Montag, 19. April 2021

Die nachträglich vereinbarte Zwischenfrist und das daraus abgeleitete Kündigungsrecht des Bauvertrages

Nach Abschluss eines VOB-Bauvertrages koordinierte der Auftraggeber (Beklagter) im Rahmen einer Baubesprechung die Arbeiten der verschiedenen Gewerke und legte u.a. fest, dass die Klägerin bis zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Dachrandsicherung fertigzustellen und ein Gerüst aufzustellen habe. Dies war erforderlich, damit ein Drittunternehmer notwendige Arbeiten vornehmen konnte. Die Klägerin wurde allerdings nicht fristgerecht fertig. Der Beklagte setzte ihr eine Nachfrist und drohte für den Fall der Nichteinhaltung die Kündigung an; nach fruchtlosen Ablauf der gesetzten Frist kündigte er.

§ 5 Abs. 1 S. 2 VOB/B bestimmt, dass in einem Bauzeitenplan enthaltene Fristen nur dann als Vertragsfristen gelten, wenn dies im Vertrag ausdrücklich vereinbart wird. Im Übrigen handelt es sich um Kontrollfristen und dienen letztlich der Prüfung, ob der Auftragnehmer seiner Baustellenförderungspflicht nach § 5 Abs. 3 VOB/B nachkommt. Das Überschreiten der Frist würde nicht einen Verzug begründen. Vor diesem Hintergrund stellte sich die Frage, ob die im Rahmen einer Baubesprechung getroffene Terminabsprache auch als unverbindlich anzusehen ist oder bei Fristüberschreitung einen Verzug begründen konnte. Vom OLG wurde darauf verwiesen, dass es nicht erforderlich sei, dass die Frist als Vertragsfrist bezeichnet wird, wenn sich aus den Umständen eine entsprechende Auslegung klar ergibt. Ergibt sich dies, kommen die Rechtsfolgen des § 5 Abs. 4 VOB/B in Betracht, u.a. bei Verzug mit der Vollendung und Ablauf einer Nachfrist die Vertragskündigung. Zwar würde diese Regelung nicht auf eine Einzelfrist wirken, doch käme (auch bei Allgemeinen Geschäftsbedingungen wie den VOB/B) eine ergänzende Vertragsauslegung in Betracht. Das führe dazu, dass die Parteien hier die Einzelfrist in Ansehung der unabdingbaren Vorarbeit für ein Drittgewerk einen Schadensersatzanspruch wegen Verzugs mit dieser Einzelfrist als Vertragsfrist und ein Kündigungsrecht vorgesehen hätten.

Das OLG sieht es aber auch als möglich an, ohne eine ergänzende Vertragsauslegung das Kündigungsrecht zu bejahen. So könne nach § 648a BGB aus wichtigem Grund gekündigt werden, wenn dem Auftraggeber die Fortsetzung des Vertrages unter Berücksichtigung der beiderseitigen Interessen bis zur Fertigstellung des Werkes nicht zugemutet werden könne. Das sei zu bejahen, wenn eine Vertragspflichtverletzung von erheblicher Bedeutung vorliege, was entsprechend auch für Einzelfristen gelte. Da der Arbeitsfortschritt auf der Baustelle von der Einhaltung der vereinbarten Zwischenfrist abhänge, sei dem Beklagten nach Ablauf der Frist und der gesetzten Nachfrist ein weiteres Festhalten am Vertrag nicht zumutbar gewesen.

Auch wäre eine Kündigung nach § 5 Abs. 4 VOB/B (ohne o.g. Vertragsauslegung) möglich, wenn die Ausführungsfrist als solche infolge der Verzögerung (des Verzuges) offenbar nicht eingehalten werden könne. Das Fehlen der Dachrandsicherung und des Gerüsts stelle sich als Fehlen von Verpflichtungen nach § 5 Abs. 3 VOB/B dar (wie Geräte, Gerüste, Bauteile). § 5 Abs. 4 VOB/B fordere hier von dem Auftragnehmer, auf verlangen Abhilfe zu leisten. Es bedürfe also in diesem Fall zuerst des Verlangens und danach der schuldhaften Verletzung der Abhilfepflicht. Erst wenn dies geschehen sei, könne der Auftraggeber eine angemessene Frist zur Vertragserfüllung mit Kündigungsandrohung setzen. Dies sei im konkreten Fall entsprechend erfolgt.

