Dienstag, 27. August 2024

Mitwirkung des Richters bei Versäumnisurteil (1. Instanz) und Befangenheit (2. Instanz)

Immer wieder wechseln Richter vom Landgericht zum (zuständigen) Oberlandesgericht oder werden vom Landgericht zum Oberlandesgericht oder umgekehrt abgeordnet. Das kann im Einzelfall dazu führen, dass sie z.B. beim Oberlandesgericht mit einem Verfahren konfrontiert werden, bei dem sie auch bereits erstinstanzlich mitgewirkt haben. So auch in dem vom OLG zu beurteilenden Fall, in dem ein Vorsitzender Richter am OLG erstinstanzlich (im Rahmen eines dort zunächst ergangenen) Versäumnisurteils mitgewirkt hatte, welches durch das nach Einspruch ergangene Urteil weitestgehend aufrechterhalten wurde und nunmehr dem Senat die Entscheidung über die Berufung oblag, dem der Vorsitzende Richter angehörte. Und natürlich erfolgte wurde zum Einen ein Ausschluss seiner Person nach § 41 Nr. 6 ZPO eingewandt, zum Anderen ein Befangenheitsantrag gestellt.  gegen ihn ein Befangenheitsantrag. Beides wurde zurückgewiesen.

1. Ausschluss gem. § 46 Nr. 6 ZPO

Der zur Entscheidung berufene Senat verwies auf den Wortlaut von § 46 Nr. 6 ZPO, demzufolge ein Richter, der in einer früheren Instanz oder in einem vorangegangenen schiedsgerichtlichen Verfahren mitgewirkt habe, unter den weiteren Voraussetzungen von § 41 Nr. 6 ZPO vom Richteramt in derselben Angelegenheit ausgeschlossen sei. Dies diene der Gewährleistung eines unparteiisch entscheidenden Instanzenzuges. Dieser Ausschluss greife bei Erlass (so der Wortlaut von Nr. 6) jeder Entscheidung, die nach der Anfechtung mit einem ordentlichen Rechtsmittel (§§ 511 ff, 542 ff, 567 ff ZPO) einer Entscheidung durch das Rechtsmittelgericht unterliege. Nicht abgestellt würde für den Ausschluss auf eine Mitwirkung bei der Verkündung der Entscheidung, da diese nach dem Erlass erfolgt (vgl. § 309 ZPO). Umfasst seien damit die Mitwirkung bei dem Erlass von Endurteilen 1. Und 2. Instant und von Zwischenurteilen gem. § 303 ZPO. Auf die Mitwirkung an diesen Urteilen vorausgehenden Entscheidungen käme es nicht an (BGH, Beschluss vom 18.12.2014 – IX ZB 65/13 -).

Daher führe die Mitwirkung an einem die Instanz nicht abschließenden Versäumnisurteil nicht zu einem Ausschluss nach § 41 Nr 6 ZPO (entgegen BAG, Beschluss vom 07.02.1968 - 5 AR 43/68 -).

Anmerkung: Das BAG hatte u.a. darauf abgestellt, dass zu berücksichtigen sei, dass ggf. die Entscheidung über die Berufung nur davon abhängen könne, ob die Klage schlüssig sei. Wenn der Richter des Berufungsverfahrens aber bereits erstinstanzlich im Rahmen eines Versäumnisurteils notwendig eine Schlüssigkeitsprüfung hatte vornehmen müssen, könne dies bereits zur Voreingenommenheit im Berufungsverfahren führen, weshalb § 41 Nr., 6 ZPO bei einer Mitwirkung an einem Versäumnisurteil in der Vorinstanz entsprechend anzuwenden sei. Das OLG hat sich hier – leider – mit diesem stichhaltigen Argument nicht auseinandergesetzt.

2. Befangenheit gem. § 42 Abs. 2 ZPO

Eine (für einen erfolgreichen Befangenheitsantrag ausreichende) Besorgnis der Befangenheit liegt vor, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist. Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des Richters zu rechtfertigen. Bai, so das OLG zutreffend, müsse es sich um einen objektiven Grund haben, der vom Standpunkt des Ablehnenden aus bei vernünftiger Betrachtung die Befürchtung erwecken könne, der Richter stehe der Sache nicht unvoreingenommen und damit nicht unparteiisch gegenüber.

§ 42 Abs. 2 ZPO müsse mit Blick darauf, dass niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden dürfe (Art. 101 Abs. 1 SD. 1 GG), ausgelegt werden. Gleichwohl dürften die Anforderungen an die Vernunft und Einsichtsfähigkeit der ablehnenden Partei nicht überspannt werden. Gleichwohl sieht das OLG die richterliche Neutralität durch die frühere Befassung im Zusammenhang mit einem Versäumnisurteil nicht als in Frage gestellt an. Alleine eine Befassung in einem früheren Verfahren auch über den gleichen Sachverhalt, welches für die Partei einen ungünstigen Ausgang gehabt habe, genüge nicht als Ablehnungsgrund, wenn nicht eine atypische Situation vorläge.

Diese atypische Situation wurde vorliegend vom OLG verneint. Dabei verwies es darauf, dass es in der Praxis zahlreiche Konstellationen gäbe, in denen ein Richter eigene Entscheidungen oder Maßnahmen im weiteren Verfahren zu überprüfen und ggf. zu ändern habe, z.B. die Schlüssigkeitsprüfung nach einem Einspruch gegen ein Versäumnisurteil, Prüfung von Verfügungsanspruch und -grund nach einem Widerspruch gegen eine Beschlussverfügung (im Arrest- oder einstweiligen Verfügungsverfahren) und eine Entscheidung in der Hauptsache nach Bewilligung der Prozesskostenhilfe. Ein Richter, der hier jeweils seine Meinung zum Ausdruck gebracht habe, verliere dadurch nicht seine Unparteilichkeit oder Unabhängigkeit. Das Gesetz ginge in all diesen Fällen davon aus, dass er seine Meinung unter Berücksichtigung der Argumente der Parteien unter Berücksichtigung der Argumente der Parteien und etwaiger neuer Erkenntnisse unvoreingenommen überdenke und ggf. bereit sei, von seiner bisherigen Auffassung abzuweichen. Dementsprechend würde eine Befangenheit selbst dann verneint, wenn ein Richter nach Aufhebung seines früheren Urteils durch da höhere Gericht wieder mit der Sache befasst würde (OLG Karlsruhe, Beschluss vom 10.08.1983 - 7 W 85/83 -). Gleiches gelte bei einer Restitutionsklage. Läge mithin kein Fall des § 41 Nr. 6 ZPO vor, sei die Vorbefassung als solcher kein Grund für eine Besorgnis der Befangenheit.

