Dienstag, 21. Februar 2023

Elternschaft eines in Ehe zweier Frauen geborenem Kind

Die Frauen (Antragstellerinnen) sind seit dem 08.01.2020 verheiratet. Eine der Frauen ist die Mutter des mittels einer Samenspende seit 20 Jahren mit der Beteiligten zu 3. befreundeten D. gezeugten Kindes. Die Antragstellerinnen beantragten die Feststellung ihrer Elternschaft. Dieser Antrag wurde vom Amtsgericht zurückgewiesen. Das Kammergericht (KG) sah die dagegen eingelegte Beschwerde als unbegründet an.

Dabei verwies das KG darauf, dass die Ehefrau der ein Kind gebärenden Frau weder in direkter noch in entsprechender Anwendung des § 1592 Nr. 1 BGB Mit-Elternteil des Kindes würde. Dabei bezog sich das KG u.a. auf den Beschluss des BGH vom 10.10.2018 - XII ZB  231/18 -, in dem dieses festhielt, dass sich eine Elternstellung auch nicht in entsprechender Anwendung des § 1592 Nr. 1 BGB daraus ergäbe,  dass sie zum Zeitpunkt der Geburt des Kindes mit dessen Mutter verheiratet sei. Das deutsche Recht kenne nur die Zuordnung einer Mutter zum Kind und der Gesetzgeber habe andere Möglichkeiten der Mutter-Kind-Zuordnung (z.B. Leihmutterschaft) bewusst ausgeschlossen.

Das KG sah zwar darin eine unterschiedliche Behandlung von verschieden- und gleichgeschlechtlichen Ehepaaren, doch sei dies hier verfassungs- und koventionsrechtlich bedenkenfrei, insbesondere sei weder das Familiengrundrecht des Art. 6 Abs. 1 GG noch das Elterngrundrecht gem. Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG verletzt (BGH aaO.).

Nur wenn durch eine ärztlich unterstützte künstliche Befruchtung im Sinne von § 1600d Abs. 4 BGB (also völlig anonymer Samenspender) das Kind gezeugt und in der gleichgeschlechtlichen Ehe der Mutter geboren würde, könnten sowohl die Ehefrau der Mutter als auch das Kind durch die Regelung in § 1592 Nr. 1 BGB in deren Grundrecht aus Art. 3 GG (Gleichbehandlung) verletzt sein (KG, Beschluss vom 24.03.2021 - 3 UF 1122/20 -). Dies deshalb, da nach Auffassung des Senats nur in dieser Konstellation die biologischen Unterschiede zwischen Mann und Frau die der § 1592 Nr. 1 BGB gesetzgeberische Typisierung nicht mehr rechtfertige. Der Gesetzgeber habe nur bei der durch Einführung des § 1600d Abs. 4 BGB geschaffenen qualifizierten Samenspende von der Statuswahrheit (Vaterschaft kraft Ehe rechtfertige sich aus dem Gedanken, dass regelmäßig eine biologisch richtige Zuordnung begründet wird) abgesehen zugunsten einer „sozialen Elternschaft“, nicht aber für andere Fälle (wie hier einer privaten Samenspende durch einen bekannten Dritten). Damit würde im Falle der Anwendbarkeit des § 1600d Abs. 4 BGB von der Statuswahrheit des § 1592 Nr. 1 BGB auf die soziale Elternschaft abgestellt.

Kammergericht, Beschluss vom 26.07.2022 - 3 UF 30/21 -

Mittwoch, 15. Februar 2023

Richtgeschwindigkeitsüberschreitung begründet Berücksichtigung der Betriebsgefahr

Der Beklagte fuhr mit einer Geschwindigkeit von ca. 200 lm/h auf der linken Fahrspur der Autobahn. Auf der linken Fahrspur kollidierte die Klägerin mit ihrem Pkw, mit dem sie mit einer Geschwindigkeit zwischen ca. 120 - 140 km/h fuhr, mit dem Fahrzeug des Beklagten. Nach der Darlegung der Klägerin will sie von der rechten auf die linke Fahrspur gewechselt haben, um ein anders Fahrzeug zu überholen; vor der Kollision sei sie bereits Sekunden auf die linke Fahrspur aufgefahren gewesen. Demgegenüber wurde vom Beklagten behauptet, die Klägerin sei unmittelbar vor ihm auf die linke Fahrspur gewechselt.

Mit ihrer Klage auf Ersatz von 100% Schadensersatz drang die Klägerin nicht durch. Das Landgericht gab der Klage mit einer Quote von 10% statt und verwies darauf, sie habe die in verkehrsgefährdender Weise die Spur gewechselt und damit gegen § 7 Abs. 5 S. 1 StVO verstoßen. Im Berufungsverfahren verfolgte die Klägerin weiterhin ihr Ziel einer alleinigen Haftung des Beklagten. Der Erfolg der Klägerin war eher bescheiden: Das OLG ging von einer Haftung der Klägerin von 75%, des Beklagten von 25% aus.

