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Mittwoch, 15. Februar 2023

Richtgeschwindigkeitsüberschreitung begründet Berücksichtigung der Betriebsgefahr

Der Beklagte fuhr mit einer Geschwindigkeit von ca. 200 lm/h auf der linken Fahrspur der Autobahn. Auf der linken Fahrspur kollidierte die Klägerin mit ihrem Pkw, mit dem sie mit einer Geschwindigkeit zwischen ca. 120 - 140 km/h fuhr, mit dem Fahrzeug des Beklagten. Nach der Darlegung der Klägerin will sie von der rechten auf die linke Fahrspur gewechselt haben, um ein anders Fahrzeug zu überholen; vor der Kollision sei sie bereits Sekunden auf die linke Fahrspur aufgefahren gewesen. Demgegenüber wurde vom Beklagten behauptet, die Klägerin sei unmittelbar vor ihm auf die linke Fahrspur gewechselt.

Mit ihrer Klage auf Ersatz von 100% Schadensersatz drang die Klägerin nicht durch. Das Landgericht gab der Klage mit einer Quote von 10% statt und verwies darauf, sie habe die in verkehrsgefährdender Weise die Spur gewechselt und damit gegen § 7 Abs. 5 S. 1 StVO verstoßen. Im Berufungsverfahren verfolgte die Klägerin weiterhin ihr Ziel einer alleinigen Haftung des Beklagten. Der Erfolg der Klägerin war eher bescheiden: Das OLG ging von einer Haftung der Klägerin von 75%, des Beklagten von 25% aus.

Das OLG stellet zutreffend auf § 17 Abs. 1 StVG ab: Inwieweit wurde der Schaden vorwiegend von dem einen oder andern teil verursacht. Bei der Abwägung der Verursachungs- und Verschuldensanteile der Beteiligten dürften nur die von den Fahrzeugen ausgehende Betriebsgefahr nur unstreitige bzw. zugestandene oder nachgewiesene Umstände Berücksichtigung finden, wobei jeder beteiliget Fahrzeughalter die Umstände zu beweisen habe, die dem anderen zum Verschulden gereichen und aus denen er für die nach § 17 Abs.1, Abs. 2 StVG vorzunehmende Abwägung für sich günstige Rechtsfolgen herleiten will (allgemeine Meinung, vgl. auch BGH, Urteil vom 13.02.1996 - VI ZR 126/95 -).

Der Wertung des Landgerichts sei zu folgen, dass die Klägerin die die überwiegende Ursache für den Unfall gesetzt habe. Sie habe gegen § 7 Abs. 5 S. 1 StVO verstoßen, wonach ein Fahrstreifenwechsel nur erfolgen darf, wenn eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen sei. Käme es, wie hier, im unmittelbaren örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem Fahrspurwechsel zu einem Unfall, spreche gegen den Fahrspurwechsler der Beweis des ersten Anscheins, dass die gebotene besondere Sorgfaltsanforderung unbeachtet blieb.

Das OLG lässt erkennen, dass damit grundsätzlich die vom gegnerischen Fahrzeug (hier dem Pkw des Beklagten) ausgehende Betriebsgefahr angesichts des groben Verstoßes gegen § 7 Abs. 5 StVO zurücktreten könnte, was dann zur alleinigen Haftung der Klägerin führen würde. Allerdings nahm das OLG hier eine Abweichung in Ansehung der mit ca. 200 km/h über 130 km/h liegenden Geschwindigkeit an, was zur Berücksichtigung der vom Beklagtenfahrzeug ausgehenden Betriebsgefahr führe.

Nach § 1 der Verordnung über eine allgemeine Richtgeschwindigkeit auf Autobahnen und ähnlichen Straßen (Autobahn-Richtgeschwindigkeit-V) wird „empfohlen, auch bei günstigen Straßen-, Sicht- und Wetterverhältnissen“ auf den entsprechenden Straßen nicht schneller als 130 km/h zu fahren, soweit nicht anderweitige Höchstgeschwindigkeiten vorgegeben sind. Da, so das OLG, die höhere Geschwindigkeit in haftungsrelevanter Weise die Gefahr erhöhe, dass sich andere Verkehrsteilnehmer auf diese Fahrweise nicht einstellen würden und insbesondere die Geschwindigkeit unterschätzen würden, sei die deutlich über 130 km/h liegende Geschwindigkeit betriebsgefahrerhöhend zu berücksichtigen. Bei einer Überschreitung der Richtgeschwindigkeit um mehr als 30 km/h würde damit die Betriebsgefahr im Regelfall nicht mehr zurücktreten (so auch OLG Hamm, Urteil vom 25.11.2010 - 6 U 71/10 -).