Anmerkung: Wollte man vorliegend mit dem BAG aaO. einen Fall des § 41 Nr. 6 ZPO annehmen, wäre damit auch der Befangenheitsantrag begründet. Zudem finden sich in der Praxis häufig Richter, die von einer einmal vorgefassten Ansicht nicht abkommen, weshalb es auch zu Rechtsmitteln kommt. Wenn diese Richter dann im Rechtsmittelzug wieder tätig werden (können, da sie nicht an dem Erlass der Entscheidung selbst beteiligt waren), ist nicht ausgeschlossen, dass die Rechtsmittelinstanz davon geprägt wird.

OLG Frankfurt, Beschluss vom 08.05.2024 - 6 U 212/23 -

Samstag, 24. August 2024

Repräsentantenhaftung und Haftung nach § 111 SGB VII

Die P. GmbH, ein Mitgliedunternehmen der klagenden gesetzlichen Unfallversicherung, war mit einem zum Schadenszeitpunkt von Z. geführten Transporter bei der Beklagten haftpflichtversichert. Z verunfallte mit dem Transporter, der nach einem rund einem Monat vorher erstellten Bericht des TÜV Süd (von dem der Fuhrparkleiter der P. GmbH wusste) eine Reihe von Mängeln aufwies,  und verletzte sich dabei. Die Klägerin machte bei der Beklagten im Hinblick auf ihre dadurch bedingten Aufwendungen Regress geltend. Das Landgericht wies die Klage ab. Das Berufungsgericht gab ihr auf der Grundlage von §§ 110, 111 SGB VII iVm. § 115 VVG statt. Die (zugelassene) Revision führte zur Abweisung der Klage.

Streitig war, ob die Anspruchsvoraussetzungen nach §§ 110 Abs. 1, 111 S. 1 SGB VII vorlagen. Bei diesem, so der BGH, handele es sich um einen originären, selbständigen Anspruch des Sozialversicherungsträgers, der privatrechtlicher Natur sei, der auch ggf. direkt gegen den Fahrzeug-Haftpflichtversicherer nach § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG geltend gemacht werden könnte. Das Berufungsgericht war davon ausgegangen, dass der Fuhrparkleiter in Ansehung seiner Kenntnis von den Mängeln den Versicherungsfall grob fahrlässig herbeigeführt habe (§§ 110 Abs. 1 S. 1m 111 S. 1 SGB VII).

Nach § 110 SGB VII würden gemäß § 111 S. 1 SGB VII auch die Vertretenen haften, wenn ein Mitglied eines vertretungsberechtigten Organs, Abwickler oder Liquidatoren juristischer Personen, vertretungsberechtigte Gesellschafter oder Liquidatoren einer rechtsfähigen Personengesellschaft oder gesetzliche Vertreter der Unternehmer in Ausführung ihnen zustehender Verrichtungen den Versicherungsfall vorsätzlich oder grob fahrlässig verursachten. Allerdings sei der Fuhrparkleiter nicht Mitglied eines vertretungsberechtigten Organs der P. GmbH, weshalb eine Haftung der P. GmbH ausscheide und damit auch eine Haftung der Beklagten nach § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG..

Daher musste sich der BGH damit auseinandersetzen, ob – wie teilwiese in Rechtsprechung und Literatur angenommen - § 111 S. 1 SGB VII den §§ 31, 89, 278 BGB vergleichbar ist und für die Anwendbarkeit des § 31 BGB spreche, dass dem Vertreter durch die allgemeine Betriebsreglung und Handhabung bedeutsame, wesensmäßige Funktionen juristischer Personen zugewiesen seien, so dass er die juristische Person auf diese Weise repräsentiere. Da er gleichsam fremdnützig für das Unternehmen des Vertretenen handele, sei es gerechtfertigt, das zivilrechtliche Repräsentationsprinzip der (Mit-) Haftung des Vertretenen nach §§ 31, 278 und 831 BGB zu übertragen.

Der BGH negierte die Anwendbarkeit der zu § 31 BGB entwickelten Grundsätze zur Repräsentantenhaftung auf § 111 S. 1 SGB VII.

§ 111 S. 1 SGB VII sei enger gefasst als § 31 BGB, insoweit dort neben dem vertretungsberechtigten Organ nur Abwickler oder Liquidatoren juristischer Personen benannt würden, und im Gegensatz zu § 31 BGB keinen Oberbegriff („verfassungsmäßig berufene Vertreter“) enthalte. Auch das Gesetzgebungsverfahren zu § 111 S. 1 SGB VII gebe keine Anhaltspunkte dafür her, dass der Gesetzgeber bei § 111 S. 1 SGB VII von einer Repräsentantenhaftung ausgehen wollte. In Ansehung der Repräsentantenhaftung bei Auslegung und Anwendung des § 31 BGB und der diesbezüglichen „langen Rechtsprechungsgeschichte“ hätte der Gesetzgeber, wenn er bei § 111 SGB VII und den Vorgängervorschriften darauf zurückkommen wollen, nicht nur reichlich Gelegenheit gehabt, sondern sogar mehrfach Anlass gehabt, dies zu regeln. Zudem gäbe es keinen allgemein geltenden Grundsatz der Repräsentantenhaftung.