Das OLG stellet zutreffend auf § 17 Abs. 1 StVG ab: Inwieweit wurde der Schaden vorwiegend von dem einen oder andern teil verursacht. Bei der Abwägung der Verursachungs- und Verschuldensanteile der Beteiligten dürften nur die von den Fahrzeugen ausgehende Betriebsgefahr nur unstreitige bzw. zugestandene oder nachgewiesene Umstände Berücksichtigung finden, wobei jeder beteiliget Fahrzeughalter die Umstände zu beweisen habe, die dem anderen zum Verschulden gereichen und aus denen er für die nach § 17 Abs.1, Abs. 2 StVG vorzunehmende Abwägung für sich günstige Rechtsfolgen herleiten will (allgemeine Meinung, vgl. auch BGH, Urteil vom 13.02.1996 - VI ZR 126/95 -).

Der Wertung des Landgerichts sei zu folgen, dass die Klägerin die die überwiegende Ursache für den Unfall gesetzt habe. Sie habe gegen § 7 Abs. 5 S. 1 StVO verstoßen, wonach ein Fahrstreifenwechsel nur erfolgen darf, wenn eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen sei. Käme es, wie hier, im unmittelbaren örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem Fahrspurwechsel zu einem Unfall, spreche gegen den Fahrspurwechsler der Beweis des ersten Anscheins, dass die gebotene besondere Sorgfaltsanforderung unbeachtet blieb.

Das OLG lässt erkennen, dass damit grundsätzlich die vom gegnerischen Fahrzeug (hier dem Pkw des Beklagten) ausgehende Betriebsgefahr angesichts des groben Verstoßes gegen § 7 Abs. 5 StVO zurücktreten könnte, was dann zur alleinigen Haftung der Klägerin führen würde. Allerdings nahm das OLG hier eine Abweichung in Ansehung der mit ca. 200 km/h über 130 km/h liegenden Geschwindigkeit an, was zur Berücksichtigung der vom Beklagtenfahrzeug ausgehenden Betriebsgefahr führe.

Nach § 1 der Verordnung über eine allgemeine Richtgeschwindigkeit auf Autobahnen und ähnlichen Straßen (Autobahn-Richtgeschwindigkeit-V) wird „empfohlen, auch bei günstigen Straßen-, Sicht- und Wetterverhältnissen“ auf den entsprechenden Straßen nicht schneller als 130 km/h zu fahren, soweit nicht anderweitige Höchstgeschwindigkeiten vorgegeben sind. Da, so das OLG, die höhere Geschwindigkeit in haftungsrelevanter Weise die Gefahr erhöhe, dass sich andere Verkehrsteilnehmer auf diese Fahrweise nicht einstellen würden und insbesondere die Geschwindigkeit unterschätzen würden, sei die deutlich über 130 km/h liegende Geschwindigkeit betriebsgefahrerhöhend zu berücksichtigen. Bei einer Überschreitung der Richtgeschwindigkeit um mehr als 30 km/h würde damit die Betriebsgefahr im Regelfall nicht mehr zurücktreten (so auch OLG Hamm, Urteil vom 25.11.2010 - 6 U 71/10 -).

Soweit hier das Landgericht insoweit eine Mithaftung des Beklagten aus dem Gesichtspunkt der Betriebsgefahr von 10% angenommen habe, habe es die deutliche Überschreitung der Richtgeschwindigkeit um 70 km/h nicht ausreichend berücksichtigt. Diese Überschreitung rechtfertige eine Mithaftung aus dem Gesichtspunkt der Betriebsgefahr von 25%.

Hinweis: Die Berücksichtigungsfähigkeit der Betriebsgefahr bei Überschreitung der Richtgeschwindigkeit hatte der BGH bereits in seinem Urteil vom 17.03.1992 - VI ZR 92/91 - bejaht und ausgeführt, auf eine Unabwendbarkeit des Unfalls nach § 17 Abs. 3 StVG könne sich in diesem Fall der Halter eines Fahrzeuges nur berufen, wenn er darlege und nachweisen würde, dass es auch bei einer Geschwindigkeit von 130 km/h zu dem Unfall mit vergleichbar schweren Folgen gekommen wäre.

Schleswig-Holsteinisches OLG, Urteil vom 15.11.2022 - 7 U 41/22 -

Sonntag, 12. Februar 2023

Bedarf der Widerruf einer Schenkung wegen groben Undanks einer Begründung ?

Der BGH hatte sich mit der Revision gegen eine Entscheidung des OLG Frankfurt zu befassen, die den Widerruf der mit notariell beurkundeten Übertragungen von Grundstücken in den Jahren 1993 und 1994 im Wege der vorweggenommenen Erbfolge an den Beklagten zum Inhalt hatte. Mit Schreiben vom 16.12.2011 widerrief die Übertragende die Schenkung wegen des Verhaltens des Beklagten in einem Verfahren vor dem LG Bonn und im Hinblick auf einen Erpressungsversuch des Beklagten. Der Beklagte wurde vom Landgericht antragsgemäß zur Herausgabe des (Mit-) Eigentums an den Grundstücken verurteilt. Auf die Berufung des Beklagten wies das OLG Frankfurt die Klage insoweit ab. Die zugelassene Revision führte zur Aufhebung des Urteils des OLG und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits, da das OLG nicht (ausreichend) geprüft habe, ob eine Schenkung und bejahendenfalls ein Widerrufsgrund vorläge.