Soweit hier das Landgericht insoweit eine Mithaftung des Beklagten aus dem Gesichtspunkt der Betriebsgefahr von 10% angenommen habe, habe es die deutliche Überschreitung der Richtgeschwindigkeit um 70 km/h nicht ausreichend berücksichtigt. Diese Überschreitung rechtfertige eine Mithaftung aus dem Gesichtspunkt der Betriebsgefahr von 25%.

Hinweis: Die Berücksichtigungsfähigkeit der Betriebsgefahr bei Überschreitung der Richtgeschwindigkeit hatte der BGH bereits in seinem Urteil vom 17.03.1992 - VI ZR 92/91 - bejaht und ausgeführt, auf eine Unabwendbarkeit des Unfalls nach § 17 Abs. 3 StVG könne sich in diesem Fall der Halter eines Fahrzeuges nur berufen, wenn er darlege und nachweisen würde, dass es auch bei einer Geschwindigkeit von 130 km/h zu dem Unfall mit vergleichbar schweren Folgen gekommen wäre.

Schleswig-Holsteinisches OLG, Urteil vom 15.11.2022 - 7 U 41/22 -

Donnerstag, 19. Mai 2022

Sorgfaltsanforderungen: Einfahrer (§ 10 S. 1 StVO) zu Spurwechsler (§ 7 Abs. 5 StVO)

Der klägerische Kleintransporter stand zunächst in einer längs zur Fahrbahn angeordneten Parkbucht auf der rechten Seite der in Fahrtrichtung zweispurig verlaufenden Straße. Die Beklagte fuhr mit ihrem Pkw von der linken auf die rechte Fahrspur. Als sie dies bereits zur Hälfte vollzogen hatte, stieß sie mit dem ausparkenden Fahrzeug der Klägerin zusammen. Amts- und Landgericht haben der Klage nach Maßgabe einer 50%-igen Regulierung stattgegeben. Dabei nahmen sie einen Verstoß der Klägerin gegen § 10 S. 1 StVO, bei der Beklagten gegen § 7 Abs. 5 StVO an.

Der BGH hob das Urteil auf die Berufung der Beklagten, soweit zu deren Nachteil entschieden worden sei, auf und verwies den Rechtsstreit zurück an das Berufungsgericht.

Die Haftungsverteilung nach § 17 StVG sei (ähnlich dem Mietverschulden nach § 254 BGB) Sache des Tatrichters und im Revisionsverfahren käme nur eine Prüfung in Betracht, ob alle maßgeblichen Umstände erfasst und richtig berücksichtigt worden seien. Das Verschulden sei dabei ein Kriterium. Diesbezüglich könne die Entscheidung keinen Bestand haben.

Das Berufungsgericht habe zutreffend einen Verstoß der Klägerin gegen § 10 S. 1 StVO angenommen. Die Klägerin wollte aus einer Parkbucht auf die Fahrbahn einfahren, wobei sie sich so zu verhalten, habe, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Dieses Vorrecht gelte für alle auf der Fahrbahn fahrenden Fahrzeuge, unabhängig davon, auf welcher Fahrspur sie sich befänden.

Die weitere Annahme des Berufungsgerichts, die Beklagte haben gegen § 7 Abs. 5 S. 1 StVO verstoßen, sei allerdings verfehlt. Der hier vorgenommene Fahrspurwechsel sei danach nur erlaubt, wenn eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen sei. Die Norm diene dem Schutz des fließenden Verkehrs. Damit sei mit „anderer Verkehrsteilnehmer“ iSv. § 7 Abs. 5 StVO nur ein Verkehrsteilnehmer gemeint, der auch am fließenden Verkehr teilnehme (wofür auch die Entstehungsgeschichte als auch die systematische Stellung der Norm sprächen). Würden dem Fahrstreifenwechsler gegenüber allen (also auch Einfahrenden) dieselben Sorgfaltsanforderungen treffen wie sie der Einfahrende zu wahren hat, stünden sich gleichartige Sorgfaltsanforderungen gegenüber. Da aber mit § 10 StVO dem fließenden Verehr Vorrang gewährt werden soll, würde dies im Widerspruch dazu stehen. Der Vorrang des fließenden Verkehrs würde sogar mit der besonderen Sorgfaltsanforderung des Einfahrenden begründet (Begründung zur VO zur Änderung der StVO vom 21.07.1980 zu Nr. 1e, VkBl 1980, 511, 515).