Eine erweiternde Auslegung oder analoge Anwendung des § 111 S. 1 SGB VII im Sinne einer Repräsentantenhaftung würde der Gesetzessystematik widersprechen; Sinn und Zweck würden dem entgegenstehen. §§ 110 f SGB VII würden im System der Haftung nach § 104 ff SGB VII einen spezifischen Zweck erfüllen. Der Gesetzgeber habe dem Sozialversicherungsträger nur dann zu Lasten des Schädigers schadlos stellen wollen, wenn dieser den Schadensfall durch ein besonders missbilligendes Verhalten herbeigeführt habe und in diesem Fall den Regress seinem pflichtgemäßen Ermessen anheim gestellt (§ 110 Abs. 2 SGB VII). Der das Schadensersatzrecht beherrschende Ausgleichsgedanke verliere damit an Gewicht und § 111 S. 1 SGB VUU solle keinen umfassenden Rückgriff nach schadensersatzrechtlichen Grundsätzen gewährleisten.  Damit läge keine gesetzliche Lücke vor, die durch eine Analogie geschlossen werden könnte.

BGH, Urteil vom 11.06.2024 - VI ZR 133/23 -

Donnerstag, 22. August 2024

Verjährung: Aufrechnung von Kautionsrückzahlungsanspruch mit Schadensersatz

Die Klägerin hatte bei Mietbeginn eine Barkaution geleistet. Der Prozessbevollmächtigte des beklagten Vermieters (bzw. dessen Rechtsnachfolger) rechnete nach Mietende zum 08.11.2019 über diese mit Schreiben vom 20.05.2020 ab und erklärte in Bezug auf eine von ihm behauptete Beschädigung der Mietsache die Aufrechnung. Das Amtsgericht gab der Klage auf Rückzahlung der Kaution einschl. Zinsen statt. Die Berufung des Beklagten wurde zurückgewiesen. § 215 BGB greife nicht, die Forderung sei verjährt. Das sah der BGH anders und hob auf die vom Berufungsgericht zugelassene Revision dessen Urteil auf und verwies den Rechtsstreit zurück, da das Berufungsgericht wegen angenommener Verjährung eines Aufrechnungsanspruchs mit der Kaution offen ließ, ob ein Schaden, wie beklagtenseits vorgetragen vorlag.

Grundsätzlich müsse der Vermieter nach Beendigung des Mietverhältnisses über eine gezahlte Baukaution innerhalb angemessener Prüfungsfrist zurückzahlen, sobald er diese zur Sicherung seiner Ansprüche nicht mehr benötige.

§ 390 BGB bestimmt, dass eine Forderung, der eine Einrede (also ein Leistungsverweigerungsrecht) entgegenstünde, nicht aufgerechnet werden könne. Dieser Fall läge aber nicht vor. § 548 Abs. 1 S. 1 BGB enthalte, deren lauf mit Rückerhalt der Mietsache beginne, § 548 Abs, 1 S. 2 BGB. eine gegenüber § 195 BGB abgekürzte Verjährungsfrist von sechs Monaten. Rechtsfehlerhaft sei aber die daraus gezogene Schlussfolgerung des Berufungsgerichts, zum Zeitpunkt der Abgabe der Aufrechnungserklärung am 20.05.2020 sei die kurze Verjährungsfrist bereits abgelaufen gewesen. § 215 BGB stelle sich als eine Ausnahmevorschrift von § 390 BGB dar. Nach § 215 Alt 1 BGB würde die Verjährung die Aufrechnung nicht ausschließen, wenn der der Aufrechnung zugrunde liegende Anspruch noch nicht zu dem Zeitpunkt verjährt gewesen sei, in dem er erstmals hätte aufgerechnet werden können. Grundlage sei die Aufrechnungslage vor Verjährungseintritt, § 387 BGB. Voraussetzung wären Gegenseitigkeit, Gleichartigkeit, Durchsetzbarkeit der Aktivforderungen des Aufrechnenden und Erfüllbarkeit der Passivforderung des Aufrechnungsgegners.

Allerdings bestand hier keine Gleichartigkeit, da der Beklagte Naturalrestitution gefordert hatte, nicht anstelle dessen eine Entschädigung. Zudem habe auch eine Aufrechnungslage iSv. § 387 BGB im Hinblick auf einen Geldersatz als Schadensersatzanspruch, der dem Rückzahlungsanspruch entgegen gehalten werden könnte, in unverjährter Zeit nicht bestanden. Der Geschädigte habe zwar das Recht, anstelle seines Anspruchs auf Naturalrestitution Geldersatz zu fordern, müsse diese seine Ersetzungsbefugnis aber ausüben und sei danach daran gebunden. Vor dem 20.05.2020 sei aber eine entsprechende Ersetzung nicht erfolgt (empfangsbedürftige Willenserklärung).  

Diese Umstände würden aber der Anwendbarkeit von § 215 Alt. 1 BGB nicht entgegen stehen. Eine Barkautionsabrede sei – lägen keine Besonderheiten vor und seien solche auch nicht ersichtlich – sei regelmäßig dahingehend auszulegen, dass die Möglichkeit des Vermieters, sich nach Beendigung des Mietverhältnisses im Rahmen der Kautionsabrechnung hinsichtlich etwaiger Schadensersatzansprüche wegen Beschädigung der Mietsache durch Aufrechnung befriedigen zu können, nicht an einer fehlenden Ausübung der Ersetzungsbefugnis in unverjährter Zeit scheitern solle. Auch habe der BGH schon klargestellt, dass die kurze Verjährungsfrist des § 548 Abs. 1 S. 1 BGB nicht zwangsläufig gegenüber der Kautionsabrechnungsfrist (die mal kürzer, mal länger als sechs Monate sein könne) vorrangig sei.

Der Gesetzgeber ließe auch in der Fallgestaltung des § 215 Alt. 1 BGB die Verjährungseinrede zurückstehen. Dem läge die Erwägung zugrunde, dass ein Schuldner, dem ein Gegenanspruch zustünde, sich hinreichend gesichert ansehen dürfe und nicht durch Verjährungsregelungen frühzeitig zur Durchsetzung seiner Forderung im Wege der Aufrechnung oder Klageerhebung gedrängt werden soll.

Es würde dem beiderseitigen Interesse der Parteien eines Wohnraummietvertrages widersprechen, müsse der Vermieter in unverjährter Zeit seine Ersetzungsbefugnis ausüben. Die Ersetzungsbefugnis eröffne dem Geschädigten die Möglichkeit der Schadensbeseitigung in eigener Regie, wozu er keine nähere Begründung abgeben müsse, den Betrag nicht einmal beziffern müsse.  Gerade im Bereich des Wohnraummietrechts sei die Ausübung der Ersetzungsbefugnis die Regel. Mit dem Zugang der Aufrechnungserklärung sei der dem Vermieter zustehende Schadensersatzanspruch in Geld zu erfüllen, womit die Gleichartigkeit der Forderungen und damit die Aufrechnungslage geschaffen sei.