Die Kündigung war damit wegen Verzugs und Ablaufs der Nachfristsetzung zulässig gewesen.

Mit der Entscheidung verdeutlichte das OLG die vertragliche Bedeutung von Vereinbarungen im Rahmen von Baubesprechungen, bei denen sich die Beteiligten über die Bedeutung und Tragweite im Klaren sein sollten.

OLG Stuttgart, Urteil vom 01.12.2020 - 10 U 124/20 -

Donnerstag, 15. April 2021

Nachbarlicher Ausgleichsanspruch in WEG nicht gegen Sondereigentümer bei Ursache durch Mieter

Die Klägerin war Gebäudeversicherer eines Gastronomen, der in dem aus zwei Einheiten bestehenden Haus (aufgeteilt nach WEG) in einer Einheit einen Gastronomiebetrieb unterhielt. Bei der weiteren Einheit handelte es sich um eine Zahnarztpraxis, deren Sondereigentümer der Beklagte war, der diese vermietet hatte. In der Zahnarztpraxis brach in der Nacht vom 20. auf den 21.12.2009 bei -20° C eine Kaltwasserleitung, die von den früheren Bruchteilseigentümern (dem Vater des Gastronomen und dem Beklagten) vor Begründung der WEG in einem Podest lose verlegt war und zu einem Zahnarztstuhl führte. Es entstand in der gastronomischen Einheit ein Wasserschaden, den die Klägerin regulierte. Sie machte aus übergegangenen Recht (§ 86 VVG) den Aufwand für die Schadensbeseitigung von € 73.137,40 als nachbarlichen Ausgleichsanspruch geltend.

Das Amtsgericht gab der Klage statt. Die Berufung des Beklagten wurde vom Landgericht zurückgewiesen. Auf die zugelassene Revision wurde das Urteil aufgehoben und der Rechtstreit an das Landgericht zurückverwiesen.

Entscheidend war für die Zuerkennung der Forderung, ob es sich hier für den Versicherungsnehmer der Klägerin um einen nachbarrechtlichen Ausgleichsanspruch handelt. Ein verschuldensunabhängiger nachbarrechtlicher Ausgleichsanspruch soll nach der ständigen Rechtsprechung des BGH  vorliegen, wenn von einem Grundstück im Rahmen privatwirtschaftlicher Benutzung rechtswidrige Einwirkungen auf ein anderes Grundstück ausgehen, die der Eigentümer oder Besitzer des anderen Grundstücks nicht dulden muss, allerdings aus besonderen Gründen nicht gemäß §§ 1004 Abs. 1, 862 Abs. 1 BGB unterbinden kann, sofern er hierdurch Nachteile erleidet, die das zumutbare Maß entschädigungslos hinzunehmender Beeinträchtigung übersteigen. Erfasst würden auch sogen. Grobimmissionen wie Wasser. Ob der Anwendungsbereich des § 2 HPflG (Haftung für Rohrleitungsanlage) eröffnet sei, sei nicht entscheidend, da sich die Ansprüche nicht gegenseitig ausschließen würden.

Der nachbarrechtliche Ausgleichsanspruch nach § 906 Abs. 2 S. 2 BGB käme auch dann in Betracht, wenn die Nutzung von Sondereigentum durch rechtswidrige Einwirklungen beeinträchtigt würde, die vom Sondereigentum eines anderen Wohnungseigentümers ausgehe. Dies allerdings dann nicht, wenn das Sondereigentum durch einen Mangel am Gemeinschaftseigentum beeinträchtigt würde. Vorliegend gehöre aber die zum Zahnarztstuhl führende Leitung nicht zum Gemeinschaftseigentum, da die ausschließlich die zweckentsprechende Nutzung der Zahnarztpraxis ermögliche und daher die maßgeblichen Voraussetzungen des § 5 Abs. 2 WEG für Gemeinschaftseigentum nicht vorlägen. Damit stünde fest, dass die Einwirkung von dem im Sondereigentum des Beklagten stehenden Räumen ausgingen.

