Samstag, 10. April 2021

Grenzen der Naturalrestitution bei Schadensersatz

Die Klägerin verlangte Schadensersatz für die Beschädigung von 7 Bürostühlen durch den Hund der Beklagten. Der Schadensfall ereignete sich bei einem Beratungsgespräch in den Räumen der Klägerin. Geltend gemacht wurden € 7.072,17, auf die von der Beklagten € 1.600,00 gezahlt wurden. Das Landgericht schätzte den Wiederbeschaffungswert der Stühle, die noch nicht repariert waren, auf € 4.832,50 und sprach der Klägerin € 3.232,50 zu. Im Rahmen der Berufung verlangte die Klägerin, nachdem zwischenzeitlich die Reparatur durchgeführt worden war, weitere € 2.239,67.

Das OLG wies darauf hin, dass der Schädiger ausnahmsweise die Naturalrestitution verweigern dürfe (und statt dessen Entschädigung in Geld zahlen dürfe), wenn dies zwar möglich sei, aber unverhältnismäßige Aufwendungen erfordere.  Eine Unverhältnismäßigkeit ergäbe sich bei reinen Vermögensschäden aus einem Wertvergleich zwischen den Kosten, die zur Herstellung erforderlich seien, und dem Wert des beschädigten Gegenstandes. Die sogen. 130%-Grenze der Rechtsprechung aus der Regulierung von Kraftfahrzeugschäden könne hier nicht einfach übernommen werden, da es sich dort um ein Massengeschäft handele, welches in der Praxis einer einheitlichen und übersichtlichen Handhabung zugänglich sein müsse. Außerhalb von Kraftfahrzeugschäden käme es auf eine Interessensabwägung im Einzelfall an, wobei die Grenze zur Unverhältnismäßigkeit dann überschritten sei, wenn ein „krasses Missverhältnis“ zwischen herstellungsaufwand und dem zu ersetzenden Schaden bestünde.

Eine Unverhältnismäßigkeit ergäbe sich hier nicht alleine daraus, dass die Instandsetzung der Stühle um ca. 40% höher gegenüber den Kosten der Beschaffung gleichwertiger gebrauchter Stühle läge. Die Klägerin habe die Stühle als Neuartikel erworben und sie würden seit Anschaffung zum festen Inventar des Büros seit ca. 16 Jahren gehören, im Übrigen intakt und unbeschädigt sein. Zwar wäre die Anschaffung gebrauchter Stühle möglich. Recherchen im Internet hätten allerdings gezeigt, dass die angebotenen Stühle nicht durchweg in der Farbe der geschädigten Stühle ausgeführt gewesen seien und niemand die benötigten Stühle in den benötigten drei Ausführungen angeboten habe. Die Klägerin müsste mithin „quer durch die Republik den Gebrauchthandelsmarkt“ beobachten und könnte nur sukzessive die benötigten Stühle beschaffen, die zuvor auch noch jeweils auf ihren Zustand zu untersuchen wären. Angesichts dessen sei es der beklagten mit Blick auf ein zu wahrendes einheitliches Erscheinungsbild des Inventars zumutbar, die höheren Kosten der Reparatur der vorhandenen Stühle zu übernehmen.

OLG Hamm, Urteil vom 19.02.2021 - 9 U 128/20 -

Aus den Gründen

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin wird das am 03.07.2020 verkündete Urteil der 2. Zivilkammer des Landgerichts Hagen teilweise abgeändert.

Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin über den erstinstanzlich zuerkannten Betrag hinaus weitere 2.239,67 EUR nebst Zinsen iHv 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 19.09.2020 zu zahlen.

Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits erster Instanz tragen die Klägerin zu 41% und die Beklagte zu 59%.

Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Beklagte.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Der Streitwert für die Berufungsinstanz wird auf 2.239,67 EUR festgesetzt.

Gründe

I.

Die Klägerin verlangt von der Beklagten Schadensersatz für die Beschädigung von 7 Bürostühlen des Herstellers X durch den Hund der Beklagten während eines Beratungsgesprächs in den Räumen der Klägerin. Die Klägerin macht Reparaturkosten iHv 7.072,17 EUR brutto  geltend, auf die die Beklagte 1.600,- EUR geleistet hat. Das Landgericht hat - da die Stühle noch nicht repariert worden waren - deren Wiederbeschaffungswert auf 4.832,50 EUR geschätzt und der Klägerin 3.232,50 EUR zugesprochen. Mit ihrer Berufung verlangt die Klägerin nach inzwischen durchgeführter Reparatur der Stühle weitere 2.239,67 EUR.

II.