BGH, Urteil vom 10.07.2024 - VIII ZR 184/23 -

Dienstag, 20. August 2024

Räumungsfrist Wohnraum: Wann kann diese verlängert werden ?

Wird ein Wohnraummietverhältnis gekündigt und der Mieter zur Räumung und Herausgabe der Wohnung verurteilt, kann der Mieter einen Antrag auf Gewährung einer angemessenen Räumungsfrist stellen, § 721 Abs. 1 ZPO. Auf Antrag kann diese Freist verlängert und verkürzt werden, § 571 Abs. 3 S. 1 ZPO. Im vorliegenden Beschwerdeverfahren hatte der Vermieter gegen einen einem entsprechenden stattgebenden Beschluss über die Verlängerung der Räumungsfrist durch das Amtsgericht Beschwerde eingelegt. Dieser gab das Landgericht als Beschwerdegericht statt.

Der Anspruch auf Verlängerung der Frist würde insbesondere dann bestehen, wenn die Suche nach Ersatzwohnraum während der ursprünglich gewährten Räumungsfrist trotz hinreichender Bemühungen des Mieters erfolglos war.

Vorliegend hatte der Kläger (Vermieter) auf den Verlängerungsantrag des Beklagten (Mieters) sowohl die von dem Mieter behaupteten persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse wie auch Bemühungen des Beklagten um Ersatzwohnraum bestritten. Da der Berliner Wohnungsraum „gerichtsbekannt angespannt sei, gab das Amtsgericht dem Verlängerungsantrag statt.

Das sei nicht frei von Verfahrensfehlern, da dem Mieter wie bei § 573 Abs. 2 BGB (Widerspruch des Mieters gegen eine Eigenbedarfskündigung, wenn diese für ihn und seine Familie angemessener Ersatzwohnraum nicht zu zumutbaren Bedingungen beschafft werden kann) die Darlegungs- und Beweislast zu den Voraussetzungen für die Verlängerung nach § 721 Abs. 3 obliege. Auch wenn keine für den Mieter unüberwindlichen Anforderungen daran gestellt werden dürften, müsse das Gericht bei gegenläufigen Sachvortrag die von den Parteien dazu angebotenen Beweise erheben. Nicht ausreichend sei ein Verweis auf eine angeblich gerichtsbekannte Lage am Wohnungsmarkt  (BGH, Urteil vom 22.05.2019 - VIII ZR 180/18 - zu § 574 Abs. 2 BGB,  was auch  für § 721 Abs. 3 ZPO gelte. Das habe das Amtsgericht nicht beachtet.

Das Amtsgericht werde bei der nunmehr nach § 721 Abs. 3 ZPO vorzunehmenden Interessensabwägung unter Berücksichtigung des klägerischen Vortrags zu befinden haben, ob dem Beklagten bei hinreichender eine Anmietung von Ersatzwohnraum tatsächlich innerhalb der ursprünglichen Räumungsfrist unmöglich gewesen wäre und dabei abklären müssen, on sich der Beklagte tatsächlich in der ursprünglichen Räumungsfrist um Ersatzwohnraum  bemüht habe. Zu Recht habe der Kläger gerügt, dass der Beklagte keinerlei Unterlagen vorgelegt habe, wobei auch zu beachten sei, dass die Einreichung alleine von Bewerbungsunterlagen durch den Beklagten noch nicht den Beweis erbringen würde, dass diesen Unterlagen tatsächliche Bewerbungsbemühungen zugrunde liegen würden.

Anmerkung: Die Entscheidung des LG Berlin ist zu begrüßen. Häufig erfolgen die Fristverlängerungen bereits bei pauschalen Vortrag oder bei Vorlage nicht aussagekräftiger Unterlagen. Bewerbungsschreiben als solches reichen nicht, da nicht einmal sichergestellt ist, dass diese tatsächlich versandt wurden. Der Mieter kann Ablehnungsschreiben vorlegen oder sich auf das Zeugnis von potentiellen Vermietern beziehen, dass – und ggf. weshalb – diese den Mietinteressenten nicht berücksichtigten.

LG Berlin II, Beschluss vom 17.02.2024 - 67 T 108/23 -

Donnerstag, 15. August 2024

Feststellung der sachlichen Zuständigkeit bei Mietrechtsstreit

Die Klägerin verlangte von den Beklagten die Räumung und Herausgabe von zwei Räumen in einem Büropark sowie Miete. Im Mietvertrag wurden die angemieteten Räume als Büroräume bezeichnet. In 2020 bis 2023 leistete die Beklagte keine Mietzahlungen; eine Kündigung des „Gewerbemietvertrages“ (so die Angabe im Kündigungsschreiben) erfolgte mit Schreiben vom 07.09.2020 und wurde mit der 2023 erhobenen Klage wiederholt.  Die Beklagten wandten ein, die Parteien seien bei Mietvertragsabschluss übereingekommen, dass die Räume zu einer Wohnung ausgebaut werden; sie hätten sich über die Falschbezeichnung als „Geschäftsräume“ im Vertrag keine Gedanken gemacht.

Das Landgericht wies die Parteien auf die von ihm angenommene fehlende sachliche Zuständigkeit hin und wies mangels eines Verweisungsantrages der Klägerin (auf Verweisung an das Amtsgericht, § 23 Nr. 2a GVG) als unzulässig ab. Die dagegen erhobene Berufung führte zur Aufhebung des Urteils und Rückverweisung an das Landgericht, da dieses ausschließlich zuständig sei.

