden sei zwischen der unabhängig von einer Schadensersatzverpflichtung Dritter bestehenden Leistungsverpflichtung des Versicherungsträgers gegenüber der versicherten Person einerseits und seinem Regressanspruch gegenüber einem Schädiger andererseits; übertragen sei dem Versicherungsträger nach § 116 Abs. 1 S. 1 SGB X nur der Schadensersatzanspruch des Versicherten. Läge ein solcher nicht vor, habe er keinen Anspruch gegenüber dem Schädiger (BGH, Urteil vom 10.07.2007 - VI ZR 192/06 -). Etwas anderes ergäbe sich auch nicht aus dem frühen Zeitpunkt des Anspruchsübergangs, mit dem auch möglicherweise in der Zukunft liegende Leistungen des Versicherers für den Geschädigten gesichert würden, die sachlich und zeitlich mit Ersatzansprüchen des Geschädigten kongruent seien; ein eigener Anspruch des Versicherungsträgers auf Erstattung aller seiner durch das Schadensereignis ausgelösten Leistungen folge daraus nicht (BGH, Urteil vom 07.12.2021 - VI ZR 1189/20 -).

Das OLG habe die Anforderungen an die Darlegungs- und Beweislast der Klägerin zur Schadenshöhe rechtsfehlerhaft verkannt.

Den Sozialversicherungsträger träfen im Grundsatz die gleichen Anforderungen an die Darlegungs- und Beweislast wie den Geschädigten, würde dieser den Schadensersatzanspruch selbst geltend machen (u.a. BGH, Urteil vom 23.06.2020 - VI ZR 435/19 -). Es müssten Tatsachen angeführt werden, die in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet sind, das geltend gemachte Recht in ihrer Person entstanden erscheinen zu lassen. Für die Beweislast für die (im Streit stehende) haftungsausfüllende Kausalität, die den ursächlichen Zusammenhang zwischen der primären Rechtsgutsverletzung und weiteren Schäden des Verletzten (Sekundärschäden) betreffe, gelte das erleichterte Beweismaß des § 287 ZPO (wonach eine hinreichende bzw. überwiegende Wahrscheinlichkeit genüge). Auch die Systematik des Gesetzes spreche gegen einen Willen des Gesetzgebers, gesetzliche Krankenkassen (Anmerkung: Gleiches gilt für die gesetzlichen Unfallversicherungsträger) hinsichtlich der Aufwendungen beim Regress nach § 116 Abs. 1 S. 1 SGB X besserzustellen. Der Gesetzgeber habe mit § 116 Abs. 8 SGB X eine Regelung geschaffen, die den Regress für Kosten der nicht stationären ärztlichen Behandlung und Versorgung mit Arznei- und Verbandmitteln vereinfache (Pauschale, werden keine höheren Kosten nachgewiesen); dies sei für die stationäre ärztliche Behandlung nicht erfolgt.

Auch wenn der zur Entscheidung berufene zuständige VI. Zivilsenat des BGH in vergangenen Entscheidungen ausgeführt habe, dass den Belangen der Sozialversicherungsträger Rechnung zu tragen sei (BGH, Urteil vom 24.04.2012 - VI ZR 329/10 -), sei es den Gerichten verwehrt, die Rechtsanwendung allgemein nach dem Schutzbedürfnis der Sozialversicherungsträger auszurichte, selbst wenn sie dies höher bewerten wollten als dem Schutz des Schuldners (BGH vom 24.04.2012 aaO.).  