Die Berufung der Klägerin hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg. Mit der Terminsladung vom 08.12.2020 hat der Senat den Parteien den nachstehenden Hinweis erteilt:

"Nach § 251 Abs. 2 Abs. S. 1 BGB steht es dem Schädiger ausnahmsweise frei, die Naturalrestitution zu verweigern und stattdessen Entschädigung in Geld zu leisten, wenn die Naturalrestitution zwar möglich ist, aber unverhältnismäßige Aufwendungen erfordert.

Die Unverhältnismäßigkeit der Aufwendungen für eine Naturalrestitution ergibt sich bei reinen Vermögensschäden aus einem Wertvergleich zwischen den Kosten, die zur Herstellung erforderlich sind, und dem Wert des beschädigten Gegenstands. Einen fixen Zahlenwert für die Unverhältnismäßigkeit gibt es nicht. Die von der Rechtsprechung entwickelte 130% Grenze im Bereich der Regulierung von Kraftfahrzeugschäden kann nicht schablonenhaft auf Schadensersatzregulierungen außerhalb der Krafthaftpflicht übertragen werden. Die Regulierung von Kraftfahrzeugschäden stellt ein Massengeschäft dar, das in der Praxis einer einheitlichen und übersichtlichen Handhabung zugänglich sein muss. In anderen Fällen kommt es vielmehr auf eine Interessenabwägung im Einzelfall an. Rechtsprechung und Schrifttum haben sich diesbezüglich in einer häufig verwendeten Formulierung darauf festgelegt, dass die Grenze zur Unverhältnismäßigkeit dann überschritten ist, wenn ein "krasses Missverhältnis" zwischen dem Herstellungsaufwand und dem zu ersetzenden Schaden besteht, vgl. BGH v. 04.04.2014 - V ZR 275/12 - juris; Beck BGB OGK § 251 Rn. 37. Die Qualifikation des notwendigen Missverhältnisses als "krass" bringt zum Ausdruck, dass § 251 Abs. 2 S. 1 BGB als Ausnahmevorschrift zu verstehen ist.

Hiervon ausgehend kann die Klägerin nicht allein deshalb auf die Beschaffung gleichwertiger gebrauchter Stühle verwiesen werden, weil die Instandsetzungskosten ca. 140% einer Ersatzbeschaffung betragen. Der Senat hat bei seiner Entscheidung bedacht, dass - so hat der Senat den Klagevortrag verstanden - die beschädigten Stühle von der Klägerin als Neuartikel erworben und seit ihrer Anschaffung zum festen Inventar des von ihr betriebenen Büros über einen Zeitraum von 16 Jahren gehört haben. Die Stühle waren im Übrigen intakt und unbeschädigt. Die Ersatzbeschaffung gebrauchter Stühle war zwar möglich. Die Recherchen der Parteien haben nach Einsichtnahme in die überreichten Internetauszüge aber gezeigt, dass die angebotenen Stühle nicht durchweg in der Farbe der beschädigten Stühle ausgeführt waren. Hinzu kommt, dass unter keiner der ausgewiesenen Adressen die benötigten sieben Stühle in den benötigten drei Ausführungen angeboten wurden. Der Klägerin wäre daher nichts anderes übrig geblieben, als quer durch die Republik den Gebrauchthandelmarkt zu beobachten und sukzessive die benötigten sieben Stühle zu beschaffen, die zuvor noch auf ihren Zustand hin zu untersuchen waren. Angesichts dessen ist es der Beklagten mit Blick auch auf ein zu wahrendes einheitliches Erscheinungsbild des Inventars zumutbar, die höheren Kosten der Reparatur der vorhandenen Stühle zu übernehmen.

Die Klägerin muss allerdings hinsichtlich der Zinsforderung und der vorgerichtlichen Anwaltskosten Abstriche hinnehmen. Vorgerichtliche Kosten sind nur nach einem Gegenstandswert von 4.832,50 EUR abzgl. der im Zeitpunkt der Beauftragung bereits gezahlt gewesenen 1.600,- EUR angefallen. Das ergibt den vom Landgericht ausgeurteilten Betrag von 413,64 EUR.

Zinsen auf die jetzt noch zuzuerkennenden 2.239,67 EUR kann die Klägerin nur unter Rechtshängigkeitsgesichtspunkten seit dem 19.09.2020 verlangen. Denn erst mit der Durchführung der Reparatur sind die höheren Instandsetzungskosten berechtigt geltend gemacht worden."

Diesen fortgeltenden Ausführungen ist nichts hinzuzufügen.

Der von dem Senat auf dieser Grundlage vorgeschlagene Vergleich scheiterte lediglich deshalb, weil die Beklagte abweichend vom Vergleichsvorschlag des Senats eine Kostenaufhebung für die Kosten des Vergleichs wünschte.

Die Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 97 Abs. 1, 708 Nr. 10, 713 ZPO.

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