Unabhängig vom Streitwert ist nach § 23 Nr. 2a GVG, § 29a Abs. 1 ZPO das Amtsgericht für alle Streitigkeiten über Ansprüche aus einem Wohnraummietverhältnis und über Streitigkeiten über das Bestehen eines solchen Rechtsverhältnisses ausschließlich und örtlich zuständig, in dessen Bezirk sich der Wohnraum befindet. Die sachliche Zuständigkeit, so das OLG als Berufungsgericht, beruhe auf dem zweistufigen ortsnahen Instanzenzug, wie er regelmäßig nur durch die ausschließliche Zuständigkeit des Amtsgerichts als Eingangsgericht und des Landgerichts als Rechtsmittelinstanz gewährleistet erscheine (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 04.07.2005 - I-24 W 20/05 -). Damit korrespondiere die örtliche Zuständigkeit nach § 29a Abs. 1 ZPO.

Die Klärung, ob für die Zuständigkeit ein Wohnraum- oder ein Geschäftsraummietverhältnis zugrunde zu legen ist, ist in den Fällen zu klären, in denen der Streitwert des Verfahrens den Wert von € 5.000,00 überschreitet, § 23 Abs. 1 GVG. Dies war vorliegend der Fall. In diesem Fall käme es für die Zuständigkeitsbestimmung auf den schlüssigen Sachvortrag des Klägers, nicht dessen Rechtsauffassung, an, da sich danach der Streitgegenstand bestimme (so die hM, so z.B. KG, Beschluss vom 06.03.2008 - 2 AR 12/08 -). Ein Bestreiten des entsprechenden Sachvortrags durch den Beklagten sei insofern unbeachtlich, da dies ohne Einfluss auf den Streitgegenstand bleibe. Der dem entgegenstehenden Rechtsansicht des OLG Düsseldorf (im Beschluss vom 08.11.2007 - 24 U 117/07 -) schloss sich das OLG ausdrücklich nicht an. Das OLG Düsseldorf sah in der schlüssigen Geltendmachung von Gegenrechte aus einem Wohnraummietverhältnis die Zuständigkeit des Amtsgerichts nach § 23 Nr. 2a GVG als begründet an. Vom OLG wurde im vorliegenden Verfahren (zutreffend) darauf verwiesen, dass dann, wenn die zuständigkeitsbegründenden Tatsachen eine doppelrelevante Tatsache ist, also diese zugleich auch Voraussetzung für die Begründetheit der Klage, das Vorbringen des Klägers über die Zulässigkeit der Klage als wahr zu unterstellen sei (RGZ 29, 371m 373 f; BGH, Urteil vom 25.11.1993 – IX ZR 32/93 -). Diese „Erleichterung für den Kläger“ für den Kläger sei gerechtfertigt, da für den Fall, dass sich das Vorbringen des Beklagten als wahr erweise und die (auch) die zuständigkeitsbegründende Tatsache nicht vorliege, die Klage als unbegründet abzuweisen sei. Letztlich würde so der Kläger nicht gänzlich von seiner Beweislast bezüglich (auch) der zuständigkeitsbegründenden Tatsache befreit, vielmehr beschränke sich sein Vorteil nur darauf, dass er an einem für ihn (Anm.: zumindest nach seiner subjektiven Auffassung) günstigeren Gerichtsstand streiten dürfe. Zudem wäre es auch für den Beklagten von Nachteil, wenn die Klage nur als durch Abweisung wegen Unzulässigkeit als klageabweisendes Prozessurteil statt als klageabweisendes Sachurteil ergehen würde.

Erhebe also der Kläger wie vorliegend eine Räumungsklage vor dem Landgericht mit der Behauptung der wirksamen Kündigung eines Geschäftsraummietvertrages und wendet der Beklagte ein, es bestünde ein nicht (wirksam) gekündigter Wohnraummietvertrag, läge eine doppelrelevante Tatsache vor. Es müsse sowohl zur Zulässigkeit als auch zur Begründetheit geprüft werden, ob ein Wohnraummietverhältnis vorliege.

Vor diesem Hintergrund sei das Vorbringen der Klägerin für die Zuständigkeit als wahr zu unterstellen. Da die Klägerin bestritten hebe, es habe niemals ein Wohnraummietverhältnis vorgelegen, ermangele es an einem Vortrag in Bezug auf ein Wohnraummietverhältnis und ergäbe sich damit auch keine amtsgerichtliche Zuständigkeit nach § 23 Nr. 2a GVG. Der Vortrag der Beklagten könne nur dann zu einer Zuständigkeit des Amtsgerichts für Wohnungsmietsachen führen, wenn die Klägerin dem nicht entgegen getreten wäre (OLG Köln, Urteil vom 12.06.2015 – 1 U 16/14 -), was hier allerdings erfolgt sei.

Das Amtsgericht würde auch nach § 23 Nr. 2a GVG nicht zuständig, da das Bestehen eines Mietverhältnisses (Geschäfts- oder Wohnraum) geprüft werden müsse. Dies würde zu einer ungerechtfertigten Bevorzugung des Beklagten führen, da dieser dem Kläger durch unrichtige Behauptungen einen bestimmten Gerichtsstand aufzwingen könne. Eines entsprechenden Schutzes bedürfe der Beklagte auch nicht, da die Klage im falschen Gerichtsstand zur Abweisung der Klage als unbegründet führe.

Anmerkung: Auch wenn eine Räumungsklage z.B. Kündigung wegen Zahlungsrückständen erhoben wird, ist es von Bedeutung, ob es sich um einen Geschäftsraum oder um Wohnraum handelt, da z.B. der Gewerberaummieter keinen Rechtsanspruch auf die Einräumung einer Räumungsfrist nach § 771 ZPO hat.

Brandenburgisches OLG, Urteil vom 13.02.2024 - 3 U 96/23 -

Samstag, 10. August 2024

Kosten des selbständigen Beweisverfahrens und Nebenintervention im Hauptsacheverfahren

Die Antragssteller (Kläger im Hauptsacheverfahren) hatten ein selbständiges Beweisverfahren u.a. gegen die Streithelferin des späteren Hauptsacheverfahrens als Antragsgegnerin eingeleitet.  Auf Antrag der Streithelferin setzte das Landgericht (LG) nach dessen Abschluss der Klägerin eine Frist zur Klageerhebung. Nachdem die Klage nicht erhoben wurde, erlegte das LG die Kosten der Streithelferin den Klägern auf, § 494a Abs. 1 ZPO, die entsprechend gegen die Kläger festgesetzt und von diesen ausgeglichen wurden. In der Folge erhoben die Kläger auf der Grundlage des dem selbständigen Beweisverfahrens zugrunde liegenden Sachverhalts Klage gegen die weiteren Antragsgegner des selbständigen Beweisverfahrens; in diesem Verfahren trat die Streithelferin nunmehr dem Rechtsstreit auf Seiten der Beklagten bei. Das LG hatte in dem in diesem Verfahren ergangenen Urteil die Kosten den Klägerin zu 55% und zu 45% den Beklagten auferlegt, ferner den Klägerin Kosten der Streithelferin zu 55% auferlegt (§ 101 ZPO).