Entscheidend sei daher, ob der Beklagte Störer sei. Dies aber ließe sich nach der Entscheidung des Landgerichts nicht beurteilen. Die Störereigenschaft würde nicht alleine aus dem Eigentum oder Besitz an dem Grundstück folgen, von dem die Beeinträchtigung ausgehe. Sie müsse auch mittelbar auf den Willen des Eigentümers bzw. Besitzers zurückgehen. Entscheidend für diese Feststellung sei, ob es sachliche Gründe gebe, dem Eigentümer oder Besitzer die Verantwortung für ein Geschehen aufzuerlegen. Die sei dann zu bejahen, wenn sich für diese eine Pflicht zur Verhinderung möglicher Beeinträchtigungen ergäbe. Dabei handele es sich nicht um eine Sorgfaltspflicht im schuldrechtlichen Sinne, sondern um eine wertende Betrachtung ob hier eine Zurechnung für den störenden Zustand angenommen werden könne. Kriterien seien dabei u.a. Veranlassung, Gefahrenbeherrschung oder die Vorteilsziehung.  Beispielhaft wird für eine solche bejahende Wertung vom BGH auf den Fall verwiesen, dass Wasser infolge Rohrbuchs auf das Nachbargrundstück gelangt oder ein haus infolge eines technischen Defekts seiner elektrischen Geräte/Leitungen in Brand gerate. Diese Störungen würden kein allgemeines Risiko begründen, welches sich (wie z.B. bei einem Blitzschlag) ebenso gut bei dem Haus des Nachbarn hätte verwirklichen können, weshalb auch nur der jeweilige Grundstückseigentümer darauf Einfluss nehmen könne.

Allerdings sei hier zusätzlich die eingeschränkte Verantwortlichkeit des Eigentümers für Handlungen seines Mieters zu beachten. Sollte schadensursächlich ein fehlendes Beheizen gewesen sein (wie beklagtenseits behauptet), wäre der Beklagte nicht verantwortlich. Eine Haftung des Beklagten als mittelbarer Handlungsstörer käme nicht in Betracht. Der Eigentümer könne für Handlungen seines Mieters als mittelbarer Handlungsstörer nur verantwortlich gemacht werden, wenn er dem Mieter den Gebrauch einer Sache mit der Erlaubnis zu störenden Handlungen überlassen hätte oder es unterließe, ihn von einem fremdes Eigentum beeinträchtigenden Gebrauch abzuhalten. Ein Vermieter müsse ohne besondere Anhaltspunkte nicht davon ausgehen, dass ein Mieter bei strengen Frost die Mieträume nicht beheizt.

Gleichfalls wäre der Beklagte als Eigentümer nicht Zustandsstörer. Geht der Schaden zwar von einem in seinem Eigentum stehenden Bauteil oder Gerät (hier die Kaltwasserleitung) aus, ist die Ursache aber allein auf ein fahrlässiges oder vorsätzliches Handeln des Mieters zurückzuführen, ist der Vermieter nur dann Zustandsstörer, wenn die Beschaffenheit des Bauteils bzw. Gerätes nicht ordnungsgemäß war und für den Schaden mitursächlich gewesen sein könnte. Denn lediglich in diesem Fall hätte auch ein Abwehranspruch gegen ihn bestanden, der (mangels Kenntnis) nicht hätte durchgesetzt werden können und damit den nachbarrechtlichen Ausgleichsanspruch begründet.

BGH, Urteil vom 18.12.2020 - V ZR 193/19 -

Samstag, 10. April 2021

Grenzen der Naturalrestitution bei Schadensersatz

Die Klägerin verlangte Schadensersatz für die Beschädigung von 7 Bürostühlen durch den Hund der Beklagten. Der Schadensfall ereignete sich bei einem Beratungsgespräch in den Räumen der Klägerin. Geltend gemacht wurden € 7.072,17, auf die von der Beklagten € 1.600,00 gezahlt wurden. Das Landgericht schätzte den Wiederbeschaffungswert der Stühle, die noch nicht repariert waren, auf € 4.832,50 und sprach der Klägerin € 3.232,50 zu. Im Rahmen der Berufung verlangte die Klägerin, nachdem zwischenzeitlich die Reparatur durchgeführt worden war, weitere € 2.239,67.