Auch sei der Annahme des OLG nicht zu folgen, die Klägerin könne die an die Behandlungseinrichtungen gezahlten Beträge aus sozialversicherungsrechtlichen Gründen nicht mehr zurückfordern und dies käme dem Fall des deshalb anzuwenden Rechtsgedanken des § 118 SGB X gleich. Nach § 118 SGB X ei ein Zivilgericht, das über einen nach § 116 Abs. 1 SGB X auf den Sozialversicherungsträger übergegangenen Anspruch zu entscheiden habe, an eine unanfechtbare Entscheidung eines Sozial- oder Verwaltungsgerichts oder eines Sozialversicherungsträgers über den Grund oder die Höhe der dem Leistungsträger obliegenden Verpflichtung grundsätzlich gebunden. Die Bindungswirkung erstrecke sich auf den Tenor des Leistungsbescheides oder des sozial- oder verwaltungsgerichtlichen Urteils und dessen tragende Feststellungen, nicht auf die zivilrechtlichen Haftungsvoraussetzungen wie die Kausalität zwischen Schädigungshandlung und dem eingetretenen Schaden (BGH, Urteil vom 16.03.2021 – VI ZR 773/20 -). [Anmerkung: Leider nimmt der BGH nicht zu der Frage Stellung, ob eine Bindungswirkung ggf. auch dann angenommen werden kann, wenn der vom Sozialversicherungsträger in Anspruch genommene Schädiger an der unanfechtbaren Entscheidung des Sozialversicherungsträgers oder eines sozial- oder sozialgerichtlichen Verfahrens nicht beteiligt war, liegt hier doch bei Annahme einer Bindungswirkung eine Verletzung des rechtlichen Gehörs vor]. Die von der Klägerin geleistete und ggf. nicht rückforderbare Zahlung auf die Rechnungen der Krankenhäuser stehe einer unanfechtbaren Entscheidung eines Sozial- oder Verwaltungsgerichts nicht gleich und vorliegend würde weder der Grund noch die Höhe der Leistungspflicht der Klägerin gegenüber dem Versicherten in Streit stehen. Im, Streit stünde der Schadensersatzanspruch des Versicherten, in dessen Rahmen die Klägerin nur Anspruch auf Ersatz der von ihr verauslagten Kosten für erfolgte medizinische medizinische Untersuchungen und Behandlungen habe, soweit diese iSv. § 249 Abs. 2 S. 1 BGB erforderlich waren (BGH, Urteil vom 17.09.2013 - VI ZR 95/13 -).

Sozialrechtliche Anforderungen an das Abrechnungssystem zwischen Krankenhäusern und gesetzlichen Krankenkassen sowie sozialrechtliche Anforderungen an die Datenübermittlung, Prüfung von Rechnungen und Zahlungspflichten der Krankenkassen würden keine Abweichung von den zivilrechtlichen Grundsätzen der Darlegungs- und Beweislast nach dem Forderungsübergang gem. § 116 Abs. 1 S. 1 SGB X rechtfertigen. Aus §§ 275, 275c, 284 – 293 und 294 bis 303 SGB V  und § 17c Abs. 2b KHG würden daran nichts ändern. Hier würden ausschließlich Rechte und Pflichten von Sozialversicherungsträgern und Leistungserbringern festgelegt, aber nicht das Verhältnis zum Schädiger im Rahmen zivilrechtlicher Haftung geregelt. Gesetzlich Beschränkungen der gesetzlichen Krankenkassen für die Prüfung der Krankenhausrechnungen könnten nicht als Grundlage herangezogen werden, um die Rechtsposition des Schädigers nach dem Forderungsübergang gem. § 116 Abs. 1 S. 1 SGB X zu beschneiden, da ansonsten die Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung überschritten würden (BVerfGE 128, 193, 210; BGH, Urteil vom 11.06.2024 – VI ZR 133/23 -). Damit würden die von den Behandlungseinrichtungen erstellten Abrechnungsdaten nach allgemeinen Grundsätzen auch nur einen Anhaltspunkt, aber kein wesentliches bzw. starkes Indiz für die Erbringung und/oder Erforderlichkeit der abgerechneten Leistung darstellen (so auch zu „Grouper“-Ausdrucken OLG Stuttgart, Urteil vom 19.12.2023 - 12 U 17/23 -; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 30.01.2024 - 1 W 24/23 -; zum Problem der Fahlcodierungen BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 26.11.2018 - 1 BvR 318/17 -). Zudem habe der Gesetzgeber nach § 294a SGB V unter anderem Krankenhäuser gem. § 108 SGB V verpflichtet, Angaben zur Verfügung zu stellen, die sie benötigen, um nach § 116 Abs. 1 S. 1 SGB X auf sie übergegangene Schadensersatzansprüche geltend zu machen.