Das Landgericht hatte seien Entscheidung damit begründet, der Übertragung müsste eine Schenkung iSv. 516 BGB zugrunde liegen und die (zwischenzeitlich verstorbene) Übertragende hätte diesen wegen groben Undanks  gem. § 530 Abs. 1 BGB widerrufen müssen. Allerdings läge jedenfalls kein Widerruf iSv. § 530 BGB vor, da die Widerrufserklärung vom 16.12.2012 wegen fehlender Angabe eines Widerrufsgrundes unwirksam gewesen sei. Zwar seien Angaben getätigt worden, die aber nicht erkennen ließen, welches Verhalten des Beklagten konkret beanstandet würde.

Der BGH verwies darauf, er habe bisher (BGH, Urteil vom 22.10.2019 - X ZR 48/17 -) nur dazu entschieden, dass § 531 Abs. 1 BGB keine umfassende rechtliche Begründung des Widerrufs erforderlich sei und es ausreichend sei, dass der dem Widerruf zugrunde liegende Sachverhalt nur so weit dargestellt würde, dass der Beschenkte ihn von anderen Geschehnissen unterscheiden und die Einhaltung der in § 532 BGB für den Widerruf vorgegebenen Jahresfrist beurteilen sowie im Umkehrschluss feststellen könne, welche gegebenenfalls andere Vorfälle der Schenker nicht zum Anlass des Widerrufs genommen habe. Ob es einer diesen Anforderungen genügenden Begründung allerdings bedürfe, habe der zur Entscheidung berufene Senat bisher entgegen einer in der Literatur vertretenen Ansicht offengelassen, da sie bei der Entscheidung vom 22.10.2019 nicht von Relevanz gewesen sei.

Nunmehr aber postulierte sich der BGH eindeutig und erklärte, dass es für den Widerruf einer Schenkung wegen groben Undanks keiner Begründung bedarf. Damit reicht mithin die Erklärung aus, dass die Schenkung wegen groben Undanks widerrufen wird.

Zwar würde in der obergerichtlichen Rechtsprechung von Oberlandesgerichten und dem überwiegendem Teil der Literatur die Mitteilung des Widerrufsgrundes (so wie vorliegend das OLG Frankfurt) für erforderlich gehalten, und zwar im Hinblick auf die Prüfung der Jahresfrist (§ 532 BGB) und eines  Widerrufsgrundes (§ 532 BGB). Ein teil der Literatur sei unter Bezugnahme auf den Wortlaut des Gesetzes der Ansicht, der Mitteilug des Widerrufsgrundes bedürfe es nicht; dieser Auffassung folgte der BGH.

Dabei verwies der BGH auf dem Wortlaut der Norm, die keine Mitteilung des Widerrufsgrundes in der Widerrufserklärung vorsehe. Aber auch aus dem Sinn und Zweck des § 531 Abs. 1 BGB sowie der §§ 530 und 532 BGB könne eine entsprechende Mitteilung des Widerrufsgrundes in der Widerrufserklärung nicht abgeleitet werden.

Zwar könne der Beschenkte in Ansehung der Folgen des Widerrufs ein schutzwürdiges Interesse daran haben, den Widerrufsgrund zwecks hinreichender Prüfung zu erfahren. Allerdings sei der Beschenkte nicht schutzlos gestellt. Die materielle Wirksamkeit eines Widerrufs sei an enge objektive und subjektive Voraussetzungen geknüpft und das Rückgabeverlangen könne im gerichtlichen Verfahren nur Erfolg haben, wenn in diesem gerichtlichen Verfahren (!) der Schenker (bzw. hier sein Rechtsnachfolger) die Voraussetzungen des groben Undanks darlege und beweise.

Es würde im Widerspruch zu diesem Regelungskonzept stehen, zusätzlichen Schutz durch ein formelles Begründungserfordernis zu gewähren, obwohl das Gesetz ein solches nicht vorsehen würde.

Dieses Ergebnis würde auch einem systematischen Vergleich mit den Voraussetzungen für die fristlose Kündigung eines Dienstvertrages aus wichtigen Grund (§ 626 BGB) entsprechen. Auch eine solche Kündigung würde das Vorliegen eines wichtigen Grundes als auch die Einhaltung einer (im Vergleich zu § 532 BGB deutlich kürzeren) Erklärungsfrist verlangen. Dort sei in § 626 Abs. 2 S. 3 BGB (anders als bei dem Schenkungswiderruf wegen groben Undanks) normiert, dass der Kündigende dem Gekündigten auf dessen Verlangen den Kündigungsgrund unverzüglich schriftlich mitzuteilen habe; die Wirksamkeit der Kündigung hänge aber nicht davon ab, dass der Kündigende dem auch nachkomme. Vielmehr sei auch hier entscheidend, ob ein wichtiger Grund vorliegt und die Erklärungsfrist eingehalten wurde (BAG, Urteil vom 17.08.1972 - 2 AZR 415/17 -). Für den Widerruf einer Schenkung wegen groben Undanks, bei dem das Gesetz sogar keinerlei Begründung (also weder zusammen mit dem Widerruf noch auf Verlangen danach) vorsehe, könne nichts anderes gelten.