Das OLG wies darauf hin, dass der Schädiger ausnahmsweise die Naturalrestitution verweigern dürfe (und statt dessen Entschädigung in Geld zahlen dürfe), wenn dies zwar möglich sei, aber unverhältnismäßige Aufwendungen erfordere.  Eine Unverhältnismäßigkeit ergäbe sich bei reinen Vermögensschäden aus einem Wertvergleich zwischen den Kosten, die zur Herstellung erforderlich seien, und dem Wert des beschädigten Gegenstandes. Die sogen. 130%-Grenze der Rechtsprechung aus der Regulierung von Kraftfahrzeugschäden könne hier nicht einfach übernommen werden, da es sich dort um ein Massengeschäft handele, welches in der Praxis einer einheitlichen und übersichtlichen Handhabung zugänglich sein müsse. Außerhalb von Kraftfahrzeugschäden käme es auf eine Interessensabwägung im Einzelfall an, wobei die Grenze zur Unverhältnismäßigkeit dann überschritten sei, wenn ein „krasses Missverhältnis“ zwischen herstellungsaufwand und dem zu ersetzenden Schaden bestünde.

Eine Unverhältnismäßigkeit ergäbe sich hier nicht alleine daraus, dass die Instandsetzung der Stühle um ca. 40% höher gegenüber den Kosten der Beschaffung gleichwertiger gebrauchter Stühle läge. Die Klägerin habe die Stühle als Neuartikel erworben und sie würden seit Anschaffung zum festen Inventar des Büros seit ca. 16 Jahren gehören, im Übrigen intakt und unbeschädigt sein. Zwar wäre die Anschaffung gebrauchter Stühle möglich. Recherchen im Internet hätten allerdings gezeigt, dass die angebotenen Stühle nicht durchweg in der Farbe der geschädigten Stühle ausgeführt gewesen seien und niemand die benötigten Stühle in den benötigten drei Ausführungen angeboten habe. Die Klägerin müsste mithin „quer durch die Republik den Gebrauchthandelsmarkt“ beobachten und könnte nur sukzessive die benötigten Stühle beschaffen, die zuvor auch noch jeweils auf ihren Zustand zu untersuchen wären. Angesichts dessen sei es der beklagten mit Blick auf ein zu wahrendes einheitliches Erscheinungsbild des Inventars zumutbar, die höheren Kosten der Reparatur der vorhandenen Stühle zu übernehmen.

OLG Hamm, Urteil vom 19.02.2021 - 9 U 128/20 -

Freitag, 9. April 2021

Verweigerung zum Erwerb von Arzneimitteln zur Selbsttötung und Verfassungsbeschwerde

Die Beschwerdeführer (in den Jahren 1937 und 1944 geborene Eheleute) begehrten vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) eine Erlaubnis nach § 5 Abs. 1 Nr. 6 BtMG zum Erwerb einer tödlichen Dosis Natriumpentobarbital zum Zwecke der Selbsttötung. Dies wurde abgelehnt; die Klage gegen den ablehnenden Bescheid wurde in allen Instanzen abgelehnt, vom Bundesverwaltungsgericht mit Hinweis  darauf, dass keine extreme Notlage in Gestalt einer medizinischen Indikation bestünde. Im Rahmen ihrer Verfassungsbeschwerde machten die Beschwerdeführer u.a. geltend, sie könnten nicht nach § 13 BtMG darauf verwiesen werden, sich das Medikament ärztlich verschreiben zu lassen, da z.B. das ärztliche Standesrecht in Hessen eine solche Verschreibung nicht gestatte und Suizidbeihilfen auch nach Wegfall der Strafdrohung des § 217 StGB faktisch nicht bestünden. Es bliebe damit nur die versagte Möglichkeit nach § 5 Abs. 1 Nr. 6 BtMG. 