Die Rechtsprechung zum sogen. „Werkstattrisiko“ bei Beschädigung einer Sache für Reparatur- und Sachverständigenkosten seien für Ansprüche der gesetzlichen Krankenkassen auf Ersatz der Kosten der Heilung nicht übertragbar. Diese Grundsätze seien geprägt von dem Gedanken, dass es Sinn und Zweck des § 249 Abs. 2 S. 1 BGB widerspreche, wen der Geschädigte bei Ausübung der ihm zustehenden Ersetzungsbefugnis im Verhältnis zum ersatzpflichtigen Schädiger mit Mehraufwendungen der Schadensbeseitigung belastet bliebe, deren Entstehung seinem, Einfluss entzogen sei. Eine entsprechende Konstellation läge hier aber nicht vor.  Die gesetzliche Krankenkasse sie nicht Geschädigte, Geschädigter sei der Versicherte. Die Klägerin trage die Behandlungskosten aufgrund ihrer diesem gegenüber bestehenden Leistungspflicht. Ihre Zahlungsverpflichtung entstünde, unabhängig von einer Kostenzusage, unmittelbar mit Inanspruchnahme der Leistung durch den Versicherten Kraft Gesetz, wenn die Behandlung in einem zugelassenen Krankenhaus durchgeführt und iSv. § 39 Abs. 1 SGB V S. 2 erforderlich sei (BSG, Urteil vom 01.07.2014 - B 1 KR 29/13 R; BGH, Urteil vom 03.05.2011 - VI ZR 61/10 -). Die Leistungen der Krankasse sind nicht zwingend deckungsgleich mit dem iSv. § 249 Abs. 2 S. 1 BGB „erforderlichen“ Heilbehandlungsmaßnahmen und selbst bei einer sachlichen und zeitlichen Kongruenz zwischen der Leistungspflicht der Krankenkasse und dem zu leistenden Schadensersatz bemesse sich beides nach unterschiedlichen Grundsätzen.

BGH, Urteil vom 09.07.2024 - VI ZR 252/23 -

Dienstag, 17. Dezember 2024

Gebrauchsüberlassung von Wohnraum an Dritte - fristlose Kündigung

Das LG Hamburg vertritt die Ansicht, ein zur fristlosen Kündigung rechtfertigender wichtiger Grund nach §§ 560, 543 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 Alt. 2 BGB läge vor, wenn der Mieter die Mietsache unbefugt einen Dritten überlasse und trotz Fristsetzung zur Abhilfe (§ 543 Abs. 3 S. 1 BGB) nicht beende. Es änderte damit ein die Räumungsklage des Vermieters abweisendes Urteil des Amtsgerichts ab und gab dieser statt.

Eine Gebrauchsüberlassung läge vor, wenn ein Dritter aufgrund einer Vereinbarung mit dem Mieter ein selbständiges Besitzrecht an der Wohnung des Inhalts erwerbe, dass er die Wohnung unter Ausschluss des Mieters nutzen könne, aber auch dann, wenn der Mieter den Dritten für eine längere Zeit in der Wohnung aufnehme und der Dritte das Recht haben soll, die gesamte Wohnung neben oder zusammen mit dem Mieter zu nutzen.  Davon abzugrenzen sei der Besucher, der den Mieter aufgrund persönlicher Beziehung aufsuche und sich in dessen Wohnung vorrübergehend aufhalte, ohne hierfür ein Entgelt zu entrichten. Nach einem Aufenthalt von vier bis sechs Wochen spräche die Vermutung dafür, dass die Dauer der Aufnahme des Dritten auf Dauer angelegt sei.