In dem Kostenfestsetzungsverfahren auf der Grundlage des Urteils setzte das LG die Kosten der Streithelferin ohne Berücksichtigung deren bereits im selbständigen Beweisverfahren festgesetzten Kosten fest. Im Rahmen der von den Klägern dagegen eingelegten Beschwerde änderte das Oberlandesgericht (OLG) den Kostenfestsetzungsbeschluss ab und nahm eine Anrechnung entsprechend einer Rückfestsetzung der gezahlten Kosten aus dem selbständigen Beweisverfahren insoweit vor, als es die dort zu erstattenden Kosten gemäß der Kostenquotelung im Urteil berechnete und die Überzahlung den Klägern gutschrieb. Dagegen erhob die Streithelferin die vom OLG zugelassene Rechtsbeschwerde zum BGH.

Der BGH gab der Rechtsbeschwerde der Streithelferin statt.

Nach § 91 Abs. 4 ZPO seien auch solche Kosten im Kostenfestsetzungsverfahren nach §§ 103 ff ZPO zu berücksichtigen, die die obsiegende Partei der unterliegenden Partei auf der Grundlage einer nur vorläufigen Kostenentscheidung im Verlauf eines Rechtstreits gezahlt habe. Bei einer nur vorläufigen Kostengrundentscheidung müsse eine Partei hinnehmen, dass der Titel zu gleichen Bedingungen wieder rückgängig gemacht würde.

Voraussetzung eines erfolgreichen Rückfestsetzungsantrags der Kläger sei aber, dass die hier von den Klägern erbrachte Zahlung an die unterlegene Partei erfolgte (BBGH, Beschluss vom 20.11.2012 - VI ZB 64/11 -). Diese Voraussetzung habe hier nicht vorgelegen; es könne auch dahinsteh, ob die im selbständigen Beweisverfahren ergangene Kostenentscheidung eine vorläufige Kostenentscheidung sei, da bereits keine  abweichende nachträgliche Verteilung der im selbständigen Beweisverfahren der Klägerin zugunsten der Streithelferin auferlegten Kosten vorlägen.

Die Kosten des selbständigen Beweisverfahrens würden zu den Kosten des nachfolgenden Hauptsacheverfahrens gehören. Sie würden von der dort ergehenden Kostenentscheidung mit umfasst, wenn die Parteien beider Verfahren identisch seien (BGH, Beschluss vom 09.02.2006 - VII ZB 59/05 -). Von der Kostenentscheidung im Hauptsacheverfahren nicht erfasst würden die außergerichtlichen Kosten derjenigen Beteiligten am selbständigen Beweisverfahren, die am Hauptsacheverfahren nicht beteiligt gewesen seien (dies hätten die Möglichkeit einen Antrag nach § 494a Abs. 2 ZPO im selbständigen Beweisverfahren zu stellen). War mithin ehemalige (Mit-) Antragsgegnerin im selbständigen Beweisverfahren nicht Partei des Hauptsacheverfahrens, könnten seine außergerichtlichen Kosten keine Kosten des Hauptsacheverfahrens sein.

Die erforderliche Parteiidentität würde fehlen, wenn der Antragsgegner eines selbständigen Beweisverfahrens in einem nachfolgenden Hauptsacheverfahren lediglich der Beklagtenseite als Streithelfer beitrete, da der Streithelfer nur Gehilfe der unterstützten Partei, nicht aber selbst Partei sei (BGH, Urteil vom 04.10.1994 - VI ZR 223/93 -). Die Nebenintervention führe nicht zur Parteistellung.

Die Ersatzfähigkeit der Kosten der Nebenintervention würden sich nach §§ 101 Abs. 1 iVm. §§ 91 ff ZPO daran orientieren, inwieweit die unterstützte Hauptpartei unterlegen ist. Danach habe der Streithelfer u.U. seien Kosten auch dann selbst zu tragen, wenn der Antragsteller ihn in das selbständige Beweisverfahren einbezogen habe, obwohl er keine Ansprüche gegen den Antragsgegner habe.  Dies gelte unabhängig davon, inwieweit der Streithelfer Einfluss auf Verfahren habe nehmen können oder ihm nach § 67 S. 1 Halbs. 2 ZPO Erklärungen und Handlungen verwehrt waren.

Zudem könnte der Antragsteller im Anschluss an das Hauptsacheverfahren auch noch Klage gegen den den Antragsgegner unterstützenden Streithelfer erheben, was die Gefahr widersprüchlicher Kostenentscheidungen hinsichtlich er im selbständigen Beweisverfahren entstandenen Kosten beinhalte, würde über diese bereits als Teil der Kosten der Nebenintervention entschieden. Ein nicht mitverklagter Antragsgegner eines selbständigen Beweisverfahrens müsste auf einen Beitritt zum Hauptsacheverfahren eggen einen anderen Antragsgegner verzichten, um sich den Vorteil der vollen Kostenerstattung nach § 494a Abs. 2 ZPO zu erhalten. Das aber würde die gesetzliche Möglichkeit entwerten, die Hauptpartei zu unterstützen und ihn zudem benachteiligen können, wo ihm nach einer Streitverkündung die Prozessergebnisse aufgrund er Interventionswirkung der Streitverkündung nach § § 74 Abs. 3 iVm. § 68 ZPO in einem Folgeprozess entgegengehalten werden könnten.

Der Umstand der Verwertung des Ergebnisses der Beweisaufnahme aus dem selbständigen Beweisverfahren im Hauptsacheverfahren könne für sich keine andere Betrachtung rechtfertigen.

