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Sonntag, 17. September 2023

Rückschnitt vom Nachbargrundstück überhängender Äste

Immer wieder kommt es im Zusammenhang mit Anpflanzungen an einer Grundstücksgrenze zu einem Streit zwischen den Nachbarn, sei es, dass bei Anpflanzungen der in den Nachbarrechtsgesetzen der Länder vorgesehene Grenzabstand nicht eingehalten ist (vgl. z.B. §§ 38 ff NachbG HE), sei es, dass ein Überhang auf das benachbarte Grundstück vorliegt. Den Überhang kann der davon betroffene Nachbar gem. § 1004 BGB entgegentreten - wenn dessen Voraussetzungen vorliegen. § 1004 BGB lautet:

 (1) Wird das Eigentum in anderer Weise als durch Entziehung oder Vorenthaltung des Besitzes beeinträchtigt, so kann der Eigentümer von dem Störer die Beseitigung der Beeinträchtigung verlangen. Sind weitere Beeinträchtigungen zu besorgen, so kann der Eigentümer auf Unterlassung klagen.

(2) Der Anspruch ist ausgeschlossen, wenn der Eigentümer zur Duldung verpflichtet ist.

Ferner gibt § 910 BGB dem durch den Überhang beeinträchtigten Nachbarn auch ein Selbsthilferecht an die Hand:

(1) Der Eigentümer eines Grundstücks kann Wurzeln eines Baumes oder eines Strauches, die von einem Nachbargrundstück eingedrungen sind, abschneiden und behalten. Das Gleiche gilt von herüberragenden Zweigen, wenn der Eigentümer dem Besitzer des Nachbargrundstücks eine angemessene Frist zur Beseitigung bestimmt hat und die Beseitigung nicht innerhalb der Frist erfolgt.

(2) Dem Eigentümer steht dieses Recht nicht zu, wenn die Wurzeln oder die Zweige die Benutzung des Grundstücks nicht beeinträchtigen.

Vorliegend verlangte der Kläger vom Beklagten den Rückschnitt von Ästen und Zweigen diverser Bäume, da diese auf sein Grundstück ragten. Das Amtsgericht gab der Klage statt. Unter Abänderung dieses Urteils gab das Landgericht der Berufung allerdings statt und wies die Klage ab. Kernpunkt war, ob hier durch den Überhang das Eigentum des Klägers in anderer Weise als durch Entziehung oder Vorenthaltung des Besitzes beeinträchtigt wurde, § 1004 Abs. 1 S.1 BGB (das Selbsthilferecht des § 910 Abs. 1 BGB verlangt gem. Abs. 2, dass durch die Zweige die Benutzung des Grundstücks beeinträchtigt wird). In beiden Fällen ist mithin die Beeinträchtigung des Grundstücks durch die überragenden Äste/Zweige erforderlich.

Das Landgericht ging auf der Grundlage eines eingeholten Sachverständigengutachtens davon aus, dass ein Überhang bestand. Allerdings negierte es einen Anspruch des Klägers nach § 1004 Abs. 1 S. 1 BGB iVm. § 910 Abs. 1 S. 2 BGB im Hinblick auf § 910 Abs. 2 BGB, da die Benutzung des klägerischen Grundstücks durch den Überhang nicht als beeinträchtigt anzusehen sei.  

Nicht das subjektive Empfinden des Grundstückseigentümers sei für die Beurteilung, ob eine Beeinträchtigung vorliegt, entscheidend, vielmehr müsse der Überhang objektiv beeinträchtigend sein. Für das Nichtvorliegen der Beeinträchtigung sei allerdings der Nachbar darlegungs- und beweisbelastet, auf dessen Grundstück der Baum stehen würde, hier mithin der Beklagte (BGH, Urteil vom 11.06.2021 - V ZR 234/19 -). Dieser habe den von ihm zu erbringenden Nachweis erbracht.

Nach Auffassung der Berufungskammer des Landgerichts fehle es an einer relevanten Beeinträchtigung, wenn die Störung im Vergleich zu den Wirkungen des Rückschnitts außer Verhältnis stehen und deshalb unzumutbar sei. Dies sei z.B. dann der Fall, wenn die verlangte Maßnahme die Gefahr des Absterbens des Baues oder zu einer erhöhten Risikolage führe. Das Verlangen würde dann auf eine verbotene Beseitigung des Baumes hinauslaufen (im Anschluss an OLG Köln, Urteil vom 12.07.2011 - 4 U 18/10 -).  Da die Bäume (unstreitig) mindestens acht Jahre alt seien und der Kläger die Beseitigung nach § 47 Abs. 1 NachbG NRW daher nicht mehr verlangen könne, sei hier der in Rede stehende Anspruch des Klägers ausgeschlossen, da er auf die Beseitigung der Bäume hinauslaufe. Der Sachverständige sei in seinem Gutachten zu dem Schluss gelangt, dass bei dem klägerseits begehrten Rückschnitt kaum ein Baum überleben würde.