Anmerkung: Diese deutliche Entscheidung des BGH ist zu begrüßen, führte doch die Entscheidung aus 2019 zu der Irritation, es sei eine Begründung erforderlich. Die Begründung für den Widerruf wegen groben Undanks ist im Gesetz nicht vorgesehen.  Im Rahmen des § 626 BGB wird allgemein anerkannt, dass sie - da nicht im Gesetz normiert - auch nicht erfolgen muss; obwohl im Rahmen des § 626 BGB der Gekündigte nachträglich eine Begründung fordern kann, wird nach der Rechtsprechung des BAG diese Unterlassen des Kündigenden (zutreffend) nicht dahingehend sanktioniert, dass deshalb die Kündigung unwirksam wird. Umgekehrt ist in anderen Normen (so zur ordentlichen Kündigung  im Mietrecht in § 573 Abs. 3 BGB) explizit eine Begründung gefordert, deren Fehlen zur Unwirksamkeit der Kündigung führt (vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 31.03.1992 - 1 BvR 1492/91 -). Nähme man einen Begründungszwangs bei der Widerrufserklärung an, würde durch die Rechtsprechung ein formales Tatbestandsmerkmal geschaffen, welches der Gesetzgeber nicht vorgesehen hat und damit das Gericht letztlich zu einen Ersatzgesetzgeber, was der Gewaltenteilung widerspräche.

BGH, Urteil vom 11.10.2022 - X ZR 42/20 -

Freitag, 10. Februar 2023

Vollziehbare bauaufsichtliche Verfügungen zum Gemeinschaftseigentum und Beschlussfassung nach § 19 Abs. 1 WEG

Das im gemeinschaftlichen Eigentum der antragstellenden Wohnungseigentümergemeinschaft stehende 12-stöckige Hochhaus hatte eine Fassade mit brennbaren Holzwolleleichtbauplatten. Die Baubehörde hatte mit einer an die Wohnungseigentümergemeinschaft  gerichteten bauaufsichtlichen Verfügung vom 08.07.2019 dieser unter Anordnung des Sofortvollzugs aufgegeben, die brennbare Fassadenbekleidung zu entfernen. Dem kam die Wohnungseigentümergemeinschaft innerhalb der Ausführungsfristen seit Sommer 2021 nicht nach; die Eigentümergemeinschaft fasste zwar entsprechende Beschlüsse, die allerdings das AG Wennigsen mit Urteil vom 05.07.2022 für unwirksam erklärte. Daraufhin drohte die Baubehörde (Antragsgegnerin) ein Zwangsgeld an und setzte dieses mit € 100.000,00 nach Ablauf der Frist unter gleichzeitiger erneuter Androhung eines weiteren Zwangsgeldes von € 200.000,00 fest. Gegen diese Verfügung legte die Wohnungseigentümergemeinschaft Widerspruch ein und beantragte vorläufigen Rechtsschutz, den das Verwaltungsgericht versagte. Die dagegen eingelegte Beschwerde wies das OVG Lüneburg zurück.

Ein Vollstreckungshindernis nach dem Niedersächsischen Polizei- und Ordnungsbehördengesetz (NPOG) läge nicht vor. Ein solches Hindernis iSv. §§ 64 Abs. 1, 65 Abs. 1 Nr. 2, § 67 NPOG läge u.a. dann vor, wenn der Vollstreckungsschuldner (hier die Wohnungseigentümergemeinschaft) einer ihm obliegenden Pflicht nicht nachkommen könne, ohne in die Rechte Dritter (Miteigentümer oder sonstige Nebenberechtigte) einzugreifen, da in diesem Fall gegen den Dritten mit Beginn der Vollstreckungsmaßnahme eine Duldungsverfügung gegen den Dritten ergehen müsste.

Verstoße eine in Wohnungseigentum aufgeteilte bauliche Anlage hinsichtlich der im gemeinschaftlichen Eigentum stehenden Gebäudeteile (§ 1 Abs. 5 WEG), so die Fassade, gegen öffentliches Baurecht, sei der richtige Adressat der bauaufsichtlichen Verfügung gem. § 85 Abs. 2 NBauO die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer. Dies begründe sich daraus, dass diese die sich aus dem gemeinschaftlichen Eigentum ergebenden Rechte ausübe und die entsprechenden Pflichten der Wohnungseigentümer wahrnehme, § 9a Abs. 2 WEG (§ 10 Abs. 6 S. 3 WEG in der bis 30.11.2020 geltenden Fassung). Die einzelnen Wohnungseigentümer seien von der Verwaltung ausgeschlossen, § 18 Abs. 1 WEG. Damit sei auch die Vollstreckung gegenüber der Gemeinschaft vorzunehmen.

Es bedürfe auch gegenüber den einzelnen Wohnungseigentümern keiner Duldungsverfügung, da diese von der Verwaltung ausgeschlossen seien und sich ihre Rechte in Bezug auf das gemeinschaftliche Eigentum auf die Mitwirkung an entsprechenden Beschlussfassungen im Innenverhältnis beschränken würden, § 19 Abs. 1 WEG. Ihnen würden keine Rechte zustehen, mittels der sie die Gemeinschaft an der Befolgung einer wirksamen und vollziehbaren bauaufsichtlichen Verfügung hindern könnten.