BGH, Beschluss vom 06.06.2024 - V ZB 67/23 -

Sonntag, 4. August 2024

Qualifizierte und nicht qualifizierte Signatur sowie Risiken bei Versendung durch Dritte

Sowohl der BGH (Beschluss vom 28.02.2024 - IX ZB 30/23 -) wie auch der BFH (Beschluss vom 28.06.2024 - I B 21/23 (AdV) -) mussten sich mit der Frage auseinandersetzen, ob das Rechtsmittel (BGH: Berufung; BFH: Beschwerde) zulässig war, insoweit in beiden Fällen nicht der im jeweiligen Schriftsatz am Ende benannte Rechtsanwalt (BGH) bzw. Steuerberater (BFH) den jeweiligen Schriftsatz über sein besonderes elektronisches Anwaltspostfach (BGH) bzw. besonderes elektronisches Steuerberaterpostfach (BFH) versandte, sondern ein anderer Rechtsanwalt (BGH) bzw. Steuerberater (BFH) aus der gleichen Sozietät, im Fall des BGH mit qualifizierter elektronischer Signatur, im Fall des BFH ohne qualifizierte Signatur aus seinem elektronischen Postfach versandte. Der BGH nahm ein zulässiges Rechtsmittel an, der BFH sah hier ein unzulässiges Rechtsmittel.

1. Die Entscheidungen:

a) Im Fall des BGH legitimierte sich für den Beklagten die Rechtsanwaltssozietät G. (der der Beklagte angehörte) und wurde die Berufungsschrift von dem Beklagten einfach signiert (maschinenschriftliche Namensangabe mit Zusatz „Rechtsanwalt“) allerdings nicht von diesem, sondern dem der Sozietät angehörenden Rechtsanwalt J. qualifiziert elektronisch signiert und über dessen elektronisches Anwaltspostfach (beA) dem Gericht übermittelt. Das Berufungsgericht verwarf die Berufung als unzulässig.

Die dagegen erhobene Rechtsbeschwerde war erfolgreich. Die Berufungsschrift sei fristgerecht eingegangen, da die qualifizierte elektronische Signatur des RA J. ausreichend gewesen sei. Es fehle – entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts – nicht an einem nach außen in Erscheinung tretenden fehlenden Bindeglied zwischen der auf den Namen des Beklagten lautenden einfachen Signatur und der qualifizierten Signatur des RA J. § 130 Abs. 3 S. 1 ZPO verlange, dass das elektronische Dokument mit einer qualifizierten elektronischen Signatur der verantwortenden Person oder von dieser signiert würde; die einfache Signatur sei ausreichend, wenn der einfach signierende Rechtsanwalt den Schriftsatz selbst über den sicheren Übermittlungsweg (hier: beA) nach § 130a Abs. 4 ZPO übermittle. Würde der Schriftsatz mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehen, entsprächen deren Rechtswirkung unmittelbar denen einer handschriftlichen Unterschrift gem. § 130 Nr. 6 ZPO. Der das Dokument mit qualifizierter elektronischer Signatur einreichende Rechtsanwalt übernehme für dessen Inhalt – ebenso wie bei einer handschriftlichen Unterschrift – die Verantwortung.

Nicht schädlich sei, dass am Schluss des Dokuments ein anderer Rechtsanwalt als derjenige stünde, der qualifiziert signiert habe. Unter Verweis auf seine Rechtsprechung zu §§ 520 Abs. 5, 130 Nr. 6 ZPO machte der BGH deutlich, dass eine Identifizierung des Urhebers des Schriftsatzes im Anwaltsprozess nicht bedeute, dass der Schriftsatz notwendig von dem bevollmächtigten Rechtsanwalt selbst verfasst werden müsse. Maßgeblich sei stets gewesen, dass der bevollmächtigte Rechtsanwalt den gegebenenfalls von einem anderen Rechtsanwalt formulierten Schriftsatz nach eigener Prüfung genehmige und unterschreibe, wobei im Zweifel angenommen werden konnte, dass der Unterzeichner mit der Unterschrift auch die Verantwortung für den bestimmenden Schriftsatz übernehme. Es habe auch keines klarstellenden Zusatzes (wie „für“) bedurft. Denn durch die Unterzeichnung ließe sich entnehmen, dass er anstelle des Verfassers die Unterschrift leiste und damit als weiterer Hauptbevollmächtigter oder Unterbevollmächtigter auftrete. Dies gelte auch für den elektronischen Rechtsverkehr. Die qualifizierte elektronische Signatur entspräche der Unterschrift.

Danach unterläge es keinem Zweifel, dass RA J. als sozietätsangehöriger und damit vom Beklagten beauftragter Rechtsanwalt diesen mit Anbringung seiner qualifizierten elektronischen Signatur habe vertreten wollen und zugleich iSv. § 130a Abs. 3 S. 1 Fall 1 ZPO die Verantwortung für den Inhalt des Schriftsatzes seines Kollegen, den dieser verfasst und nur einfach signiert hatte, übernehmen wollte.

b) Im Fall des BFH stritten die Parteien um die gewerbesteuerliche Behandlung von Dividenden. Neben einen Einspruch gegen einen Bescheid des Finanzamtes ließ die Antragstellerin bei dem Finanzgericht einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung (AdV) nach § 69 Abs. 3 S. 1 FGO stellen. Das Finanzgericht wies den Antrag zurück, wogegen die Antragstellerin (die vom Finanzgericht zugelassene) Beschwerde erhob. Der BFH wies die Beschwerde als unzulässig zurück.

Dabei stellte der BFH auf § 52a Abs. 1 FGO ab und führte zur Bedeutung der qualifizierten elektronischen Signatur deren Bedeutung unter Bezugnahme auf die Entscheidung des BGH vom 28.02.204 aus. Allerdings sah es die Zulässigkeit der Beschwerde als nicht gegeben an.

Dabei stellte der BFH darauf ab, dass „die Unterschrift auf dem Schriftsatz“ mit einfacher Signatur versehen gewesen sei und vom Steuerberater E. stamme, während die Übermittlung über das besondere Steuerberaterpostfach (beSt) der Steuerberaterin F. erfolgte. Zwar waren beide Sterberater Partner der prozessbevollmächtigten Steuerberaterkanzlei. Doch war dies nach dem BFH nicht ausreichend. Der durch den sicheren Übermittlungsweg ausgewiesene Absender sei nicht identisch mit der Person, die durch ihre Unterschrift die Verantwortung für den Schriftsatz übernommen habe, weshalb die Beschwerde nicht wirksam eingereicht worden sei.