Das Landgericht bezog sich zur Stützung seiner Argumentation lediglich auf ein Urteil des OLG Köln vom 12.07.2011 - 4 U 18/10 -. Dort wurde ebenfalls festgehalten, dass eine Unzumutbarkeit bestünde, wenn in Folge des Rückschnitts es zu einem Absterben des Baumes oder einer erhöhten Risikolage käme.

Allerdings geht das Landgericht nicht auf das Urteil des BGH vom 11.06.2021 - V ZR 234/19 - ein, demzufolge das Selbsthilferecht nach § 910 Abs. 1 BGB nicht deshalb ausgeschlossen sei,  da durch die Beseitigung des Überhangs das Absterben des Baumes oder der Verlust seiner Standfestigkeit drohe, es sei denn, naturschutzrechtliche Beschränkungen stünden dem entgegen (was im vorliegenden Fall nicht benannt wurde). Das Selbsthilferecht würde uneingeschränkt bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen vorliegen, also wenn die Wurzeln oder Zweige die Benutzung des Grundstücks beeinträchtigen. Wörtlich führte der BGH aus: „Eine Verhältnismäßigkeits- oder Zumutbarkeitsprüfung, mit der der Ausschluss des Selbsthilferechts teilweise begründet wird (…), ist gesetzlich nicht vorgesehen und widerspräche den Vorstellungen des Gesetzgebers.“ Weiter verwies der BGH darauf, dass eine Einschränkung des Selbsthilferechts nach § 910 BGB auch nicht deshalb in Betracht käme, da eine landesrechtliche Ausschlussfrist zur Beseitigung des Baumes abgelaufen und mit dem Selbsthilferecht umgangen werden könne. Die nachbarrechtlichen Vorschriften der Länder würden kein Selbsthilferecht des beeinträchtigten Nachbarn in Bezug auf überhängende Äste/Zweige oder eingedrungene Wurzeln regeln und könnten dies mangels Gesetzgebungskompetenz die Regelung des § 910 BGB daher auch nicht einschränken.

Während der Anspruch des beeinträchtigten Eigentümers nach § 1004 BGB jedenfalls der Regelverjährung des § 195 BGB unterfällt (wobei es bei einem Überhang darauf ankommt, wann welcher Teil des überhängenden Astes gewachsen ist), unterliegt das Selbsthilferecht nach § 910 BGB keiner Verjährung (BGH, Urteil vom 22.02.2019 - V ZR 136/18 -).

Allerdings betrifft das Urteil des BGH vom 11.06.2021 - V ZR 234/19 - lediglich das Selbsthilferecht nach § 910 BGB. Der Ansatz des Landgerichts in der hier besprochenen Entscheidung ist auch unter Beachtung des Urteils des BGH zutreffend, da sich der BGH zur Begründung der fehlenden Verhältnismäßigkeits- und Zumutbarkeitsprüfung lediglich auf das unabhängig von den Nachbarrechten der Länder geltende Selbsthilferecht des § 910 BGB bezog, bei dem er keine Verjährungsproblematik sah. Dies lässt sich auch aus den Gründen des Urteils des BGH nicht auf den Anspruch aus § 1004 BGB übertragen. Für den Kläger in dem hier besprochenen Verfahren vor dem Landgericht bedeutet dies, dass er zwar von seinem Nachbarn keinen Rückschnitt beanspruchen kann, aber sehr wohl diesen nach § 910 BGB trotz der Gefährdung der Bäume selbst durchführen könnte.

LG Köln, Urteil vom 02.03.2023 - 6 S 27/20 -

Sonntag, 21. Mai 2023

Nachlasspflegschaft bei Vielzahl von (auch unbekannten) Erben gem. § 1961 BGB

Das OLG Brandenburg setzte sich mit den Hürden für eine von Nachlassgläubigern begehrte Nachlasspflegschaft auseinander, wenn diverse Erben unbekannt sind und diverse Erbausschlagungen von Miterben vorliegen. Denn eine unsichere Erbrechtslage nach § 1961 BGB könne nicht schon angenommen werden, wenn mehre Erben bekannt sind, die keinen Erbschein beantragt haben und auch untätig sind.