Zwar sei der Einwand der Antragstellerin grundsätzlich zutreffend, dass die Verwaltungsbefugnis im Innenverhältnis gegenüber den einzelnen Wohnungseigentümern beschränkt sei und jeder Wohnungseigentümer nach § 18 Abs. 2 WEG eine ordnungsgemäße Verwaltung im Rahmen der bestehenden Beschlüsse der Gemeinschaft verlangen und gerichtlich durchsetzen könne. Allerdings stehe aufgrund der wirksamen und vollziehbaren und damit zwingend zu befolgenden bauaufsichtlichen Anordnung für die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer verbindlich auch ohne eine Beschlussfassung, sogar entgegen einer Beschlussfassung der Wohnungseigentümer fest, dass ein Handeln entsprechend der Verfügung geboten sei. Damit folge die Handlungspflicht unmittelbar aus der bauaufsichtlichen Verfügung und überwinde selbst entgegenstehende interne Willensbildungen der Wohnungseigentümer(OVG des Saarlandes, Beschluss vom 17.08.2022 - 2 B 104/22 -).

OVG Lüneburg, Beschluss vom 16.11.2022 - 1 ME 106/22 -

Montag, 6. Februar 2023

Verjährungsbeginn: Pflichtverletzung durch fehlerhafte Rechtsanwendung

Der Kläger machte gegen die Beklagte, einem Finanzdienstleistungsunternehmen, Schadensersatzansprüche mit der Behauptung fehlerhafter Anlagenberatung geltend. Diese verwies auf eine Anlage bei der B.-Stiftung, mit der der Kläger dann 2014 Kauf- und Lieferverträge abschloss. Nach dem Verkaufsprospekt sollten die Kunden Goldbarren mit einer Reinheit von 99,9% erwerben. In 2015 wurde ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet, in dessen Rahmen die Geschäftsräume der B.-Stiftung durchsucht wurden, festgestellt wurde, dass von den Anlegergeldern in Höhe von € 57 Mio. nur Golf im Wert von € 10,58 Mio. erworben wurde, im Übrigen gelagertes Gold Falschgold gewesen wäre. Der Verblieb des Geldes blieb im Wesentlichen ungeklärt. Am 17.06.2015 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen der B.-Stiftung eröffnet. Der Kläger erfuhr davon und beauftragte einen Rechtsanwalt. Die Beklagte habe, so der Kläger, behauptet, die Investitionen des Klägers seien insolvenzfest, was rechtlich unzutreffend war.  

Am 13.11.2019 wurde seine Klage der Beklagten zugestellt, mit der er Schadensersatzansprüche mit der Begründung geltend machte, die Beklagte habe ihre Pflichten aus der Anlageberatung schuldhaft verletzt. Die Beklagte erhob die Einrede der Verjährung. Das Landgericht gab der Klage statt. Auf die Berufung der Beklagten hin hob das Oberlandesgericht (OLG) dessen Urteil auf und wies die Klage, unter Verweis auf die nach seiner Ansicht eingetretene Verjährung, ab. Auf die zugelassene Revision des Klägers hob der BGH das Urteil des OLG auf und verwies den Rechtsstreit an dieses zurück.

Der BGH ging, wie zutreffend auch das OLG davon aus, dass die regelmäßige dreijährige Verjährungsfrist (§ 195 BGB) mangels anderweitiger Bestimmungen, mit dem Schluss des Jahres beginne, in dem der Anspruch entstand und der Gläubiger sowohl von den anspruchsbegründenden Umständen wie auch von der Person des Schuldners Kenntnis erlangt oder ohne grobe Fahrlässigkeit hätte erlangen müssen (§ 199 Abs. 1 BGB). Ausreichend sei, dass der Gläubiger um die anspruchsbegründenden Umstände weiß und nicht, dass er den Vorgang rechtlich zutreffend beurteilt. Allerdings könne es auch ausnahmsweise auf die zutreffende rechtliche Würdigung ankommen, was auch das OLG erkannt habe, sich aber mit den Voraussetzungen für die Annahme einer solchen Ausnahmesituation nicht befasst habe.

Läge der für den Schadensersatzanspruch erforderliche haftungsauslösende Fehler in einer falschen Rechtsanwendung des Schuldners (hier der Beklagten), könne die Kenntnis dieser Rechtsanwendung als solcher nicht ausreichen. Vielmehr müsste der Geschädigte (hier Kläger) Kenntnis oder grob fahrlässig Unkenntnis davon haben, dass die Rechtsanwendung fehlerhaft ist (BGH, Urteil vom 07.03.2019 - III ZR 117/18 - u.a.). Die Kenntnis alleine der tatsächlichen Umstände vermöge für den Laien noch keine Kenntnis der Pflichtwidrigkeit der Handlung vermitteln. Die Angabe der Beklagten über eine „Insolvenzfestigkeit der Investitionen“ des Klägers sei rechtlich unzutreffend gewesen, was aber dazu führen würde, dass beim Kläger von einer Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis der anspruchsbegründenden Tatsachen erst ab dem Zeitpunkt ausgegangen werden könne, dass die (vom Kläger behauptete Angabe rechtlich unzutreffend ist, was vom OLG übersehen worden sei.

