Samstag, 27. November 2021

BVerfG: Einstweilige Versagung des Prozessfortgangs vor Berufungsgericht (§ 32 BVerfGG)

Der Beschwerdeführer hatte sich an das Bundesverfassungsgericht gewandt, da ihr Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) vom Berufungsgericht zurückgewiesen wurde. Er sah sich daher der Gefahr ausgesetzt, im Berufungsverfahren nicht mehr anwaltlich vertreten zu sein. Hier besteht allerdings Anwaltszwang, so dass es ihm nicht möglich wäre, sich zur Sache einzulassen oder Anträge zu stellen. Die Zurückweisung durch das Berufungsgericht erfolgte mit der Begründung, die Bedürftigkeit sei von dem Beschwerdeführer nicht hinreichend dargelegt worden.

Mit seiner Entscheidung erklärte das BVerfG der Beschwerdeführerin gesetzte Fristen für wirkungslos und untersage eine Terminierung vor einer Entscheidung des BVerfG, längstens für sechs Monate, § 32 Abs. 1, Abs. 2 BVerfGG. Dieser einschneidende Eingriff in ein laufendes zivilrechtliches Verfahren wurde vom BVerfG damit begründet, dass vorbehaltlich einer weitergehenden Prüfung davon ausgegangen werde, dass die Versagung der Prozesskostenhilfe nicht offensichtlich gerechtfertigt sei.

Die vorläufige Regelung nach § 32 Abs. 1 BVerfGG könne erfolgen, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten sei, wobei wegen der weittragenden Folgen ein strenger Maßstab anzulegen sei.

Die einstweilige Anordnung diene dazu, die Schaffung vollendeter Tatsachen zu verhindern. Von daher würden Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Maßnahme vorgetragen würden, grundsätzlich außer Betracht bleien müssen, es sei denn, das Begehren des Beschwerdeführers erweise sich von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Lägen derartige Versagungsgründe nicht vor, sei eine Folgenabwägung vorzunehmen, welche Nachteile bei Erlass einer einstweiligen Anordnung entstünden und welche bei Versagung derselben entstünden.

Die Verfassungsbeschwerde sei hier nicht von vornherein unbegründet; vielmehr sei es möglich, dass das Berufungsgericht bei der Versagung der PKH für die zweite Instanz den Beschwerdeführer in seinen Rechten aus Ar. 3 Abs. 3 GG iVm. dem Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 3 GG verletzte. Es seien möglicherweise vom Berufungsgericht die Anforderungen an die Darlegung der Bedürftigkeit des Beschwerdeführers überspannt worden. Dafür spreche, dass dem seit Jahren grundsicherungsberechtigte Beschwerdeführer sowohl in erster Instanz als auch bereits im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren vor dem BGH PKH bewilligt worden sei und dortige Rückfragen offensichtlich befriedigend waren.

Die Folgenabwägung nach § 32 Abs. 1 BVerfGG würde hier zugunsten des Beschwerdeführers ausfallen. Die Folgen fehlender anwaltlicher Vertretung im Berufungsrechtszug würden schwer wiegen als der Umstand, dass sich später herausstelle, das dass durch eine einstweilige Untersagung unterbrochene Verfahren ohne Rechtsverstoß hätte durchgeführt werden können. Im ersten Fall hätte der Beschwerdeführer die Möglichkeit, der ggf. rechts- und verfassungswidrig unterlassenen Beiordnung eines Rechtsanwalts im Hauptsacheverfahren über eine Nichtzulassungsbeschwerde bzw. Revision (so evtl. wegen fehlerhafter Anwendung von Präklusionsvorschriften oder fehlerhaft angenommener schuldhafter Säumnis) zu korrigieren. Eine verlässliche Beurteilung sei hier nicht möglich, da die erforderliche Prognose des weiteren Prozessverlaufs vom Verhalten aller anderen Prozessbeteiligten und des Entscheidungsausgangs abhänge, insbesondere nach der auch in der Hauptsache zuvor erfolgten Aufhebung und Rückverweisung durch den BGH. Ein Rechtsmittelverlust des Beschwerdeführers infolge der Ablehnung von PKH und der damit verbundenen Versagung der Beiordnung eines Prozessbevollmächtigten sei daher nicht ausgeschlossen. Demgegenüber könne das Berufungsverfahren, sollte sich die angegriffene Entscheidung als verfassungsgemäß erweisen, lediglich zu einem späteren Zeitpunkt fortgeführt werden.

BVerfG, Beschluss vom 03.09.2021 - 2 BvR 1514/21 -

Donnerstag, 25. November 2021

Anschlussberufung birgt Kostenrisiko bei Zurückweisung der Hauptberufung nach § 522 ZPO

1. Eine Anschlussberufung liegt vor, wenn eine Partei gegen ein der Klage teilweise stattgebendes Urteil das Rechtmittel der Berufung zur nächsthöheren Instanz einlegt und die andere Partei nachfolgend ebenfalls. Anschluss Berufung wird qua Definition von demjenigen eingelegt, der das Rechtsmittel als Zweiter einlegt. Für die Rechtsfolgen ist entscheidend, ob es sich um eine selbständige oder eine unselbständige Anschlussberufung handelt.