Die Antragstellerin begehrte als Nachlassgläubigern des Erblassers die Anordnung einer Nachlasspflegschaft zur Durchsetzung offener Darlehensforderungen. In Ansehung der komplexen Erbrechtslage (die nachverstorbene Ehefrau des Erblassers sei Miterbin geworden, weshalb deren unbekannte Erben nun auch zu berücksichtigen seien, neben den Abkömmlingen des Erblasers aus 1. Ehe, der auch nachverstorben sei, und en Abkömmlingen aus 2. Ehe, von denen zwei die Erbschaft ausgeschlagen hätten, der dritte die Ausschlagungsfrist versäumt habe und Erbe geworden sei; weiterhin sei ein Enkel Erbe geworden, da dessen Mutter die Einholung der Genehmigung für die Ausschlagung versäumt habe).

Das Amtsgericht wies den Antrag zurück. Dagegen wandte sich die Antragstellerin mit ihrer Beschwerde, der vom Amtsgericht nicht abgeholfen wurde und die nunmehr das Oberlandesgericht (OLG) rechtskräftig zurückwies.

Das OLG konstatierte, dass die Antragstellerin gemäß der Voraussetzung der § 1961 einen gegen den Nachlass gerichteten Anspruch geltend machte. Darüber hinaus sei aber eine unsichere Erbrechtslage erforderlich, § 1690 BGB. Der Erbe dürfe die Erbschaft noch nicht angenommen haben, die Annahme müsse ungewiss sein oder der Erbe müsse seiner Person nach unbekannt sein. Abzustellen sei auf die auch im Rahmen der Amtsermittlung erfolgte Überzeugungsbildung des Nachlassgerichts bzw. an seiner Stelle des Beschwerdegerichts, wobei auch im Fall des § 1961 BGB die besondere Situation des dem Erben fernstehenden Gläubigers zu berücksichtigen sei, dem die regelmäßig umfangreiche Nachforschung zur Beschaffung der erforderlichen Unterlagen zum Nachweis der Passivlegitimation des Erben nicht zugemutet werden könne.  Daraus schlussfolgerte das OLG, dass eine unsichere Erbrechtslage vorliege, wenn die maßgeblichen Verhältnisse in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht sehr weitläufig wären, weshalb dem Nachlassgläubiger nicht zugemutet werden könne, den Nachweis zur Erbenstellung zu erbringen. Das sei etwa der Fall, wenn alle potentiellen gesetzlichen und testamentarischen die Erbschaft ausgeschlagen hätten oder weder dem Nachlassgläubiger noch dem Nachlassgericht Erkenntnisse zur Person des Erben bekannt seien. Ausreichend für § 1961 BGB sei, dass beschaffbare Unterlagen zu keiner zweifelsfreien Würdigung der Erbrechtslage führen würden. Stehe mit hoher Wahrscheinlichkeit fest, wer Erbe sei, käme - auch wenn ein Erbschein nicht erteilt würde - eine Nachlasspflegschaft nicht in Betracht (in deren Rahmen der Nachlassgläubiger dann seinen Anspruch gegen den Nachlasspfleger als Vertreter des endgültigen Erben geltend machen kann).

Nach diesen vom OLG benannten Grundsätzen kann nach seiner Auffassung hier keine Nachlasspflegschaft abgeordnet werden. Dabei bezog sich das OLG auf ein anderes Verfahren, in dem die Erben des nachverstorbenen 2. Ehefrau des Erblassers bekannt waren und nach Erlass der hier streitigen Entscheidung des Nachlassgerichts bekannt wurde, dass eine dortige Miterbin die Erbschaft ausgeschlagen habe; ohne diese Feststellung wäre dem Antrag stattzugeben gewesen. Damit würden mit hoher Wahrscheinlichkeit alle Miterben feststehen.

Das OLG sah m Hinblick auf die nach Erlass der Entscheidung des Nachlassgerichts bekannt gewordene Erbausschlagung nach der 2. Ehefrau von einer Kostenauferlegung des Beschwerdeverfahrens aus Billigkeitsgründen ab. Die Entscheidung verdeutlicht aber, dass der Nachlassgläubiger vor der Beantragung einer Nachlasspflegschaft selbst tätig werden muss, um mögliche Erben festzustellen.