Alleine der Umstand, dass der Insolvenzverwalter hinsichtlich der Aussonderung des erworbenen Goldes eine andere Rechtsansicht vertrat als die Beklagte, genüge für die Annahme einer groben Fahrlässigkeit nicht, da der Anleger bei seiner Entscheidung die besonderen Erfahrungen und Kenntnisse eines Anlageberaters oder -vermittlers in Anspruch nehme, dessen Ratschlägen, Auskünften und Mitteilungen er besonderes Gewicht beimessen würde. In der Regel stelle es daher kein grobes Verschulden gegen sich selbst dar,  wenn er „ohne dringenden Anlass“ davon absehe, dessen Angaben z.B. durch Lektüre des Emissionsprospektes zu überprüfen. Das Unterlassen einer Kontrolle des Beraters durch den Anleger weise auf ein Vertrauensverhältnis hin und sei nicht schlechthin unverständlich oder unentschuldbar im Sinne grober Fahrlässigkeit gem. § 199 Abs. 1 Nr.2  BGB; dies gelte auch für beschwichtigende Äußerungen des Beraters nach Zeichnung der Anlage (BGH, Urteil vom 07.07.2011 - III ZR 90/10 -). Hinzu käme, dass die den Kläger beratende Rechtsanwaltskanzlei noch im Jahr 2015 ebenfalls zu dem Ergebnis gelangt sei, eine Klage gegen den Insolvenzverwalter auf Aussonderung des Goldes sei erfolgreich (Anm.: Auf eine dem Kläger als Mandanten zuzurechnende fehlerhaften Rechtsberatung geht der BGH nicht ein). Solange der Kläger von einer Insolvenzfestigkeit in Übereinstimmung mit dem mandatierten Anwalt und der Beklagten ausgehen durfte, läge daher keine grobe Fahrlässigkeit vor. Es spräche vieles dafür, dass die Verjährung erst in 2016 zu laufen begonnen habe, weshalb sie bei Klageerhebung in 2019 noch nicht eingetreten gewesen sei.

BGH, Urteil vom 20.10.2022 - III ZR 88/21 -

Freitag, 3. Februar 2023

Die sittenwidrig vom Zuwendungsempfänger bewirkte Schenkung an sich

Der 1922 geborene Kläger schenkte mit notariellen Vertrag vom 133.06.2017 den Beklagten Wertpapiere in einem Wert von € 219.000,00. Weiterhin übertrag er dem Vater der Beklagten, seinem Sohn, das Eigentum an einem Mehrfamilienhaus. Mit Schreiben vom 15.08.2017 erklärte der Kläger im Hinblick auf die Schenkung an die Beklagten die Anfechtung des (noch nicht vollzogenen) Schenkungsvertrages und erhob im Anschluss Anfechtungslage, die vom Landgericht abgewiesen wurde. Die Berufung des Klägers wurde vom Oberlandesgericht (OLG) zurückgewiesen. De BGH hatte auf die zugelassene Revision das Urteil des OLG aufgehoben und den Rechtsstreit an das OLG zurückverwiesen.

Kernpunkte der Auseinandersetzung waren, ob (1) der Schenkungsvertrag aufgrund der Anfechtung nichtig war, was der Fall gewesen wäre, wenn die Beklagten dem Kläger ein Übel in Aussicht gestellt hätten, um ihn zur Schenkung zu veranlassen, und (2) ob der Vertrag wegen Ausnutzung einer erheblichen Willensschwäche des Klägers nichtig war. Beides wurde vom OLG verneint.

(1) Der BGH schloss sich dem OLG in dessen Würdigung an, dass die Voraussetzungen für eine Anfechtung der Schenkung nicht vorlagen. Es sei dem Vortrag des Klägers nicht zu entnehmen, dass die Beklagten oder deren Vater den Kläger durch Drohung mit einem empfindlichen Übel (§ 123 Abs. 1 BGB) zum Abschluss der Schenkungsverträge veranlassten.

(2) Allerdings sei eine Nichtigkeit wegen Sittenwidrigkeit aufgrund der Feststellungen des OLG entgegen dessen Rechtsauffassung nicht zu verneinen.

Sittenwidrig sei ein Rechtsgeschäft, wenn es nach seinem Inhalt oder Gesamtcharakter gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstoße. Würde es nicht bereits seinem Inhalt nach gegen die grundlegenden Wertungen der Rechts- oder Sittenordnung verstoßen, müsse ein persönliches Verhalten des Handelnden hinzukommen, das diesem zum Vorwurf gemacht werden könne (BGH, Urteil vom 16.07.2019 - II ZR 426/17 -). Dabei sei der dem Inhalt, Zweck und Beweggrund zu entnehmende Gesamtcharakter des Verhaltens maßgeblich (BGH, Urteil vom 04.06.2013 - VI ZR 288/12 -). Die Sittenwidrigkeit könne sich je nach Einzelfall aus einem dieser Elemente oder aus einer Kombination und deren Summenwirkung ergeben (BGH, Urteil vom 26.04.2022 - X ZR 3/20 -).  