Handelt es sich um eine selbständige Anschlussberufung, so gelten für diese die üblichen Normen der ZPO für Berufungen und zwischen dem Berufungskläger und dem Anschlussberufungskläger besteht keinerlei Unterschied in der Behandlung der jeweiligen Berufung. Eine selbständige Berufung liegt vor, wenn die Anschlussberufung als solche qua Zulassung oder Streitwert zulässig ist und innerhalb der gesetzlichen Monatsfrist von einem Monat nach Zustellung des Urteils durch einen an einem deutschen Gericht zugelassenen Rechtsanwalt eingelegt wird. Um eine unselbständige Anschlussberufung handelt es sich in dem Fall, dass die Berufung erst nach Ablauf der Berufungsfrist eingelegt wird, eine Berufung der anderen Partei bereits vorliegt (die allerdings für die Zulässigkeit der Anschlussberufung auch zulässig sein muss, also rechtzeitig erhoben sein muss und ansonsten zulässig sein müsste) oder aber zwar evtl. auch innerhalb der eigenen Berufungsfrist eingelegt wird, aber im Hinblick auf den Streitwert und mangels Zulassung ansonsten nicht zulässig wäre.

Die unselbständige Anschlussberufung wird zwar wie eine normale Berufung behandelt, ist aber letztlich ist abhängig von der Berufung (Hauptberufung) der anderen Partei. Nimmt die andere Partei ihre Berufung (noch zulässig) zurück oder weist das Berufungsgericht die Berufung der anderen Partei wegen offensichtlicher Unbegründetheit nach § 522 ZPO per Beschluss (nicht durch Urteil; im Falle eines Urteils wäre auch in der Sache über die Anschlussberufung zu entscheiden) zurück, so kann auch nicht mehr über die unselbständige Anschlussberufung entschieden werden. Ihre Zulässigkeit ist von dem Bestand er Hauptberufung abhängig.

In diesem Zusammenhang besteht in Literatur und Rechtsprechung Streit zu der Frage, wie mit den Kosten der Anschlussberufung umzugehen ist. Teils wird angenommen, dass mit der Zurückweisung nach § 522 ZPO der Hauptberufungsführer auch die Kosten der Anschlussberufung zu tragen habe, teils wird angenommen, dass die Kosten nach dem Verhältnis von Berufung und Anschlussberufung zu quoteln sind (auch dann, wenn die Anschlussberufung in der Sache Erfolg haben könnte).

2. Das OLG Stuttgart hatte die Hauptberufung im Beschlussweg nach § 522 ZPO in seinem hier besprochenen Beschluss zurückgewiesen und dabei gleichzeitig festgestellt, dass die unselbständige Anschlussberufung wirkungslos wurde (§ 524 Abs. 4 ZPO). Die Kosten des Berufungsverfahrens (aus dem Streitwert von Hauptberufung und Anschlussberufung) hatte es im Verhältnis von 8%   des unselbständigen Anschlussberufung hatte es dem Kläger als Hauptberufungsführer mit 8%, dem Beklagten im Hinblick auf dessen unselbständige Anschlussberufung mit 92% auferlegt.

Zur Begründung der Kostenentscheidung wies das OLG darauf hin, dass § 522 Abs. 2  S. 1 ZPO nicht klärt, wer die Kosten einer zulässigen unselbständigen Anschlussberufung zu tragen habe und dies auch bisher höchstrichterlich Rechtsprechung (BGH) nicht geklärt sei, in der obergerichtlichen Rechtsprechung umstritten sei. Es entscheid sich zu der Quotelung entsprechend einem jeweiligen Obsiegen zum Unterliegen und hat damit den Anschlussberufungskläger wie eine unterlegene Partei behandelt, ohne die mögliche Begründetheit dessen Berufung zu würdigen. Dabei hat sich das OLG mit verschiedenen Konstelltationen, die in der obergerichtlichen Rechtsprechung gebildet wurden. auseinandergesetzt:

Kostenteilung wegen Missbrauchsgefahr (so OLG Köln, Beschluss vom 23.07.2009 - 4 UF 80/09 - und OLG Stuttgart, Beschluss vom 23.03.2009 – 12 U 220/08 -): Dabei würde zugrunde gelegt, der Anschlussberufungskläger könne das Rechtsmittel nur einlegen, um die Kosten für den Berufungskläger in die Höhe zu treiben. Das könne zwar angenommen werden, wenn die Anschlussberufung erst nach einem Hinweisbeschluss nach § 522 ZPO erfolge (Hinweis darauf, dass beabsichtigt sei, die Berufung zurückzuweisen) oder z.B. offensichtlich sei, dass die Berufung unzulässig oder unbegründet ist. Dies sie aber nicht der Regelfall und könne hier nicht angenommen werden.

Kostenteilung wegen Abwartens bis zu einer Terminierung (z.B. OLG München, Beschluss vom 11.04.2014 – 23 U 4499/13 -). Da aber die Anschlussberufung (mit Ausnahme des Falles in § 524 Abs. 2 S. 3 ZPO) eine Anschließung nur bis zum Ablauf der (Anm.: diesbezüglich nicht verlängerbaren) Berufungserwiderungsfrist erfolgen könne, sei dies auch kein Argument für eine Kostenteilung, da in der Regel bis zu diesem Zeitpunkt keine Terminierung erfolge.

Gegen eine Kostenteilung spreche nicht, dass damit die Rücknahme der Berufung nach einem Hinweis nach § 522 ZPO mit der Zurückweisung nach § 522 ZPO gleichgestellt werden müssten. Diese Fälle lägen nicht gleich. Bei der Zurücknahme ohne gerichtliche Entscheidung durch eine im Belieben des Berufungsklägers liegende Entscheidung erfolge, nicht durch eine gerichtliche Maßnahme (Beschluss). Zwar könne nicht maßgeblich für eine Kostenteilung bei Zurückweisung sprechen, dass die Rücknahme noch im Belieben des Hauptberufungsführers stünde was zwar der Fall sei. Allerdings müsse für die Zurücknahme nicht zwingend sprechen, dass er sich von der Argumentation des Gerichts überzeugen ließ, da auch anderweitige Erwägungen (so, dass er zur Einsparung von Kosten darauf verzichte, des Gericht durch Argumentation von seiner Sicht zu überzeugen) möglich seien. Nutze der Hauptberufungsführer sein Recht zum rechtlichen Gehör und versuche er, das Gericht von einer Zurückweisung nach § 522 ZPO abzubringen, könne ihm dies alleine nicht zum Nachteil gereichen, weshalb es an einer Grundlage fehle, ihm auch die Kosten der Anschlussberufung aufzuerlegen.