OLG Brandenburg, Beschluss vom 22.12.2022 - 3 W 84/22 -

Dienstag, 20. Dezember 2022

Umgangsrecht: Verspätete Übergabe des Kindes infolge Flugstornierung

Das Familiengericht hatte mit seinem Beschluss den Umgang zwischen Vater und dem nicht ganz vierjährigen Sohn für die Herbstferien 2021 so geregelt, dass der Vater die erste Woche mit ihm verbringt, die Übergabe an die Mutter am 17.10.2021 um 17.00 Uhr erfolgen sollte und die Mutter sodann die zweite Woche mit ihm verbringen sollte. Die Übergabe sollte, soweit sie nicht über die Kira erfolgt, von einer Umgangspflegerin begleitet werden.

 Der Vater flog mit dem Jungen nach Santiago de Compostela. Den Rückflug hatte er für den 17.10., 4:05 Uhr in Santiago de Compostela gebucht; der Flug sollte über Zürich nach Berlin-Brandenburg erfolgen sollen, mit Ankunft 8:45 Uhr. Beim Versuch des Eincheckens stellte er fest, dass dieser storniert wurde und informierte, die Umgangspflegerin, dass er am 18.10. den Ersatzpflug einer Tochtergesellschaft der Fluglinie nehme. Die Mutter ließ den Vater über die Umgangspflegerin ausrichten, sie sei damit nicht einverstanden, da sie auch eine Reise mit dem Sohn plane, und zwar nach Andalusien; die könne sie nur durchführen, wenn sie mit ihrem Sohn am 18.10. für den Flug einchecke. Es gäbe nach Internetrecherche z.B. auch genügend Flüge mit freien Plätzen, die der Kindsvater ersatzweise buchen könne. Dies tat der Vater nicht.

Das Familiengericht erließ auf Antrag der Mutter wegen Zuwiderhandlung gegen den Umgangsbeschluss gegen den Vater einen Ordnungsgeldbeschluss über ein Ordnungsgeld in Höhe von € 250,00, gegen den dieser sich wendet. Dabei wies er auf eine nach seiner Ansicht bestehende Unzumutbarkeit einer Umbuchung hin, die ihm - bei Verfall seines Flugtickets - rund € 600,00 gekostet haben würde. So habe er den Sohn der Mutter schließlich am 18.10. in Madrid übergeben, wobei ihm schon die Zugfahrt dorthin viel Geld gekostet habe.

Voraussetzung für die Verhängung des Ordnungsgeldes sei, dass der Vater die im familiengerichtlich angeordneten Umgangsbeschluss benannte Übergabe von ihm an die Mutter am 17.10. schuldhaft versäumt habe, § 89 Abs. 4 S. 1 FamFG. Verschulden erfordere ein vorsätzliches oder fahrlässiges Herbeiführen des Erfolgs der Zuwiderhandlung, § 276 Abs. 1 BGB.  Vorsatz oder Fahrlässigkeit. Fahrlässigkeit erfordere die Außerachtlassung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt, § 276 Abs. 2 BGB.

Nach § 89 Abs. 4 S. 1 FamFG würde ein Verschulden vermutet. Danach wäre es Sache des Vaters sich in Hinblick auf die Versäumung des Übergabetermins zu entasten. Er müsse mithin darlegen und beweisen, dass der Übergabetermin versäumt wurde, obwohl er die im Verkehr erforderliche Sorgfalt beachtet habe. Dies sei ihm nicht gelungen. Zwar könne ihm die Stornierung des zunächst gebuchten Fluges nicht vorgeworfen werden. Allerdings hätte er Vorkehrungen für mögliche Störungen beim Rückflug treffen müssen um zu verhindern, dass es zu der nicht ganz fernliegenden Möglichkeit der Versäumung des Rückgabetermins kommt, gerade da allgemein bekannt sei, dass es im Flugverkehr zu erheblichen Flugverschiebungen und -ausfällen käme. Es sei von daher auch anerkannt, dass selbst ein Streik bei einem verkehrsunternehmen den Umgangspflichtigen (der dadurch eine Rückreise und einen geregelten Umgangstermin versäume) nicht entlasten würde, sofern alternative Verbindungen noch bestünden (OLG Koblenz, Beschluss vom 03.06.2015 - 11 WF 415/15 -). Diese Alternativen hätten hier, wie von der Mutter aufgezeigt, bestanden.