Das BverfG hat die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Zwar anerkennt es ausdrücklich das Recht, seinem Leben ein selbstbestimmtes Ende zu setzen. Anders als die Beschwerdeführer vertrat das BVerfG  allerdings die Auffassung, mit der Entscheidung des 2. Senats des BVerfG vom 26.02.2020 - 2 BvR 2347/15 – sei dem Anspruch entsprochen worden. Die Beschwerdeführer seien in Ansehung der durch das benannte Urteil veränderten Situation verpflichtet aktiv nach suizidhilfebereiten Personen im Inland, durch Bemühungen um eine ärztliche Verschreibung des gewünschten Wirkstoffs oder auf anderem geeigneten Weg zu verfolgen.

Das BVerfG verwies die Beschwerdeführer auf den Rechtsweg. Es gelte der Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde, weshalb hier in Ansehung der Entscheidung des BVerwG in dem Rechtsstreit der Beschwerdeführer auf der Grundlage der Entscheidung des BVerfG vom 26.02.2020 nach § 80 Abs. 7 VwGO und entsprechende Bemühungen gegenüber den zuständigen Behörden möglich seien. Es läge nach der Nichtigerklärung des § 217 StGB nicht mehr auf der Hand, dass eine aktive (auch auf andere Bundesländer als Hessen ausdehnende) Suche nach Suizidbeihelfern und verschreibungswilligen- und -berechtigten Personen aussichtslos wäre. Dies schon vor dem Hintergrund des Umstandes, dass die Aufhebung der Strafnorm auch von Ärzten betrieben worden sei. Es sei deshalb nicht ersichtlich, dass die Beschwerdeführer ihre Möglichkeiten ausgeschöpft hätten.

Im Weiteren machte das BVerfG geltend, dass durch die benannte Entscheidung vom 26.02.2020 die Situation verbessert worden sei und nunmehr nur durch neuerliche Anstrengungen zur Realisierung des Suizidwunsches ermessen ließe, welche konkreten Gestaltungsmöglichkeiten und tatsächlichen Räume die neue Rechtslage eröffne. Nur so ließe sich klären, ob diese ausreichend praktische und zumutbare Möglichkeiten biete, einen Suizidwunsch zu realisieren, und zwar bei angepassten Konzepten eines medizinischen und pharmakologischen Missbrauchsschutz. Der Subsidiaritätsgrundsatz des § 90 Abs. 2 BVerfGG soll davor schützen, dass das BVerfG auf unsicherer Grundlage zu den tatsächlichen und rechtlichen Möglichkeiten entscheide. Der Zweite Senat habe bei seiner Entscheidung auch den politischen gestaltungsspielraum eines übergreifenden legislativen Schutzkonzepts anerkannt, der bei einer Entscheidung in der Sache faktisch vorweggenommen würde.

 BVerfG (2. Kammer des 1. Senats), Beschluss vom 10.12.2020 - 1 BvR 1837/19 -

Mittwoch, 7. April 2021

Verkehrssicherungspflicht: Bekannte mögliche Stolperfallen auf belebten Plätzen durch sich lösende Klebebänder am Boden

Die Beklagte war Eigentümerin eines Bereichs vor dem Bahnhof. Auf der Pflasterung waren gelbe Markierungsbänder angebracht, die für die Dauer eines Marktes einen Sicherheitsbereich des Bahnhofs kennzeichnen sollten; die Anbringung erfolgte durch die Markverwaltung der Beklagten in Abstimmung mit Sicherheitsbehörden. Die Streifen wurden im Auftrag der Beklagten durch die Streitverkündeten angebracht.  Der Kläger rutschte auf dem Klebestoffrest eines (gelösten) Markierungsstreifen bzw. auf einem solchen Streifen aus. Verfing sich mit einem Fuß in der Schlinge des abgelösten Markierungsbandes und stolperte, wobei er sich Verletzungen zuzog, für die er von der Beklagten Schadensersatz und Schmerzensgeld sowie die Feststellung der Ersatzfähigkeit zukünftiger Schäden begehrte.

Neben prozessualen Fragen, die die Anträge und das angefochtene erstinstanzliche Urteil dem Berufungsgericht aufgaben, ging es in der Sache um die Haftung der Beklagten dem Grunde nach.