Folgende Gründe benannte das OLG zur Rechtefertigung seiner Kostenentscheidung:

Das Grundprinzip sei, dass derjenige, der mit seinem Angriff erfolglos bliebe, die Kosten dieses Angriffs zu tragen habe, gleich aus welchem Grund er damit erfolglos geblieben sei (so z.B. OLG München, Beschluss vom 23.07.2009 - 23 U 4499/13 -; zu Anschlussrevision BGH, Beschluss vom 11.03.1981 - GSZ 1/80 -). Zwar sei die unselbständige Anschlussberufung kein eigenes Rechtsmittel, sondern nur ein Angriff innerhalb der Berufung des Gegners, weshalb § 97 ZPO (Kosten des Rechtsmittels) nicht in Betracht käme. Der Grundsatz gelte insoweit, als nach § 91 Abs. 1 S. 1 ZPO derjenige die Kosten trage, der unterliege. Dies setze sich in § 92 Abs. 1 S. 1 ZPO fort, wonach bei teilweisen Obsiegen und Unterliegen die Kosten im Verhältnis aufzuteilen seien. Auch hebe der Kläger bei einer Klagerücknahme gem. § 269 Abs. 3 S. 2 ZPO regelmäßig die Kosten zu tragen ebenso der Berufungsführer bei einer Berufungsrücknahme . Auch im Rahmen des § 91a Abs. 1 S. 1 ZPO (Hauptsacheerledigung) seien im Rahmen einer Ermessenentscheidung die jeweiligen Erfolgsaussichten bei der Kostenentscheidung zu berücksichtigen. Nach § 96 ZPO könnten auch dem obsiegenden Kläger Kosten eines ohne Erfolg gebliebenen Angriffs- oder Verteidigungsmittels auferlegt werden. Es könne also nicht formal darauf abgestellt werden, dass die unselbständige Anschlussberufung kein eigenständiges Rechtsmittel sei. Sie diene nicht nur zur Durchsetzung oder Abwehr eines Anspruchs, sondern mit ihr erstrebe die Partei mit Sachanträgen eine Abänderung der Entscheidung zu ihren Gunsten. Auch wenn die Wirkungslosigkeit der Anschlussberufung gem. § 524 Abs. 4 ZPO kein Unterliegen iSv. § 92 ZPO sei, führe dies zur Erfolglosigkeit der Anschlussberufung.

Derjenige, der eine unselbständige Anschlussberufung einlege, hätte durch rechtzeitige eigene Berufungseinlegung sicherstellen können, dass sein Rechtsmittel nicht von demjenigen des Gegners abhängig ist. Weiterhin hätte er die unselbständige Anschlussberufung unter einer zulässigen auflösenden Bedingung erheben können (OLG Nürnberg, Beschluss vom 23.07.2012 – 5 U 126/11 -; Anmerkung: Es ist strittig, ob eine Anschlussberufung unter einer Bedingung prozessual zulässig ist).

Derjenige, der eine unselbständige Anschlussberufung einlege, wisse zudem, dass sein Rechtsmittel davon abhängig ist, dass die Berufung des Gegners nicht durch Beschluss zurückgewiesen wird. Dies zwinge zwar nicht zur Kostenteilung, zeige aber auf, dass der Anschlussberufungsführer mit den Kosten nicht unbillig belastet würde. Er wisse, dass sein Risiko darin bestünde, auch ohne jegliche Sachprüfung mit diesem Rechtsmittel keinen Erfolg haben zu können.

Die Kostenquotelung sei nach dem jeweiligen Wert ermittelten Quote der Berufungsanträge zu bemessen.

OLG Stuttgart, Beschluss vom 18.06.2021 - 23 U 728/21 -

Samstag, 20. November 2021

Die rechtsmissbräuchliche Eigenbedarfskündigung

Die Klägerin zu 1, eine Aktengesellschaft, deren Anteile überwiegend von der Familie P. gehalten werden, der auch die Klägerin zu 2 angehörte, erwarb 2015 eine Eigentumswohnung. Eine auf Eigenbedarf gestützte Räumungsklage mit der Begründung, der Vater der Klägerin zu 1, Vorstandsmitglied der Klägerin zu 1, wolle dort einziehen, wurde zurückgewiesen. Danach schenkte die Klägerin zu 1 der Klägerin zu 2 einen 5/100 Miteigentumsanteil an die Klägerin zu 2 und die Kläger kündigten wegen Eigenbedarfs. Die Räumungsklage wurde zurückgewiesen. Der BGH wies darauf hin, dass er die Revision nicht annehmen würde, woraufhin die vom Berufungsgericht zugelassene Revision zurückgenommen wurde.

Das Landgericht hatte als Berufungsgericht darauf hingewiesen, dass die Klägerin zu 1 als juristische Person keinen Eigenbedarf geltend machen könne und mit der Übertragung des 5/100 Miteigentumsanteils an die Klägerin zu 2 als natürliche Person nur ein völlig unbedeutender Miteigentumsanteil übertragen worden sei, um das Hindernis der fehlenden Berechtigung der juristischen Person zu umgehen; dies sei rechtsmissbräuchlich.