Bei einem unentgeltlichen Geschäft gem. § 138 Abs. 1 BGB könne sich die Sittenwidrigkeit nicht nur aus den Motiven des Zuwendenden ergeben, sondern auch und sogar in erster Linie aus den Motiven des Zuwendungsempfängers. Das sei beispielhaft der Fall, bei dem aus fremder Bedrängnis in sittenwidriger Weise Vorteile gezogen würden. Von Bedeutung könne dabei sein, ob der der Schenker den Wünsche des Beschenkten aufgrund seiner Persönlichkeitsstruktur nicht oder kaum habe entziehen können, ob dies der Beschenkte wusste oder sich einer derartigen Erkenntnis leichtfertig verschloss und er die fehlende oder geschwächte Widerstandskraft des Schenkers eigennützig ausnutzte oder es sogar darauf anlegte (BGH, Urteil vom 04.07.1990 - IV ZR 121/89 -). Es würde sich um Gesichtspunkte handeln, die auch die (bloße) Anfechtbarkeit nach § 123 Abs. 1 BGB überlagern würden, da nicht die Drohung mit einem Übel im Vordergrund stünde, sondern die Ausnutzung einer vorhandenen Zwangslage im Vordergrund stünde oder hinzutreten würde.

Befände sich der Schenker in einer objektiven und subjektiven Zwangslage, könne der Vorwurf der Sittenwidrigkeit nicht nur denjenigen treffen, der diese Zwangslage herbeigeführt habe; ausreichend sei, wenn der Zuwendungsempfänger sich eine bestehende Zwangslage bewusst nutzbar mache. Das sei auch dann der Fall, wenn der Vertrag vom Zuwendungsempfänger in der Kenntnis abgeschlossen wird, dass der Schenker sich in einer Zwangslage befindet. Das Wissen einer mit den Vertragsverhandlungen und Vertragsabschluss beauftragten Person müsse sich der Zuwendungsempfänger im Rahmen des § 138 Abs. 1 BGB entsprechend § 166 Abs. 1 BGB zurechnen lassen (BGH, Urteil vom 08.11.1991 - V ZR 260/90 -).

Dies zugrunde gelegt habe das OLG die vom Kläger vorgetragenen Gesichtspunkte nicht vollständig berücksichtigt.

Nicht berücksichtigt habe das OLG den Vortrag, der Vater der Beklagten habe den Kläger am Abend vor der Beurkundung des Schenkungsvertrages über längere Zeit hinweg „bearbeitet“ und am nächsten Morgen in Begleitung der Beklagten zum Notar gefahren, wo er erstmals den Inhalt der abzuschließenden Verträge erfahren habe. In diesem Zusammenhang sei der Vortrag beachtlich gewesen, der Beklagte zu 1. und  sein Vaterhätten den Kläger über mehrere Monate intensiv überwacht und weitgehend isoliert. Es sei möglich, dass der Kläger den Schenkungsvertrag zugunsten der Beklagten abgeschlossen habe, um der von ihm als Überwachung und Isolation empfundenen Situation, die im Hinblick auf den vermeintlichen Entscheidungszwang in dem nicht zuvor angekündigten Notartermin seien Zuspitzung gefunden habe, zu entkommen.

Als Indiz könne auch das vom Kläger behauptete Geschehen nach der notariellen Beurkundung Bedeutung haben. Zwar seien grundsätzlich für die Beurteilung der Sittenwidrigkeit von Relevanz, die zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses vorgelegen haben (BGH, Urteil vom 30.07.2020 - VI ZR 5/20 -), können aber danach liegende Umstände gleichwohl indizielle Bedeutung gewinnen.

Eine solche Indizwirkung könne dem klägerischen Vortrag zukommen, ein Mitarbeiter der Bank, bei der der Kläger sein Wertpapierdepot hatte, soll den von den Beklagten angestrebten Vollzug der Übertragung verhindert haben. Das könne darauf hindeuten, dass der Kläger dem Schenkungsvertrag nur abschloss, da er die Situation im Notartermin als besonders bedrängend empfand und anders als bei dem nachfolgenden Banktermin keinen Ausweg aus einer subjektiv empfunden Zwangslage gesehen habe.

Das OLG hätte sich mit diesem Vortrag im Zusammenhang befassen müssen und auf dieser Grundlage in tatrichterlicher Würdigung entscheiden müssen, ob die Schenkungsverträge mit den Beklagten auf einer vom Kläger als bedrohlich empfundenen Zwangslage beruhten und ob die Beklagten dies wussten oder sich entsprechende Kenntnisse des Vaters zurechnen lassen müssten. Auch hätte sich das OLG mit der Frage befassen müssen, ob der Kläger aufgrund seines hohen Alters die Situation als besonders belastend empfand.

BGH, Urteil vom 15.11.2022 - X ZR 40/20 -

Dienstag, 31. Januar 2023

Zusammenstoß mit Motorrad im Begegnungsverkehr als unabwendbares Ereignis ?

Die Betriebsgefahr (§ 7 StVG) eines Fahrzeuges ist stets (mit-) bestimmender Faktor bei der Frage, ob und inwieweit eine eigene Haftung bei einem Verkehrsunfall besteht. Denn grundsätzlich ist jeder Halter verpflichtet, die Unabwendbarkeit eines Verkehrsunfalls für ihn gem. § 17 Abs. 3 StVG darzulegen und zu beweisen. Wie das OLG Hamm in seinem hier besprochenen Beschluss zutreffend ausführte, verlangt Unabwendbarkeit vom dem Fahrer, dass dieser „jede nach den Umständen des Falles gebotene Sorgfalt beobachtet haben“ muss (§ 17 Abs. 3 S. 2 StVG). Der Begriff „unabwendbares Ereignis“  meine nicht eine absolute Unvermeidbarkeit eines Unfalls, sondern dass das schadensstiftende Ereignis auch bei der äußersten möglichen Sorgfalt und Einhaltung der geltenden Verkehrsvorschriften nicht abgewendet werden könne. Dazu würde ein sachgemäßes, geistesgegenwärtiges Handeln erheblich über den Maßstab der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt iSv. § 276 BGB hinaus gehören.