Die Verletzung der Verkehrssicherungspflicht durch die Beklagte sah das Berufungsgericht als verwirklicht an, da sich auf ihrer dem Verkehr freigegebenen Fläche vor dem Eingang des Bahnhofs auf dem Bodenpflaster die (sich teilweise abgelösten) Markierungsklebestreifen befanden und dies eine Sturzgefahr begründet habe.  Die Feststellung des Landgerichts zu den abgelösten Streifen sei auch von der Beklagten im Rahmen der Berufung nicht angegriffen worden und deshalb zugrunde zu legen.

Nicht entscheidungserheblich sei die Behauptung der Beklagten, sie habe die Auswahl der Markierungsstreifen auf die Streitverkündete übertragen. Selbst in diesem Fall würde die fortlaufende Pflicht zur Überwachung der auf der Verkehrsfläche angebrachten Markierung bei ihr verbleiben. Dem Verschuldensvorwurf könne die Beklagte nicht dadurch entgehen, dass von ihr täglich wiederholte Kontrollen der Klebestreifendurchgeführt würden. Nach der Neuverklebung am Vortag habe bis zum Schadensfall um 7.30 Uhr keine Kontrolle stattgefunden. Da unstreitig bekannt gewesen sei, dass sich Streifen lösen konnten, dies auch zuvor erfolgt sei, würden solche evtl. auch mehrmals täglich erfolgende Kontrollen nicht ausreichend sein. Das Ablösen sei auf der bekannten Grundlage jederzeit möglich und könnte damit unmittelbar zu einer Gefahr führen. Das Berufungsgericht unterschied hier zwischen einer sich über längere Zeit aufbauende Gefahr (wie Laubfall oder unachtsam von Passanten hingeworfener Unrat) und einer akut bekannte  Gefahrenlage wie hier bei den sich plötzlich ablösenden Streifen: Bei der bekannten Gefahrensituation durch die Markierungsstreifen habe die Beklagte mit einer lediglich periodischen Überwachung ihrer Verkehrssicherungspflicht nicht genügen können, da so ein auf dieser hoch frequentierten Verkehrsfläche erforderlicher ständiger Schutz gegenüber der bekannten und stets möglichen Gefahr nicht sicherzustellen gewesen sei.

Für ein Mitverschulden des Klägers sei nichts ersichtlich. Dass ihm die Gefahrenlage und das Ablösen der Bänder bekannt gewesen oder erkennbar gewesen sei, ließe sich nicht feststellen. Das Vorhandensein der Markierungsklebebänder stelle sich nicht als Warnung vor diesen selbst dar.

Hanseatisches Oberlandesgericht in Bremen, Urteil vom 11.03.2020 - 1 U 56/19 -

Montag, 5. April 2021

Kommanditistenhaftung bei Insolvenz der Gesellschaft und Darlegungs- und Beweislast des Insolvenzverwalters

Der Kläger als Insolvenzverwalter forderte von dem Beklagten, der mit einer Kommanditeinlage von € 55.000,00 an der Schuldnerin beteiligt war, einen Betrag von € 24.750,00 für nicht durch gedeckte Gewinne erfolgte Ausschüttungen mit der Begründung, es handele sich bei den Auszahlungen um teilweise Rückgewähr der geleisteten Kommanditeinlage.

Der Kommanditist haftet mit seiner Einlage für die Verbindlichkeiten der Gesellschaft. Allerdings würde, so der BGH, dem Kommanditisten bei einer Inanspruchnahme durch den Insolvenzverwalter nach §§ 171 Abs. 1 und 2, 172 Abs. 4 HGB der Einwand der fehlenden Erforderlichkeit der ihm gegenüber geltend gemachten Forderung. Hierfür sei er zwar darlegungs- und beweisbelastet, doch obliege dem Insolvenzverwalter die sekundäre Darlegungslast zu den für die Befriedigung der Gläubiger bedeutsamen Verhältnisse.