Der BGH grenzte hier seine Entscheidung zu seiner Entscheidung vom 15.05.2018 - VI ZR 231/17 - ab, in der er bei einem Zusammentreffen von § 9 Abs. 5 und 10S. 1 StVO gerade keinen Vorrang annahm. In dem Fall hätte sich nach den Normen keiner der Unfallbeteiligten auf einen Vorrang berufen können. Hier aber sei dies der Fall, der der Fahrstreifenwechsel iSv. § 7 Abs. 5 StVO selbst Teil des fließenden Verkehrs sei. Zu beachten sei aber hier von dem Kraftfahrer, der das Vorrecht nach § 7 Abs. 5 StVO habe, § 1 Abs. 2 StVO (Rücksichtnahme). So müsse er auf eine erkennbar bevorstehende Vorrangverletzung reagieren, ein Erzwingen der bevorrechtigten Weiterfahrt sei unstatthaft (§ 11 Abs. 3 StVO). Da es an Feststellungen dazu fehlte, war der Rechtsstreit zurückzuverweisen.

BGH, Urteil vom 08.03.2022 - VI ZR 1308/20 -

Samstag, 27. März 2021

Sorgfaltswidriger Fahrspurwechsel (Verstoß gegen § 7 Abs. 5 StVO) verdrängt Betriebsgefahr des anderen Fahrzeugs

Nach den Feststellungen (durch Unfallrekonstruktionsgutachten) verließ der Beklagte mit seinem Fahrzeug den linken Fahrstreifen um auf den rechts daneben befindlichen Fahrstreifen, auf dem der Kläger fuhr, aufzufahren. Dies würde nach Ansicht des Kammergerichts (KG) die alleinige Haftung des Beklagten begründen.

Der Beklagte habe einen Fahrstreifenwechsel vorgenommen bzw. mit seinem solchen begonnen. Damit sei für die Anforderungen an einen solchen auf § 7 Abs. 5 StVO abzustellen. Die Norm lautet:

„In allen Fällen darf ein Fahrstreifen nur gewechselt werden, wenn eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. 2Jeder Fahrstreifenwechsel ist rechtzeitig und deutlich anzukündigen; dabei sind die Fahrtrichtungsanzeiger zu benutzen.“

§ 7 Abs. 5 StVO verlange mithin bei einem Fahrstreifenwechsel die Einhaltung der  äußersten Sorgfalt, damit eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Mithin würde eine ausreichende Rückschau verlangt und die Ankündigung des Fahrstreifenwechsels durch rechtzeitiges Setzen des Fahrtrichtungsanzeigers. Ereigne sich wie hier ein Unfall im zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit dem Fahrstreifenwechsel spräche der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass derjenige, der den Spurwechsel vornimmt, den Unfall durch Verstoß gegen diese Pflichten schuldhaft verursachte (KG, Urteil vom 02.10.2003 - 12 U 53/02 -; OLG München, Urteil vom 05.12.2014 - 10 U 323/14 -). Dabei käme es nicht darauf an, ob der Fahrstreifenwechsel bereits vollständig vollzogen sei, da der die Sorgfaltsanforderung mit dem Verlassen des (ggf. auch markierten) Fahrstreifens beginne (OLG Düsseldorf, Urteil vom 21.06.2016 - I-1 U 158/15 -). Vorliegend habe der Beklagte seinen Fahrstreifen zumindest mit dem rechten Vorderrad und dem vorderen Teil seines Fahrzeugs verlassen. Der sich aus dem begonnene Fahrstreifenwechsel ergebende Anscheinsbeweis sei auch vom Beklagten nicht widerlegt worden.