Das Landgericht würdigt die Zeugenaussagen im amtsgerichtlichen Verfahren und die Behauptungen des Beklagten, um zu Ergebnis zu gelangen, dass der Beklagte nicht nur Beuch empfangen habe, sondern einen Dritten in seiner Wohnung aufgenommen habe. Ob diese anderweitige Beweiswürdigung durch das Berufungsgericht ohne erneute Vernehmung der Zeugen zulässig war, soll an dieser Stelle auf sich beruhen (dazu BGH, Urteil vom 21.06.2016 – VI ZR 403/14 -, R. 11).

Ausgehend von der Gebrauchs(mit)überlassung durch den Beklagten sah das Berufungsgericht darin eine erhebliche Beeinträchtigung der Rechte der vermietenden Klägerin. Die Erheblichkeit sei regelmäßig bei Vorliegen einer unbefugten Gebrauchsüberlassung zu bejahen, da der Vermieter ein erhebliches Interesse daran habe, zu wissen, wer das Mietobjekt tatsächlich nutze. Zudem spreche dafür auch die Fortsetzung des unerlaubten Gebrauchs auch nach der Abmahnfrist und die damit einhergehende Missachtung des Vermieterwillens.

LG Hamburg, Urteil vom 03.11.2023 - 311 S 25/23 -

Sonntag, 15. Dezember 2024

Bedeutung der Beweiskraft des Protokolls zur Verkündung eines Urteil

Streitgegenständlich war die Wirksamkeit einer ordentlichen Kündigung durch die Arbeitgeberin (Beklagte), gegen die sich der Arbeitnehmer (Kläger) wehrte. Das Arbeitsgericht hatte der Klage durch ein „Teilurteil“ stattgegeben, welches aufgrund mündlicher Verhandlung vom12.01.2023 erging. Der in der mündlichen Verhandlung benannte Verkündungstermin wurde zuletzt auf den 23.02.203 verlegt. In der Gerichtsake folgte die Urteilsformel mit der Unterschrift des Vorsitzenden und der ehrenamtlichen Richter, sodann das „Teilurteil“ in vollständig abgefasster Form, untrennbar verbunden mit einem Verkündungsvermerk der Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle. Es schloss sich eine Verfügung einer Justizangestellten vom 01.03.2023 betreffend die Zustellung des „Teilurteils“ an die Parteien an. Ein Protokoll über eine Verkündung des Teilurteils existierte nicht; solche würden, nach Auskunft der Geschäftsstelle des Arbeitsgerichts seit der elektronischen Führung der Prozessakte nicht mehr erstellt.

Gegen das Teilurteil legte die Beklagte Berufung zum Landesarbeitsgericht (LAG) ein, die zurückgewiesen wurde. Gegen dieses Urteillegte die Beklagte Revision ein, mit der sie weiterhin Klageabweisung beantragte. Die Revision wurde – wenn auch nicht aus materiellen Erwägungen – stattgegeben und der Rechtsstreit an das Arbeitsgericht (nicht an das Landesarbeitsgericht) zurückverwiesen. Die Aufhebung der Entscheidungen des Arbeitsgerichts und LAG sowie die Zurückverweisung an das Arbeitsgericht erfolgten, da das Verfahren bei dem Arbeitsgericht mangels Verkündung noch nicht abgeschlossen sei, es sich bei dem „Teilurteil“ lediglich um einen Urteilentwurf handele.

Die Verkündung eines Urteils erfolge im Namen des Volkes durch Vorlesung der vollständigen Abfassung der vollständigen Urteilsformal einschließlich der Kostenentscheidung, Streitwert und ggf. einer Entscheidung über die Zulassung der Berufung, jedenfalls aber durch Bezugnahme auf die schriftlich niedergelegte Urteilsformel, und zwar in öffentlicher Sitzung (§ 60 ArbGG, § 311 Abs. 2 S. 1 ZPO, § 173 Abs. 1 GVG. Erst durch diese förmliche Verlautbarung mit allen prozessualen und materiell-rechtlichen Wirkungen würde das Urteil existent. Bis zu diesem Zeitpunkt handele es sich um einen – allenfalls den Rechtsschein eines Urteils erzeugenden – Entscheidungsentwurf (BAG, Urteil vom 23.03. 2021 - 3 AZR 224/20 -; für Beschlussverfahren BAG, Beschluss vom 17.08.2022 - 7 ABR 3/21 -).