Entscheidend dabei sei nicht nur, ob die Gesellschaftsschulden aus der aktuelle zur Verfügung stehenden Insolvenzmasse befriedigt werden könne, vielmehr könne der Kommanditist auch entsprechend §§ 422 Abs. 1 S. 1 HGB, 362 Abs. 1 BGB einwenden, der erforderliche Betrag sei durch Zahlung anderer Kommanditisten ganz oder teilweise aufgebracht. Abzustellen sei deshalb darauf, ob und inwieweit die Forderung durch Zahlung anderer Kommanditisten die Insolvenzmasse gedeckt sei (BGH, Urteil vom 21. Juli 2020 - II ZR 175/19 -). Entscheidend sei der Betrag der nicht gedeckten Forderung zum Tag der letzten mündlichen Verhandlung, der typischerweise nur von dem Insolvenzverwalter dargelegt werden könne, dem dies auch nach der sekundären Darlegungslast obliege.

Bei den gegen die Schuldnerin gerichteten Forderungen seien nicht lediglich zur Tabelle festgestellte Forderungen zu berücksichtigen. Auch die vom Insolvenzverwalter bestrittenen Forderungen seien zu berücksichtigen, wenn eine erfolgreiche Inanspruchnahme der Masse diesbezüglich ernsthaft drohe. Deren Sicherung könne erforderlich sein, weil ein gegen sie erhobener Widerspruch des Insolvenzverwalters durch eine Feststellungsklage (§ 170 InsO) beseitigt werden könne. In diesem Verhalten des Insolvenzverwalters läge kein widersprüchliches Verhalten. Allerdings obläge es dem Insolvenzverwalter substantiiert darzulegen und zu beweisen, dass eine von ihm bestrittene Forderung, für die der Kommanditist hafte, mindestens in Höhe der Klageforderung bestünde. Eine Inanspruchnahme der Masse würde z.B. dann nicht mehr drohen, wenn der Bestand bestrittenen und angemeldeten Forderung rechtlich zweifelhaft sei, seit dem Prüfungstermin und dem Widerspruch des Insolvenzverwalters ein erheblicher Zeitraum verstrichen sei und der Gläubiger keine Feststellungsklage erhoben habe. Ebenfalls könne eine Inanspruchnahme der Masse nicht mehr angenommen werden, wenn es sich um eine Vielzahl von Forderungen, beruhend auf vergleichbaren Sachverhalten, handele und hier ein Musterprozess (nicht notwendig im Insolvenzverfahren) geführt worden sei, bei der die Forderung nicht zuerkannt wurde (BGH, Beschluss vom 06.02.2020 - IX ZR 5/19 -).

BGH, Urteil vom 09.02.2021 - II ZR 28/20 -

Mittwoch, 31. März 2021

Der „übliche Mietzins“ bei der Bewertung eines Wohnhausgrundstücks im Falle der Erbschaft/Schenkung

Der Kläger und seine verstorbene Mutter waren zu 1/3 bzw. 2/3 Miteigentümer eines mit 14 Wohnungen und einer Gewerbeeinheit bebauten Grundstücks. Im Rahmen der Erklärung zur Bedarfswertfeststellung nach § 185 BewG nach dem Tot seiner Mutter setzte der Kläger einen jährlichen Rohertrag iSv. § 186 BewG von € 110.160,00 an. Bei vier Wohnungen ging er dabei von den vertraglich vereinbarten Nettokaltmieten aus, bei elf Wohnungen legte er die im Mitspiegel ausgewiesenen Mittelwerte zugrunde. Die tatsächliche Miete überschritt diesen Mittelwert um mehr als 20%.  Das Finanzamt (FA) ging von dem obersten Wert des Mietspiegels als „übliche Miete“ iSv. § 186 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 BewG aus. Es kam dabei nur bei zwei Wohnungen zu einer Überschreitung der üblichen Miete um mehr als 20%. Für diese zwei Wohnungen ging es vom Mittelwert aus. Der vom Kläger eingelegte Einspruch wurde vom FA zurückgewiesen. Seine dagegen erhobene Klage wurde vom Finanzgericht (FG) zurückgewiesen. Die gegen das Urteil eingelegte Revision wurde vom Bundesfinanzhof (BFH) zurückgewiesen.