Der BGH wies darauf hin, dass die Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung habe noch eine Entscheidung des BGH zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung gefordert sei (§ 543 Abs. 2 ZPO). Die Entscheidung hänge von der Beantwortung der Frage ab, ob ein Verhalten treuwidrig oder rechtsmissbräuchlich sei (§ 242 BGB), was von den Umständen des jeweiligen Einzelfalles abhänge und sich daher einer Grundsatzentscheidung entziehe.

Zudem habe die Revision aber auch in der Sache keinen Erfolg. Ersichtlich habe die Übertragung des minimalen Miteigentumsanteils auf die Tochter des Vorstandsmitgliedes der Aktiengesellschaft nur dem Ziel gegolten, die der Gesellschaft nicht mögliche Eigenbedarfskündigung durchzusetzen, ohne dass mit der Übertragung von Miteigentumsanteilen eine nennenswerte Änderung der Eigentumsverhältnisse oder wirtschaftlichen Verhältnisse verbunden gewesen sei. Die Würdigung durch das Landgericht halte sich damit im Rahmen zulässiger tatrichterlicher Würdigung.

BGH, Beschluss vom 30.03.2021 - VIII ZR 221/19 -

Donnerstag, 18. November 2021

Trägt der Gläubiger Kosten seines Insolvenzantrages bei nachfolgender Erfüllung durch Schuldner ?

Nachdem der Schuldner Sozialversicherungs- beiträge für bei ihm Beschäftigte nicht an die Gläubigerin (eine gesetzliche Krankenversicherung) für einen Zeitraum November 2018 bis Juni 2019 abgeführt hatte, beantragte die Gläubigerin die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Schuldners. Danach erfolgte durch den Schuldner die Zahlung und die Gläubigerin erklärte die Hauptsache für erledigt. Unter Bezugnahme auf §§ 4 InsO, 91a ZPO hatte das Insolvenzgericht nunmehr der Gläubigerin die Kosten des Verfahrens auferlegt. Das Landgericht wies die dagegen eingelegte sofortige Beschwerde zurück. Auf die vom Landgericht zugelassene Rechtsbeschwerde stellte der BGH die Erledigung des Eröffnungsantrages fest und erlegte dem Schuldner die Kosten des Verfahrens auf.

Der BGH verwies darauf, dass die Insolvenzordnung in § 4 InsO auf die entsprechende Anwendbarkeit der Regelungen der ZPO verweise, soweit es an einer Regelung in der InsO ermangelt, und dass eine Hauptsacheerledigung in der InsO nicht geregelt sei anerkannt sei, dass für die § 91a ZPO entwickelten Grundsätze entsprechende Anwendung fänden (BGH, Beschluss vom 25.09.2008 - IX ZB 131/07 -).

Vorliegend läge eine einseitige Erledigungserklärung vor (da sich der Schuldner der gläubigerseits erklärten Erledigung nicht angeschlossen hatte, wobei auch kein Hinweis auf die Folgen der fehlenden Erklärung nach § 91a Abs. 1 S. 2 ZPO erfolgte, weshalb ein Schweigen keine Zustimmung zur Erledigungserklärung der Gläubigerin bedeutet).

Mit der einseitigen Erledigungserklärung würden keine Ermittlungen mehr zu einem möglichen Eröffnungsgrund für ein Insolvenzverfahren erfolgen. Für die Kostenentscheidung sei auf den Erkenntnisstand zum Zeitpunkt der Erledigungserklärung abzustellen. Gleichwohl bleibe aber der Eröffnungsantrag bei einseitiger Erledigungserklärung anhängig und es müsse über diesen entscheiden werden. Der Prüfungsumfang beziehe sich nun auf die Klärung der Frage, ob der Antrag zulässig und begründet war und sich durch ein nachträgliches Ereignis erledigte. Würde vom Insolvenzgericht die Erledigung festgestellt, könne der Schuldner den Beschluss mit sofortiger Beschwerde anfechten (§§ 6, 34 Abs. 2 InsO), bei Abweisung des Antrages ergäbe sich ein Beschwerderecht aus §§ 6, 34 Abs. 1 InsO.

Vorliegend sei das Beschwerdegericht zutreffend von einer Zulässigkeit und Begründetheit des Insolvenzeröffnungsantrages der Gläubigerin ausgegangen. Allerdings läge entgegen der Annahme des Beschwerdegerichts ein erledigendes Ereignis vor; die anderweitige Auffassung des Vorgerichts beruhe auf einem falschen Verständnis zu § 14 Abs. 1 S. 2 InsO. Nach § 14 Abs. 1 S. 2 InsO sei für den antragstellenden Gläubiger die Möglichkeit eröffnet, auch bei nachträglicher Erfüllung des Anspruchs den Eröffnungsantrag aufrecht zu erhalten. Dazu bestünde aber keine Pflicht (BGH, Beschluss vom 24.09.2020 - IX ZB 71/19 -).

Der Umstand, dass grundsätzlich nach den zivilprozessualen Grundsätzen zu § 91a ZPO kein erledigendes Ereignis vorliege, wenn der Antrag weiterhin zulässig und begründet ist, unterläge hier im Insolvenzrecht einer Modifizierung. Daher könnten bei der einseitigen Erledigungserklärung nicht dem Gläubiger die Kosten mit der Begründung auferlegt werden nach § 14 Abs. 1 S. 2 InsO sei der Antrag weiterhin zulässig.

Der BGH sah sich in der Lage, da nicht davon auszugehen sei, dass bei einer Zurückverweisung weitere Feststellungen, insbesondere zu einem Druckantrag, zu erwarten wären. Anmerkung: Zum Druckantrag hatte der BGH in seinem Beschluss vom 24.09.2020 – IX ZB 71/19 – Stellung genommen. Ein solcher liegt vor, wenn der Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens erfolgt, um den Schuldner zu veranlassen,  unter dem Druck des Antrages zur Zahlung vorzunehmen. In diesem Fall wären nach der Motivlage bei der Erledigung durch Zahlung die Kosten dem Gläubiger aufzuerlegen. Allerdings müssten hier, neben der Antragsrücknahme, weitere Umstände vorliegen, die die Annahme der Druckantragstellung rechtfertigen könnten (BGH, Beschluss vom 24.09.2020 - IX ZB 71/19 -).