Nicht gehört werden könne der Vater damit, die Alternative (den gebuchten Flug verfallen lassen und einen kostenpflichtigen Ersatzflug zu nehmen) sei unzumutbar. Die „Gefahrenlage“, dass er den geregelten Übergabetermin nicht einhalten kann, habe er selbst geschaffen, da er nicht sichergestellt habe, jedenfalls rechtzeitig zu dem Termin zurück zu sein. Sicherungsvorkehrungen seien auch dann zu treffen, wenn diese mit Kosten, Unannehmlichkeiten oder Zeitverlust verbunden wären (BGH, Urteil vom 27.11.1952 - VI ZR 25/52 -).

Kammergericht, Beschluss vom 22.06.2022 - 16 WF 29/22 -

Donnerstag, 11. November 2021

Verdienstausfall als Schadensersatz nach Unfall, Zumutbarkeit der Behandlung und Darlegungs- und Beweislast

Der bereits vorgeschädigte Kläger (GdB 60%) zog sich bei einem von dem Versicherungsnehmer der beklagten Haftpflichtversicherung am 08.08.2004 alleine verursachten und verschuldeten Verkehrsunfall Frakturen, Prellungen und Quetschungen zu. Zwischen den Parteien ist die volle Einstandsverpflichtung der Beklagten für die materiellen und immateriellen Schäden des Klägers aus dem Unfall unstreitig.

Nach der unfallbedingten stationären Behandlung war der Kläger über längere Zeit auf einen Rollstuhl und die Hilfe seiner berufstätigen Frau angewiesen. Nach Behauptung des Klägers sei es unfallbedingt  zu Depressionen gekommen und er habe einen Selbstmordversuch gemacht. 2005 habe er seine Tätigkeit bei in der Folgezeit sich entwickelnden psychosomatischen Beschwerden wieder aufgenommen, bis es bedingt durch die Beschwerden zur Arbeitsunfähigkeit ab Anfang 2007 gekommen sei. Schließlich bekam er eine befristete Rente wegen voller Erwerbsminderung, die nach einmaliger Verlängerung zu einer unbefristeten Erwerbsminderungsrente führte. Mit der Klage machte der Kläger seinen Verdienstausfallschaden geltend.

Das Landgericht hatte der Klage im Wesentlichen stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagte wurde das Urteil abgeändert und die Klage teilwiese abgewiesen. Das Oberlandesgericht stellte darauf ab, dass eine Anspruchskürzung wegen fehlender ärztlicher Behandlung der Depression zu erfolgen habe (zunächst um 50%, später mit 75%). Der Kläger verfolgte mit der zugelassenen Revision sein ursprüngliches Zahlungs- und Feststellungsbegehren weiter.

Der BGH bestätigte, dass ein Verstoß gegen die Schadensminderungspflicht des § 254 Abs. 2 S. 1 BGB  führe zu einer Anspruchskürzung führe. Danach müsse es der Geschädigte schuldhaft unterlassen haben, einen Schaden abzuwenden oder zu mindern. Es handele sich dabei um eine Verletzung einer im eigenen Interesse bestehenden Obliegenheit. Eine Obliegenheitsverletzung verlange, dass der Geschädigte unter Verstoß gegen Treu und Glauben Maßnahmen unterlassen würde, die ein ordentlicher und verständiger Mensch in seiner Position zur Schadensabwehr oder -minderung ergreifen würde. Danach obliege es dem Geschädigten bei einer seine Arbeitskraft beeinträchtigenden Verletzung als Ausfluss der Schadensminderungspflicht im Verhältnis zum Schädiger, seine verbliebene Arbeitskraft im zumutbaren Ramen so nutzbringend wie möglich zu verwerten (BGH, Urteil vom 26.09.2006 - VI ZR 124/05 -).

Wenn die Arbeitskraft durch zumutbare Maßnahmen wiederhergestellt oder verbessert werden könne, würde es sich um eine vorgeschaltete Obliegenheit zur Schadensminderung darstellen, diese Maßnahmen zu ergreifen (BGH, Urteil vom 04.11.1986 - VI ZR 12/86 -).  Der Geschädigte dürfe nicht anders handeln, als ein verständiger Mensch, der bei gleicher Gesundheitsstörung die Vermögensnachteile selbst zu tragen habe.  