Streitentscheidend war, ob für die Prüfung der 20%-Grenze des § 186 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 BewG  bei Zugrundelegung eines Mietspiegels der unterste Wert, der Mittelwert oder der oberste Wert zugrunde zu legen ist. § 186 BewG lautet:

„(1) Rohertrag ist das Entgelt, das für die Benutzung des bebauten Grundstücks nach den am Bewertungsstichtag geltenden vertraglichen Vereinbarungen für den Zeitraum von zwölf Monaten zu zahlen ist. Umlagen, die zur Deckung der Betriebskosten gezahlt werden, sind nicht anzusetzen.

(2) Für Grundstücke oder Grundstücksteile,

1.   die eigengenutzt, ungenutzt, zu vorübergehendem Gebrauch oder unentgeltlich überlassen sind,

2.    die der Eigentümer dem Mieter zu einer um mehr als 20 Prozent von der üblichen Miete abweichenden tatsächlichen Miete überlassen hat, ist die übliche Miete anzusetzen. Die übliche Miete ist in Anlehnung an die Miete zu schätzen, die für Räume gleicher oder ähnlicher Art, Lage und Ausstattung regelmäßig gezahlt wird. 3Betriebskosten sind nicht einzubeziehen.“

Für die Erbschaft- und Schenkungsteuer sind seit dem 01.01.2009 die Grundbesitzwerte gesondert festzustellen und für die wirtschaftlichen Einheiten des Grundbesitzes gesondert festzusetzen. Bei der Bewertung bebauter Grundstücke (§ 180 BewG) ist dies von der Grundstücksart abhängig (§ 181 BewG). Bei Mietwohngrundstücken ist der Wert des Gebäudes (Ertragswert) getrennt vom Bodenwert nach dem Reinertrag gem. §§ 184ff BewG zu ermitteln, der sich aus dem Rohertrag abzüglich der Bewirtschaftungskosten ergibt (§ 185 Abs. 1 S. 2 BewG). Bei dem Rohertrag handelt es sich um das Entgelt, welches für die Benutzung des bebauten Grundstücks nach den am Bewertungsstichtag (hier Todestag der Mutter) ergibt, welches für die Benutzung nach den zu diesem Zeitpunkt geltenden vertraglichen Bestimmungen für den Zeitraum von zwölf Monaten zu zahlen ist (§ 196 Abs. 1 S. 1 BewG). Soweit der Eigentümer dem Mieter die Wohnung(en) zu einer um mehr als 20% von der üblichen Miete abweichenden tatsächlichen Miete überlassen hat, ist die übliche Miete anzusetzen (§ 186 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 BewG).

Dies vom BFH ausdrücklich zugrunde legend wurde vom BFH führte der BFH aus, dass – wird ein Mietspiegel herangezogen – die Daten differenziert verwandt würden. Teilweise würden in Mitspiegeln der um Ausreißer bereinigte Durchschnitt aller Mieten in Form von Mittelwerten veröffentlicht. Zusätzlich würden Spannen angegeben, um den Besonderheiten des Einzelfalls besser Rechnung tragen zu können. Daher sei grundsätzlich der im Mietspiegel ausgewiesene gewichtete Mittelwert anzusetzen; bei ausreichenden Anhaltspunkten für einen konkreten niedrigeren oder höheren Wert sei dieser anzusetzen. Für die Überprüfung der Ortsüblichkeit der tatsächlich erzielten Miete sei entweder auf den unteren oder den oberen Wert der Spanne abzustellen.  Eine Miete, die mehr als 20% niedriger als der untere Wer der Spanne bzw. die mehr als 20% höher als der obere Wert der Spanne läge sei nicht mehr ortsüblich.

Das in § 186 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 BewG benannte Tatbestandsmerkmal der üblichen Miete sei ein unbestimmter, der Auslegung unterliegender Rechtsbegriff. Hier folge der BFH der vom FA und auch im Schrifttum vertretenen Auffassung zur Auslegung. Alle Mietwerte innerhalb der Spannbreite seien als üblich anzusehen und erst die Unter- bzw. Überschreitung der Grenzwerte führe zur Unüblichkeit. Dies würde auch dem allgemeinen Sprachgebrauch entsprechen, wonach das im „Rahmen des Üblichen“ läge, was innerhalb einer bestimmten Spanne liegt.  

BFH, Urteil vom 05.12.2019 - II R 41/16 -