BGH, Beschluss vom 23.09.2021 – IX ZB 66/20 -

Montag, 15. November 2021

Verletzung rechtlichen Gehörs bei Nichtgewährung rechtlichen Gehörs zum Hinweis gem. § 522 ZPO

Die Klägerin machte Ansprüche wegen einer ärztlichen Fehlbehandlung gegen die Beklagte geltend. Die Klage wurde teilweise abgewiesen. Insoweit legte die Klägerin Berufung zum Kammergericht (KG) ein. Dieses erließ einen Hinweisbeschluss nach § 522 ZPO, mit dem es die Klägerin auf die Absicht hinwies, die Berufung durch einstimmigen Beschluss als unbegründet zurückzuweisen, begründete dies und gewährte der Klägerin eine Frist zur Stellungnahme. Der Prozessbevollmächtigte beantragte während der laufenden Frist mit Schriftsatz vom 25.05.2020 (stillschweigende) Fristverlängerung mit der Begründung einer Arbeitsüberlastung auf den 06.07.2020. Dieser am 25.05.2020 bei dem KG eingegangene Schriftsatz wurde erst am 11.06.2020 dem Senat vorgelegt, der bereits mit Beschluss vom 10.06.2020 die Berufung zurückgewiesen hatte.

Auf die von der Klägerin eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde zum BGH wurde der Beschluss des KG vom 10.06.2020 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung an das KG zurückverwiesen.

Das KG habe unter Verletzung des rechtlichen Gehörs den Fristverlängerungsantrag nicht zur Kenntnis genommen und die Berufung zurückgewiesen habe. Dabei sei unbeachtlich, dass die Geschäftsstelle des KG dem Senat den Schriftsatz erst verspätet vorgelegt habe, wie vom Senat der Klägerin mitgeteilt wurde.

Es könne für die Frage der Entscheidungserheblichkeit der Verletzung die Auffassung der Beschwerdeerwiderung auf sich beruhen, ob der erkennende Senat des KG die Fristverlängerung hätte gewähren müssen und dass in der im Rahmen der Nichtzulassungsbeschwerde vorgetragenen fiktiven Stellungnahme zum Hinweisbeschluss nichts vorgetragen worden sei,  was zur Zulassung der Berufung durch das KG relevant gewesen sei.

Eine gerichtliche Entscheidung beruhe auf der Verletzung rechtlichen Gehörs nach Art. 103 Abs. 1 GG, falls nicht ausgeschlossen werden könne, dass sie anders ausgefallen wäre, wenn das Vorbringen berücksichtigt worden wäre (BVerfG, Beschluss vom 19.10.1977 - 2 BvR 566/76 -). Davon sei hier auszugehen.

a)a Die nach § 522 Abs 2 S. 2 ZPO gesetzte Frist könne gem. § 224 Abs. 2 ZPO verlängert werden. Damit verwies das BVerfG zutreffend darauf, dass es für die Erheblichkeit der Verletzungshandlung iSv. Art- 103 GG nicht darauf ankommt, dass feststeht, dass die Frist verlängert wird, sondern nur darauf, dass die Möglichkeit bestanden habe. Wird mithin im Rahmen der Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs geltend gemacht, dass die Frist verlängert worden wäre, handelt es sich um eine nach § 224 Abs. 2 ZPO gegebene Möglichkeit, die die Erheblichkeit der Nichtbeachtung des Verlängerungsantrages begründet.

Das alleine wäre vorliegend aber noch nicht ausreichend. Denn wenn die Frist tatsächlich verlängert worden wäre, bedeutet dies nicht, dass die Berufung nicht doch mit Beschluss zurückgewiesen worden wäre. Vorliegend vertrat der BGH die in der Sache zutreffende Ansicht, dass auch nicht ausgeschlossen werden könne, dass mit der jetzt vorgetragenen, nach Angaben der Klägerin bei verlängerter Frist erfolgten Stellungnahme eine andere Entscheidung durch das KG erfolgt wäre. Nicht vorausgesetzt würde, so der BGH, dass die hypothetischen Ausführungen in dieser fiktiven Stellungnahme „zulassungsrelevant“ seien, vielmehr sei der berufungsgerichtliche Prüfungsmaßstab (§ 529 ZPO) zugrunde zu legen. Danach könne vorliegend eine andere Entscheidung des KG nicht ausgeschlossen werden.

Auch der Grundsatz der Subsidiarität greife vorliegend nicht. Danach müsse eine Partei die nach Lage der Sache gegebenen prozessualen Möglichkeiten ausschöpfen, um eine Korrektur der geltend gemachten Grundrechtsverletzung zu verhindern. Wer dies versäume könne keinen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG geltend machen. Dies entspräche auch § 295 ZPO, wonach eine Partei eine Gehörsverletzung dann nicht mehr geltend machen könne, wenn sie dies ihr nach dem Erkennen des Verstoßes verbliebenen Möglichkeiten zu einer Äußerung nicht nutze (BGH, Urteil vom 18.11.2020 - VIII ZR 123/20 -; BVerfG, Beschluss vom 21.01.2020 - VI ZR 410/17 -). Der BGH wies darauf hin, dass eine Frist nicht „stillschweigend“ verlängert werden könne, da eine Fristverlängerung ausdrücklich ausgesprochen und mitgeteilt werden müsse (BGH, Beschluss vom 26.10.1989 - IVb 135/88 -). Der BGH geht dabei ersichtlich davon aus, dass trotz der Beantragung einer „stillschweigend“ zu gewährenden Fristverlängerung ein ordnungsgemäßer Verlängerungsantrag gestellt wurde, und geht daher folgerichtig darauf ein, ob es zur Pflicht der Partei gehört, sich nach einer gewährten Verlängerung zu erkundigen. Diese Erkundigungspflicht habe hier aber die Klägerin bis zum Zurückweisungsbeschluss vom 10. 06.2020 nicht gehabt.