Ob diese Voraussetzungen vorlagen, war vom OLG anlässlich einer Kollision eines Pkw (Beklagte) mit einem Motorrad (Klägerin) zu klären. In einer langgezogenen Rechtskurve befuhr der verstorbene Ehemann der Klägerin die Gegenfahrspur und kollidierte so mit dem Pkw der Beklagten. Aus technischer Sicht, so der im erstinstanzlichen Verfahren beauftragte Sachverständige, hätte sich der Verkehrsunfall nur dadurch vermeiden lassen, dass der Fahrer des Pkw nach links in den Gegenverkehr lenkt. Nachdem das Landgericht die Klage abgewiesen hatte, legte die Klägerin gegen das Urteil Berufung mit dem Ziel ein, eine Quote von 30% im Rahmen der vom Pkw ausgehenden Betriebsgefahr nach § 17 Abs. 3 StVG zu erhalten.

Das OLG wies nach § 522 ZPO darauf hin, dass es gedenke, die Berufung der Klägerin als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen. Unter Zugrundelegung der oben dargelegten Grundsätze zur Unabwendbarkeit iSv. § 17 Abs. 3 BGB verwies es darauf, der sogenannte Idealfahrer dürfe nicht auf einem Vorrecht beharren, wenn er erkenne, dass dieses von anderen Verkehrsteilnehmern aufgrund örtlicher Gegebenheiten möglicherweise nicht erkannt würde, wie er auch erhebliche fremde Fehler und alle möglichen Gefahrenmomente berücksichtigen müsse. Diese von ihm verlangte besondere Sorgfalt müsse sich nicht nur in der konkreten Gefahrensituation, sondern bereits im Vorfeld manifestieren. Er müsse also die Erkenntnisse berücksichtigen, die nach allgemeiner Erfahrung geeignet seien, Gefahrensituationen nach Möglichkeit zu vermeiden. Wenn also ein Idealfahrer gar nicht in die Situation geraten würde oder hatte der Unfall dann nicht zu vergleichbar schweren Folgen geführt, könne von einem unabwendbaren Ereignis nicht ausgegangen werden.

Ausgehend davon habe sich der Fahrer des Pkw ideal verhalten und den Unfall nicht abwenden können.

Er sei mit einer unter der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auf der Landstraße gefahren. Als er den Motorradfahrer kurz vor der Kollision bei direkter Sicht auf seiner Spur habe wahrnehmen können, habe er (so der Sachverständige) instinktiv eine Vollbremsung eingeleitet und sei dann noch mit einer Kollisionsgeschwindigkeit von 25 - 30 km/h mit ihm am äußerst rechten Fahrbahnrand zusammengestoßen. Da von einem Idealfahrer verlangt würde, sich an die geltenden Verkehrsvorschriften zu halten, war er schon nach § 2 Abs. 2 StVO nicht verpflichtet gewesen in den Gegenverkehr zur Vermeidung der Kollision zu lenken, wodurch er eine Gefahr für sich und andere Verkehrsteilnehmer geschaffen hätte. Zudem hätte sich auch nur nachträglich ergeben, dass dadurch die Kollision vermieden worden wäre, da für den Fahrer des Pkw nicht erkennbar gewesen sei, ob der Motorradfahrer mit einem Ausweichen nach links oder rechts reagieren würde. Naheliegend wäre gewesen, dass der Motorradfahrer zurück in seine Fahrspur fahre und nicht, wie geschehen, noch weiter auf die Gegenfahrspur.

Auch aus dem Umstand, dass dem Pkw eine Motorradkolonne entgegenkam habe ihn nicht zu einer Reaktion im eigenen Fahrverhalten veranlassen müssen. Er sei nicht deshalb verpflichtet gewesen, seine Geschwindigkeit (noch weiter) herabzusetzen oder gar anzuhalten um die Motorradfahrer passieren zu lassen. Grundsätzlich dürfe sich ein regelgerecht verhaltender Verkehrsteilnehmer darauf vertrauen, dass andere Verkehrsteilnehmer sich ebenfalls an die Verkehrsregeln halten (BGH, Urteil vom 20.09.2011 - VI ZR 282/10 -). Damit habe sich der verkehrsgerecht verhaltene Pkw-Fahrer darauf verlassen dürfen, dass sich die Motorradfahrer ebenso verhalten. Gegen diese Annahme für ein verkehrsgerechtes Verhalten der Motorradfahrer hätten für den Pkw-Fahrer vor dem Unfall (der Sicht auf den sich auf seiner Fahrspur befindlichen Motorradfahrer) nicht bestanden.

Die Berufung wurde nach dem Hinweisbeschluss zurückgenommen.

OLG Hamm, Hinweisbeschluss vom 03.08.2022 - 7 U 63/22 -