2. Weitergehende Hinweise:

Der BFH verwies in seiner Entscheidung auf die o.g. Entscheidung des BGH. Der Unterscheid liegt darin, dass im Fall des BGH der übermittelnde Rechtsanwalt den bestimmenden Schriftsatz qualifiziert elektronisch signierte, was hier nicht erfolgte. Garde durch die qualifizierte Signatur konnte der BGH davon ausgehen, dass der mit qualifizierter Signatur das Schriftstück über sein elektronisches Postfach versendende Anwalt der Sozietät als Haupt- oder Unterbevollmächtigter auftritt und die Verantwortung für den Schriftsatz übernehmen wollte.  Mangels einer qualifizierten Signatur der Steuerberaterin war diese Annahme im Fall des BFH nicht möglich.

Befindet sich eine (grundsätzlich ausreichende) einfache Signatur auf dem (bestimmenden) Schriftsatz, ist darauf zu achten, dass bei Versendung über das elektronische Postfach (sei es beA, beSt oder auf einem anderen sicheren Übermittlungsweg) derjenige, der weiterleitet, qualifiziert signiert.

In diesem Zusammenhang darf noch auf folgende Entscheidungen verwiesen werden:

a) Der BGH hat im Rahmen einer Revision in einer Strafsache mit Beschluss vom 18.10.2022 - 3 StR 262/22 - die Revision als unzulässig verworfen. Die Revisionsschrift war von dem zum Pflichtverteidiger bestellten Strafverteidiger (grundsätzlich zulässig) nur maschinenschriftlich signiert. Doch wurde sie nicht von ihm aus seinem  besonderen elektronischen Anwaltspostfach (beA) versandt, sondern – mit qualifizierter Signatur – von einem anderen, am Verfahren nicht beteiligten Rechtsanwalt, der weder Pflichtverteidiger des Angeklagten noch allgemeiner Vertreter des Pflichtverteidiger (§ 53 Abs. 2 S. 1 BRAO) war und auch keine Vollmacht des Angeklagten als Wahlverteidiger hatte. In diesem Fall wäre aufgrund der Singularität der vorliegenden Vollmacht selbst dann die Revision zu verwerfen gewesen, wenn der qualifiziert signierende Rechtsanwalt Sozietätsmitglied einer Sozietät mit dem Pflichtverteidiger gewesen wäre.

b) Gründe für eine Wiedereinsetzung hatte der BFH in dem oben benannten Verfahren nicht gesehen und ausgeführt, die Antragstellerin habe Gelegenheit gehabt, dazu vorzutragen, was nicht erfolgt sei.

Hierzu ist der Beschluss des BAG vom 14.09.2020 - 5 AZB 23/20 - von Interesse, mit dem dieses den Beschluss des Landesarbeitsgericht, mit dem die Berufung als unzulässig verworfen wurde, aufhob und Wiedereinsetzung gewährte. Die Berufungsschrift war in diesem Fall nicht nur nicht qualifiziert signiert gewesen (was grundsätzlich nicht erforderlich ist, liegt nicht z.B.  eine Ausnahme wie oben im Fall des BGH vor), sondern es fehlte auch eine einfache Signatur. Das angefochtene Urteil war am 21.02.2019 zugestellt worden, die Berufungsschrift aus dem besonderen elektronischen Anwaltspostfach (beA) am 20.03.2019 dem Landesarbeitsgericht (LAG) zugeleitet. Mit Verfügung vom 21.03.2019, 14:02 Uhr, teilte der Vorsitzende den Zugang der Berufungsschrift vom Vortag und das Aktenzeichen mit. Nachdem der Prozessbevollmächtigte des Klägers die Berufungsbegründung fristgerecht (und ordnungsgemäß mit einfacher Signatur) eingereicht hatte, wies das LAG auf den Mangel in der Berufungsschrift hin. In der Folge verwarf das LAG die Berufung unter Zurückweisung des zeitlich rechtzeitig gestellten Wiedereinsetzungsantrages.

Die dagegen eingelegte Beschwerde hatte Erfolg. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) ließ auf sich beruhen, ob ein Verschulden des Prozessbevollmächtigten vorlag, da eine Kausalität für die Verfristung nicht festgestellt werden könne. Es sei ein faires Verfahren zu gewährleisten (Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips, Art. 2 Abs. 1 GG iVm. Art, 20 Abs. 3 GG). Aus eigenen Fehlern des Gerichts dürften keine konkreten prozessualen Nachteile für die Partei abgeleitet werden. Zwar gäbe es keine generelle Pflicht der Gerichte, die Formalien eines elektronischen Dokuments sofort zu prüfen. Hier aber sei nach der zeitlichen Folge ein Hinweis möglich gewesen, habe doch nach dem Eingang des Dokuments am 20.03.2019 noch ein voller Tag bis 24:00 Uhr zur Einreichung einer prozessordnungsgemäßen Berufungsschrift zur Verfügung gestanden. Bereits zum Zeitpunkt der Verfügung des Vorsitzenden durch Signierung um 14:02 Uhr am, 21.03.2019 war dem Vorsitzenden ersichtlich, dass die Berufungsschrift nicht ordnungsgemäß signiert war. Es hätte der Prozessbevollmächtigte informiert werden müssen und können. Ohne besondere Anstrengung hätte dies telefonisch oder mittels Telefax erfolgen können. Damit war Wiedereinsetzung zu gewähren.

Es lohnt sich also in entsprechenden Fällen Einsicht in die Gerichtsakte zu nehmen, um die zeitlichen Folgen und Möglichkeiten  festzustellen.

c) Insgesamt empfiehlt es sich, neben der einfachen Signatur auch qualifiziert elektronisch zu signieren.  

BGH, Beschluss vom 28.02.2024 – IX ZB 30/23 -

BFH, Beschluss vom 28.06.2024 – I B 41/23 (AdV) -