BGH, Beschluss vom 28.09.2021 - VI ZR 946/20 -

Donnerstag, 11. November 2021

Verdienstausfall als Schadensersatz nach Unfall, Zumutbarkeit der Behandlung und Darlegungs- und Beweislast

Der bereits vorgeschädigte Kläger (GdB 60%) zog sich bei einem von dem Versicherungsnehmer der beklagten Haftpflichtversicherung am 08.08.2004 alleine verursachten und verschuldeten Verkehrsunfall Frakturen, Prellungen und Quetschungen zu. Zwischen den Parteien ist die volle Einstandsverpflichtung der Beklagten für die materiellen und immateriellen Schäden des Klägers aus dem Unfall unstreitig.

Nach der unfallbedingten stationären Behandlung war der Kläger über längere Zeit auf einen Rollstuhl und die Hilfe seiner berufstätigen Frau angewiesen. Nach Behauptung des Klägers sei es unfallbedingt  zu Depressionen gekommen und er habe einen Selbstmordversuch gemacht. 2005 habe er seine Tätigkeit bei in der Folgezeit sich entwickelnden psychosomatischen Beschwerden wieder aufgenommen, bis es bedingt durch die Beschwerden zur Arbeitsunfähigkeit ab Anfang 2007 gekommen sei. Schließlich bekam er eine befristete Rente wegen voller Erwerbsminderung, die nach einmaliger Verlängerung zu einer unbefristeten Erwerbsminderungsrente führte. Mit der Klage machte der Kläger seinen Verdienstausfallschaden geltend.

Das Landgericht hatte der Klage im Wesentlichen stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagte wurde das Urteil abgeändert und die Klage teilwiese abgewiesen. Das Oberlandesgericht stellte darauf ab, dass eine Anspruchskürzung wegen fehlender ärztlicher Behandlung der Depression zu erfolgen habe (zunächst um 50%, später mit 75%). Der Kläger verfolgte mit der zugelassenen Revision sein ursprüngliches Zahlungs- und Feststellungsbegehren weiter.

Der BGH bestätigte, dass ein Verstoß gegen die Schadensminderungspflicht des § 254 Abs. 2 S. 1 BGB  führe zu einer Anspruchskürzung führe. Danach müsse es der Geschädigte schuldhaft unterlassen haben, einen Schaden abzuwenden oder zu mindern. Es handele sich dabei um eine Verletzung einer im eigenen Interesse bestehenden Obliegenheit. Eine Obliegenheitsverletzung verlange, dass der Geschädigte unter Verstoß gegen Treu und Glauben Maßnahmen unterlassen würde, die ein ordentlicher und verständiger Mensch in seiner Position zur Schadensabwehr oder -minderung ergreifen würde. Danach obliege es dem Geschädigten bei einer seine Arbeitskraft beeinträchtigenden Verletzung als Ausfluss der Schadensminderungspflicht im Verhältnis zum Schädiger, seine verbliebene Arbeitskraft im zumutbaren Ramen so nutzbringend wie möglich zu verwerten (BGH, Urteil vom 26.09.2006 - VI ZR 124/05 -).

Wenn die Arbeitskraft durch zumutbare Maßnahmen wiederhergestellt oder verbessert werden könne, würde es sich um eine vorgeschaltete Obliegenheit zur Schadensminderung darstellen, diese Maßnahmen zu ergreifen (BGH, Urteil vom 04.11.1986 - VI ZR 12/86 -).  Der Geschädigte dürfe nicht anders handeln, als ein verständiger Mensch, der bei gleicher Gesundheitsstörung die Vermögensnachteile selbst zu tragen habe.  

Die zur (jedenfalls teilweisen) Wiedererlangung der Arbeitskraft müssen dem Geschädigten zumutbar sein. Dazu gehöre auch eine Operation, wenn sie einfach und gefahrlos und nicht mit besonderen Schmerzen verbunden sei und die sichere Aussicht auf Heilung oder wesentliche Besserung biete (BGH, Urteil vom 15.03.1994 - VI ZR 44/93 -). Danach sei für eine stationäre psychiatrische oder mit belastenden Nebenwirkungen behaftete medikamentöse Behandlung die sichere Aussicht auf Heilung oder wesentliche Besserung Voraussetzung.

Im Hinblick auf einen Verdienstausfallschaden sei eine Zumutbarkeit nur anzunehmen, wenn die Verbesserung der Gesundheit zur Wiederherstellung bzw. Verbesserung der Arbeitskraft führe. Dass wiederum würde voraussetzen, dass überhaupt eine Aussicht auf eine erfolgreiche berufliche Tätigkeit (ggf. nach zumutbaren Umschulungs- oder Weiterbildungsmaßnahmen) vorläge, er also die widergewonnene Arbeitskraft gewinnbringend einzusetzen. Für entsprechende Feststellungen müsse der Tatrichter den mutmaßlichen Erfolg anhand der (damaligen, also zum Zeitpunkt einer Unterlassung) Lage am Arbeitsmarkt beurteilen.