Die Verkündung einer Entscheidung sei im Protokoll festzuhalten, § 160 Abs. 3 Nr. 7 ZPO, wobei es sich nach § 165ZPO um eine wesentliche Förmlichkeit handele, die nur durch das Protokoll bewiesen werden könne (BGH, Beschluss vom 08.02.2012 - XII ZB 165/22 -). Sei im Protokoll kein Hinweis auf die Verkündung vorhanden, stünde infolge der Beweiskraft des Protokolls ein Verstoß gegen das aus § 60 ArbGG, § 311 Abs. 1 S. 1 ZPO, § 173 Abs. 1 GVG folgende Erfordernis einer Urteilsverkündung in öffentlicher Sitzung fest. Die würde auch gelten, wenn (wie hier) kein unterschriebenes Protokoll existiere, da danach nicht die Verkündung – gerade in einem gesonderten Verkündungstermin – bewiesen werde (BAG, Urteil vom 23.03.2021 aaO.). Der Beweis könne nicht durch den Vermerk des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle nach § 315 Abs. 3 ZPO erbracht werden (BAG, Urteil vom 14.10.2020 - 5 AZR 712/19 -), was auch bei elektronischer Führung der Prozessakte gelte.

Das „Teilurteil“ sei auch nicht auf andere Art und Weise wirksam verlautbart worden.

Würde gegen elementare, zum Wesen der Verlautbarung gehörende Formerfordernisse verstoßen, könne nicht mehr von einer Verlautbarung im Rechtssinne gesprochen werden. Würden die Mindestanforderungen gewahrt, würden allerdings auch Verstöße gegen zwingende Formerfordernisse des Entstehens eines wirksamen Urteils nicht hindern. Zu den Mindestanforderungen gehöre, dass die Verlautbarung vom Gericht beabsichtigt sei oder von den Parteien derart verstanden werden durfte und die Parteien von Erlass und Inhalt der Entscheidung förmlich unterrichtet würden (BAG, Urteil vom 23.03.2021 aaO.). Eine wirksame Verlautbarung könne ggf. dadurch erfolgen, dass der Vorsitzende der Kammer dessen Übersendung an die Parteien selbst verfügt habe, so dass sein Wille, die Entscheidung zu erlassen, außer Frage stünde (BAG, Urteil vom 14.10.2020  5 AZR 712/19 -), was hie nicht der Fall gewesen sei. Dahinstehen könne, ob das auch dann gelten würde, wenn das Gericht die Zustellung in der irrtümlichen Annahme veranlasse, es habe die Entscheidung bereits verkündet (a.A. BGH, Beschluss vom 13.06.2012 - XII ZB 592/11 -; OLG München, Urteil vom 21.01.2022 - 10 U 3446/10 -), da es hier bereits an einer Verfügung zur Übersendung an die Parteien fehlen würde und die Schlussverfügung der Geschäftsstelle die richterliche Verfügung nicht ersetzen könne.

Es käme auch nicht darauf an, dass die Parteien den Mangel der Verkündung nicht rügten, da dies von Amts wegen zu beachten sei und nicht durch unterlassene Rüge geheilt werden könne (BAG, Urteil vom 23.03.2021 aaO.).

Auch wenn das „Teilurteil“  des Arbeitsgerichts in Ermangelung einer wirksamen Verkündung keine rechtliche Wirkung erzeuge, könne es gleichwohl zur Beseitigung des mit ihm verbundenen Rechtsschein mit der Berufung angefochten werden (BAG, Urteil vom 23.03.2021 aaO.).