Die zur (jedenfalls teilweisen) Wiedererlangung der Arbeitskraft müssen dem Geschädigten zumutbar sein. Dazu gehöre auch eine Operation, wenn sie einfach und gefahrlos und nicht mit besonderen Schmerzen verbunden sei und die sichere Aussicht auf Heilung oder wesentliche Besserung biete (BGH, Urteil vom 15.03.1994 - VI ZR 44/93 -). Danach sei für eine stationäre psychiatrische oder mit belastenden Nebenwirkungen behaftete medikamentöse Behandlung die sichere Aussicht auf Heilung oder wesentliche Besserung Voraussetzung.

Im Hinblick auf einen Verdienstausfallschaden sei eine Zumutbarkeit nur anzunehmen, wenn die Verbesserung der Gesundheit zur Wiederherstellung bzw. Verbesserung der Arbeitskraft führe. Dass wiederum würde voraussetzen, dass überhaupt eine Aussicht auf eine erfolgreiche berufliche Tätigkeit (ggf. nach zumutbaren Umschulungs- oder Weiterbildungsmaßnahmen) vorläge, er also die widergewonnene Arbeitskraft gewinnbringend einzusetzen. Für entsprechende Feststellungen müsse der Tatrichter den mutmaßlichen Erfolg anhand der (damaligen, also zum Zeitpunkt einer Unterlassung) Lage am Arbeitsmarkt beurteilen.

Verstoße der Geschädigte gegen die ihm danach obliegende Schadensminderungspflicht, seien die erzielbare fiktiven Einkünfte auf den Schaden anzurechnen. Eine quotenmäßige Kürzung komme nicht in Betracht, da die Höhe des Schadens nicht von einer Quote abhänge, sondern davon, welches Einkommen vom Geschädigten in der konkreten Situation unter Berücksichtigung aller Umstände in zumutbarer Weise verdienen könnte.

Vorliegend habe sich das Berufungsgericht nicht mit der vom Kläger bestrittenen Therapiefähigkeit auseinandergesetzt habe. Sollte die Verweigerung oder Verzögerung einer indizierten Therapie eine typische Folge der unfallbedingten psychischen Erkrankung sein, scheide eine Obliegenheitspflichtverletzung aus.

Auch habe das Berufungsgericht die konkreten therapeutischen Maßnahmen nicht ermittelt, da neben der Erfolgsaussicht auch beurteilt werden müsse, welche Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit hingenommen werden sollen und ob diese zu den Erfolgsaussichten angemessen seien.

Auch müsse der Tatrichter entscheiden , ob eine Obliegenheitspflichtverletzung entfalle, wenn – wie hier vom Kläger behauptet – der Amtsarzt in 2008 den Rentenantrag empfohlen habe, die Fachärztin für psychotherapeutische Medizin 2012 eine unverändert fehlende Belastbarkeit festgestellt und eine Besserung ausgeschlossen habe und dies von der Ärztin der Rentenversicherung 2012 bestätigt worden sei.

Verfehlt sei zudem, dass das Berufungsgericht nach sachverständiger Beratung aus einem Erfolg der Behandlung der rezidivierenden depressiven Störungen unmittelbar auf Verdienstmöglichkeiten des Klägers in Höhe seines entgangenen Verdienstes geschlossen habe. Es fehle die Prüfung, ob der Kläger überhaupt, ggf. in welchem Umfang die Möglichkeit gehabt hätte, seine verbliebene bzw. neu gewonnene Arbeitskraft am Arbeitsmarkt gewinnbringend einzusetzen. Die fiktiven Einnahmen seien vom Berufungsgericht fehlerhaft nicht ermittelt worden.

Zur Darlegungs- und Beweislast wies der BGH darauf hin, dass diese grundsätzlich der Schädiger trage; er müsse darlegen und beweisen, dass es dem Geschädigten möglich und zumutbar gewesen sei, seine Krankheit zu behandeln und seine Arbeitskraft gewinnbringend anzusetzen. Allerdings obliege dem Geschädigten insoweit eine sekundäre Darlegungslast, was bedeutet, dass er darlegen müsse, was er unternommen habe, um seine Gesundheit zu verbessern und Arbeit zu finden bzw. was dagegen stehen würde.

Da die notwendigen Ermittlungen durch das Berufungsgericht fehlten, konnte der BGH in der Sache nicht selbst entscheiden und hob das Urteil unter Zurückverweisung an das Berufungsgericht zur erneuten Entscheidung auf.

BGH, Urteil vom 21.09.2021 - VI ZR 91/19 -