Verstoße der Geschädigte gegen die ihm danach obliegende Schadensminderungspflicht, seien die erzielbare fiktiven Einkünfte auf den Schaden anzurechnen. Eine quotenmäßige Kürzung komme nicht in Betracht, da die Höhe des Schadens nicht von einer Quote abhänge, sondern davon, welches Einkommen vom Geschädigten in der konkreten Situation unter Berücksichtigung aller Umstände in zumutbarer Weise verdienen könnte.

Vorliegend habe sich das Berufungsgericht nicht mit der vom Kläger bestrittenen Therapiefähigkeit auseinandergesetzt habe. Sollte die Verweigerung oder Verzögerung einer indizierten Therapie eine typische Folge der unfallbedingten psychischen Erkrankung sein, scheide eine Obliegenheitspflichtverletzung aus.

Auch habe das Berufungsgericht die konkreten therapeutischen Maßnahmen nicht ermittelt, da neben der Erfolgsaussicht auch beurteilt werden müsse, welche Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit hingenommen werden sollen und ob diese zu den Erfolgsaussichten angemessen seien.

Auch müsse der Tatrichter entscheiden , ob eine Obliegenheitspflichtverletzung entfalle, wenn – wie hier vom Kläger behauptet – der Amtsarzt in 2008 den Rentenantrag empfohlen habe, die Fachärztin für psychotherapeutische Medizin 2012 eine unverändert fehlende Belastbarkeit festgestellt und eine Besserung ausgeschlossen habe und dies von der Ärztin der Rentenversicherung 2012 bestätigt worden sei.

Verfehlt sei zudem, dass das Berufungsgericht nach sachverständiger Beratung aus einem Erfolg der Behandlung der rezidivierenden depressiven Störungen unmittelbar auf Verdienstmöglichkeiten des Klägers in Höhe seines entgangenen Verdienstes geschlossen habe. Es fehle die Prüfung, ob der Kläger überhaupt, ggf. in welchem Umfang die Möglichkeit gehabt hätte, seine verbliebene bzw. neu gewonnene Arbeitskraft am Arbeitsmarkt gewinnbringend einzusetzen. Die fiktiven Einnahmen seien vom Berufungsgericht fehlerhaft nicht ermittelt worden.

Zur Darlegungs- und Beweislast wies der BGH darauf hin, dass diese grundsätzlich der Schädiger trage; er müsse darlegen und beweisen, dass es dem Geschädigten möglich und zumutbar gewesen sei, seine Krankheit zu behandeln und seine Arbeitskraft gewinnbringend anzusetzen. Allerdings obliege dem Geschädigten insoweit eine sekundäre Darlegungslast, was bedeutet, dass er darlegen müsse, was er unternommen habe, um seine Gesundheit zu verbessern und Arbeit zu finden bzw. was dagegen stehen würde.

Da die notwendigen Ermittlungen durch das Berufungsgericht fehlten, konnte der BGH in der Sache nicht selbst entscheiden und hob das Urteil unter Zurückverweisung an das Berufungsgericht zur erneuten Entscheidung auf.

BGH, Urteil vom 21.09.2021 - VI ZR 91/19 -

Dienstag, 9. November 2021

Dringlichkeit (hier: zeitliche Folge) für einstweilige Verfügung nach §§ 935, 940 ZPO (Meinungsäußerung, Schmähkritik im Internet)

Über die Antragstellerin (AS) wurde in den sozialen Medien seit ihrer Teilnahme an einer TV-Show berichtet, seit 2016 auf einer bestimmten Internetseite verschiedene, meist negative Berichte veröffentlicht. Nach Mutmaßung der AS wird die Internetseite von dem Antragsgegner (AG) betrieben. Die AS plante am 01.09.2020 die Veröffentlichung eines Buches. Im Vorfeld dazu schrieb der AG am 28.08.2020 den Verlag an und kündigte diesem für den Fall der Veröffentlichung Konsequenzen an. Darauf beendete der Verlag noch im August 2020 die Zusammenarbeit mit der AS; das Buch ist bisher nicht erschienen. In der Mail des AG an den Verlag hieß es, es sei nicht wahr dass ein B… D…. nicht ernstgenommen worden sei und die Polizei ihr (der AS) immer wieder sagen würde, es gäbe keinen Handlungsbedarf, es sei auch nicht wahr, dass die AAS von ihr bekannten Personen verfolgt, beleidigt und bedroht würde, vielmehr beschimpfe die AS ihn (den AG) mit faschistischen Äußerungen in den sozialen Medien mit Termine wie „Lügenpresse“ und habe gegen einen Moderator Morddrohungen geäußert. Auf Facebook teilte der AG mit, selbst ein Buch geschrieben zu haben.

Die AS behauptete, sie habe von den den Streitgegenstand des Verfügungsverfahrens bildendenden Ankündigungen des AG seit dem 13.04.2021 Kenntnis, da eine Teilnehmerin der Facebook-Gruppe ihr diese habe zukommen lassen.

Am 21.05.2021 beantragte die AS bei dem LG Frankfurt (Oder) den Erlass einer einstweiligen Verfügung, mit der sie dem AG untersagen lassen wollte, insgesamt 5 Äußerungen zu verbreiten und ferner den AG untersagen lassen wollte, sich auf der Internetseite über sie zu äußern. Das LG wies den Antrag ab, da ein Teil der beanstandeten Äußerungen Meinungsäußerungen darstellen würden und noch nicht die Grenze der unzulässigen Schmähkritik erreicht hätten, i Übrigen es sich zwar um eine Tatsachenbehauptung handele, hier aber - da die Behauptung bereits 2020 aufgestellt worden sei - der Verfügungsgrund fehle.

Die zulässige Beschwerde der AS gegen den den Erlass der einstweiligen Verfügung ablehnenden Beschluss des LG wurde vom OLG zurückgewiesen.