Infolge der fehlenden Verkündung des „Urteils“ durch das Arbeitsgericht sei das Verfahren nach wie vor in erster Instanz bei dem Arbeitsgericht anhängig und dort noch nicht abgeschlossen. Mit der Berufung gegen dieses „Urteil“ könne der äußere Anschein einer wirksamen, den ersten Rechtszug beendenden gerichtlichen Entscheidung beseitigt werden, weshalb das LAG auf die Berufung der Beklagten das arbeitsgerichtliche „Teilurteil“ hätte aufheben und den Rechtstreit ausnahmsweise an das Arbeitsgericht zurückverweisen müssen; eine eigene Sachentscheidung sei dem LAG verwehrt gewesen (BAG, Urteil vom 23.03.2021 aaO.).

Vorliegend stünde auch § 68 ArbGG, wonach ein Mangel im Verfahren eine Zurückverweisung an das Arbeitsgericht ausgeschlossen sei (mit § 68 ArbGG würde die Möglichkeit nach § 538 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 ZPO bestehend Möglichkeit ausgeschlossen), nicht der Zurückverweisung an das Arbeitsgericht entgegen. Ausnahmsweise käme dies allerdings in Betracht, wenn wie hier ein Verfahrensfehler in der Berufungsinstanz nicht korrigiert werden könne, da das Berufungsgericht die unterlassene Urteilsverkündung nicht selbst vornehmen dürfe und selbst den Rechtsstreit zurückverweisen müsse.

BAG, Urteil vom 24.10.2024 - 2 AZR 260/23 -

Samstag, 14. Dezember 2024

Fristlose Kündigung des gewalttätigen Mieters

Dem Beklagten wurde – ohne vorherige Abmahnung – fristlos wegen seiner Gewalttätigkeiten gekündigt. Seinem Antrag auf Prozesskostenhilfe hatte das Landgericht (LG), den er im Berufungsverfahren nach stattgegebener Klage stellte, zurückgewiesen.

Die Kündigung sei nach § 543 Abs. 1 BGB wirksam. In § 543 Abs. 1 BGB heißt es:

Jede Vertragspartei kann das Mietverhältnis aus wichtigem Grund außerordentlich fristlos kündigen. Ein wichtiger Grund liegt vor, wenn dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere eines Verschuldens der Vertragsparteien, und unter Abwägung der beiderseitigen Interessen die Fortsetzung des Mietverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist oder bis zur sonstigen Beendigung des                                                                                            Mietverhältnisses nicht zugemutet werden kann. 

Grundsätzlich sei zwar das Verschulden des Mieters ein wesentlicher Abwägungsfaktor für die Zumutbarkeit der Vertragsfortsetzung. Vorliegend sah aber das LG die Pflichtverletzungen des Beklagten als so gravierend an, dass dies nicht erforderlich sei. Der Vermieter habe auch Schutzpflichten gegenüber den anderen Hausbewohnern, weshalb eine Fortsetzung des Mietverhältnisses mit dem gewaltbereiten (und angeblich unter untherapierter Alkoholsucht leidenden) Beklagten unter keinen Umständen mehr zumutbar.

Anmerkung: Die Kündigung ohne Verschulden des Mieters ohne vorherige Abmahnung ist eine Ausnahme und kommt dann in Betracht, wenn das Fehlverhalten des Mieters eine Vertrauensgrundlage derart erschütterte, dass sie auch durch eine erfolgreiche Abmahnung nicht geheilt werden kann (Hinweisbeschluss des LG München I vom 13.07.2023 - 14 S 6310/23 -).  Die Abmahnung hatte das LG Berlin (Beschluss vom 22.02.2005 – 63 S 410/04 -) bei SMS an den Vermieter mit „dumme Kuh“ und „Arschloch“ als entbehrlich gehalten, das LG Köln (Urteil vom 30.06.2022 - 6 S 203/21 -)allerdings bei einer Bedrohung von Handwerkern mit einem Messer nicht.

Bei einer Schuldlosigkeit des Mieters muss das Maß des Zumutbaren soweit überschritten sein, dass eine eingeschränkte oder fehlende  Verantwortlichkeit für das eigene Handeln völlig zurücktritt.

LG Berlin II, Beschluss vom 30.07.2024 - 67 S 190/24 -