Derjenige, der unter Verstoß an das Sorgfaltsgebot einen Fahrstreifenwechsel vornehme, hafte in Ansehung der in § 7 Abs. 5 StVO normierten zu beachtenden höchstmöglichen Sorgfalt in der Regel alleine. Eine Mithaftung des anderen Unfallbeteiligten alleine aus der Betriebsgefahr seines Fahrzeugs (§ 7 StVG) trete zurück. Derjenige, der den Fahrstreifenwechsel vornehme, müsse Anhaltspunkte für eine Mithaftung des anderen Beteiligten aufgrund gefahrerhöhender Umstände, insbesondere eines Verkehrsverstoßes, darlegen und beweisen. Dies sei vorliegend nicht erfolgt. Der Gutachter habe überzeugend dargelegt, dass der Kläger angesichts der kurzen ihm zur Verfügung stehenden Reaktionszeit den Unfall nicht habe vermeiden können.

Kammergericht, Urteil vom 10.02.2021 - 25 U 160/19 -

Mittwoch, 20. Februar 2019

Verkehrsunfall: Missachtung des Linksabbiegegebots und Kollision mit Spurwechsler


Der streitbefangene Verkehrsunfall ereignete sich hinter einer ampelgesteuerten Kreuzung. Die Klägerin befuhr die rechte Fahrspur, von der aus nach den Richtpfeilen ein Weiterfahren geradeaus und nach rechts erlaubt war, der  Beklagte die linke Fahrspur, von der aus nach dem Richtungspfeil ein Weiterfahren nach Links erlaubt war. Hinter der Kreuzung (bei Geradeausfahrt) verliefen zwei Fahrspuren, wobei die rechte der beiden Fahrspuren nach kurzer Strecke in die linke Fahrspur übergeleitet wurde.

Nachdem die Ampel auf Grün umgeschaltet hatte, fuhr die Klägerin geradeaus weiter um dann hinter der Kreuzung nach setzen des linken Fahrtrichtungsanzeigers auf die linke der dortigen zwei Fahrspuren zu wechseln. Der Beklagte fuhr allerdings ebenfalls (entgegen der Richtungsmarkierung) auch geradeaus weiter und hinter der Kreuzung direkt auf die linke der zwei Fahrspuren. Bei dem Spurwechsel der Klägerin kam es im hinteren linken Bereich des klägerischen PKW zu einer Kollision der Fahrzeuge.

Das Amtsgericht hatte die Klage abgewiesen. Das Landgericht nahm eine eigene Haftung der Klägerin mit 2/3, des Beklagten mit 1/3 an.

Es sei eine Haftungsabwägung vorzunehmen. Dabei müsse Berücksichtigung finden, dass sich die Klägerin bei dem Fahrspurwechsel hinter der Kreuzung nicht nach hinten vergewissert habe, dort keinen Verkehrsteilnehmer zu gefährden. Allerdings sei auch zu berücksichtigen, dass dem Beklagten ein Verstoß gegen § 41 StVO iVm. Zeichen 209, 297 (Pfeilmarkierungen) zur Last zu legen sei. Für ihn sei danach lediglich von der linken Fahrspur aus ein Linksabbiegen erlaubt gewesen, keine Geradeausfahrt. Die Klägerin habe grundsätzlich auch davon ausgehen dürfen, dass der Beklagte nach links abbiegen würde und nicht geradeaus auf die linke Fahrspur weiterfahren würde (LG Gießen, Beschluss vom 09.10.2013 - 1 S 198/13 -). Entgegen der Annahme des Amtsgerichts käme es auch nicht darauf an, dass wegen des zweispurigen Ausbaus im Bereich der Unfallstelle stets mit Verkehr auch auf der linken Fahrspur zu rechnen sei, da die Kreuzung mittels Ampelschaltung gesichert gewesen sei und bei der Grünschaltung lediglich von der rechten Fahrspur aus Fahrzeuge in Geradeausfahrt auf die Fahrspuren hinter der Kreuzung zulässig gelangen konnten, weshalb hier die Klägerin nicht habe damit rechnen müssen, dass sich im Bereich des Unfallstelle bereits ein Fahrzeug auf der linken Fahrspur befände. Damit habe die verbotswidrige Geradeausfahrt des Beklagten zu zeitlich und örtlich zu dem Verkehrsunfall beigetragen.

Bei der Abwägung sei zu berücksichtigen, dass der Verstoß der Klägerin gegen die Rückschaupflicht vor dem Fahrspurwechsel schwer wiege. Zu Lasten des Beklagten sei aber zu berücksichtigen, dass dieser die deutlich erkennbare Fahrbahnmarkierung missachtet habe. Das führe zu der Haftungsverteilung von 1/3 zu 2/3 zu Lasten der Klägerin.

LG Saarbrücken, Urteil vom 02.11.2018 - 13 S 122/18 -