Für eine einstweilige Verfügung sei eine Eildürftigkeit / Dringlichkeit erforderlich. Für drei der beanstandeten Äußerungen könne dies nicht angenommen werden. Damit würde es an einem Verfügungsgrund fehlen. Diese Äußerungen seien im August 2020 getätigt worden, mithin ca. neun Monate vor dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung. Eine für die Dringlichkeit sprechende Vermutung sei damit durch das Verhalten der AS widerlegt, da sie mit der Rechtsverfolgung zu lange zugewartet habe (BGH, Beschluss vom 01.07.1999 - IZB 7/99 -). Voraussetzung für die erforderliche Dringlichkeit sei, dass die objektiv begründete Gefahr bestünde, dass durch eine Veränderung des Status quo eine Rechtsverwirklichung der AS in einem möglichen Hauptsachverfahren vereitelt oder erschwert würde und die einstweilige Verfügung zur Abwendung einer Gefährdung der Gläubigerinteressen zur vorläufigen Sicherung im Eilverfahren dringlich geboten sei. Das lange Zuwarten manifestiere, dass die AS selbst die Angelegenheit nicht für eilbedürftig halte (KG, Urteil vom 09.02.2001 - 5 U 9667/00 -; OLG Hamburg, Beschluss vom 20.03.2008 – 7 W 19/08 -).  Es könne auf sich beruhen, ob entsprechend der Rechtsprechung zu Wettbewerbssachen eine Frist von einem Monat zwischen Verstoß und Antragstellung erforderlich sei (so auch teilweise angenommen für Verfügungen nach §§ 935, 940 ZPO) oder bei Anträgen (wie hier) nach §§ 935, 940 ZPO sechs bis acht Wochen der Dringlichkeit nicht entgegenstehen, könne auf sich beruhen, da die AS zeitnah von den Mails des AG vom 28.08.2020 Kenntnis erlangt habe, da sonst ihr Buch zum 01.09.2020 wie beabsichtigt erschienen wäre.

Gründe, die gegen die Annahme der fehlenden Dringlichkeit sprechen könnten (wie Verhandlungen der Parteien über die Verbreitung der Äußerungen mit der begründeten Hoffnung, dass damit der drohenden bzw. behaupteten Rechtsgutverletzung abgeholfen werden könne, OLG Nürnberg, Beschluss vom 13.11.2018 - 3 W 2064/18 -), wären von der AS vorzutragen und glaubhaft zu machen gewesen, was nicht erfolgt sei.

Die Dringlichkeit habe auch nicht dadurch wideraufleben können, dass der AG die ihm übersandte Unterlassungserklärung, in der die beanstandeten Behauptungen aufgenommen worden seien, auf der streitgegenständlichen Internetseite veröffentlicht habe. Es habe sich damit nur die seit August 2020 bestehende konkrete Gefahr der jederzeitigen Wiederholung verwirklicht. Es hätten sich hier auch nicht Umstände geändert, da der Text der gleiche gewesen sei, weshalb die AS auch nicht schwerer als 2020 betroffen gewesen sei (im Gegenteil, in 2020 habe dies die Veröffentlichung des Buches verhindert).

Soweit darüber hinaus der Antrag wegen Meinungsfreiheit abgewiesen worden sei, sei dies auch nicht zu beanstanden. Die Meinungsäußerung unterscheide sich von einer Tatsachenbehauptung dadurch, dass die subjektive Beziehung zwischen Äußerung und der Wirklichkeit im Vordergrund stünde, hingegen für die Tatsachenbehauptung die objektive Beziehung des sich Äußernden zum Inhalt seiner Äußerung charakteristisch sei.  Ein Tatsachenbehauptung sei einer Überprüfung mit den Mitteln des Beweises zugänglich, was bei Meinungsäußerungen nicht der Falls sei, die durch das Element der Stellungnahme und des Dafürhaltens gekennzeichnet sei und sich von daher nicht als wahr oder unwahr erweisen könne. Für die Ermittlung des Aussagegehalts sei auf den allgemeinen Sprachgebrauch im betreffenden Kontext zurückzugreifen.

Enthalte eine Äußerung sowohl Tatsachenbehauptungen wie auch Meinungsäußerungen/Werturteile, sei ein Herausgreifen einzelner Elemente unzulässig. Entscheidend sei, ob die Tatsachenbehauptung so substanzarm ist, dass die Äußerung insgesamt durch die Elemente der Stellungnahm, des Dafürhaltens und Meinens geprägt sei. Bei Zweifel sei insgesamt von einer Meinungsäußerung auszugehen, wobei Wahrheit oder Unwahrheit dann im Rahmen der vorzunehmenden Abwägung der schutzwürdigen Belange vorzunehmen sei (BGH, Urteil vom 17.11.2009 – VI ZR 226/08 -).

Die Meinungsäußerung sei durch Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG gewährleistet, unabhängig davon, ob sie wertlos oder wertvoll, richtig oder falsch, begründet oder grundlos, emotional oder rational sei. Auch scharfe und übersteigerte Äußerungen würden darunter fallen. Nur dann, wenn nicht die Auseinandersetzung mit der Sache, sondern die Herabsetzung einer Person im Vordergrund stünde, würde die als Schmähung anzusehende Äußerung hinter dem Persönlichkeitsrecht des Betroffenen zurücktreten.

Für den Antrag, dem AG zu untersagen, sich überhaupt auf der Internetseite über sie zu äußern, sei kein Raum. Es könne ihm nicht untersagt werden, sich in öffentlich ausgetragenen Auseinandersetzungen im Rahmen der rechtlichen Grenzen (wie aufgezeigt) wertend über die AS (auch der Internetseite) zu äußern. 

Brandenburgisches OLG, Beschluss vom 19.07.2021 - 1 W 23/21 -