Sonntag, 24. März 2024

Folgen einer (teilweisen) Unleserlichkeit des Zustelldatums auf Briefumschlag

Das Urteil des OLG Koblenz stellt sich als Lehrbeispiel zu den Zustellungsvorschriften der Zivilprozessordnung (ZPO) dar. Streitig war, ob ein Einspruch gegen ein Versäumnisurteil rechtzeitig erfolgte. Das Landgericht hatte dies negiert und von daher diesen mit dem von der Beklagten mit der Berufung angegriffenen Urteil als unzulässig verworfen. Das Berufungsgericht (OLG Koblenz) musste sich damit auseinandersetzen, ob (und gegebenenfalls wann) das Versäumnisurteil prozessordnungsgemäß zugestellt wurde. Grundlage der Entscheidung des Landgerichts war, dass – nach vergeblichen Versuch der elektronischen Zustellung bei dem Prozessbevollmächtigten der Beklagten – dieses schließlich in Papierform bei diesem zugestellt wurde, aber das Datum insoweit unleserlich war, als es „12.12. 2022“ oder „17.12.2022“ bedeuten konnte; der Prozessbevollmächtigte der Beklagten gab an, er habe erst am 27.12.2022 von dem Urteil Kenntnis genommen. Letztlich hat das OLG das den Einspruch der Beklagten verwerfende Urteil aufgehoben und den Rechtsstreit an das Landgericht zurückverwiesen.

1. Das Landgericht ging von einer Zustellung am 12.12.2022 aus. Der Einspruch erfolgte am 02.01.2023, wäre mithin verfristet gewesen (die Einspruchsfrist beträgt zwei Wochen, § 339 Abs. 1 ZPO). Ausgehend von diesen Daten wäre die Entscheidung des Landgerichts nicht zu beanstanden gewesen (bei einer Zustellung am 17.12.2022 wäre die Frist gewahrt gewesen, da Fristablauf der 31.12.2022 wäre und, da die Frist auf einen Samstag fiel, mithin der nächste Werktag, der 01.01.2023, § 193 BGB). Wiedereinsetzung wurde der Beklagten nicht gewährt, da diese sich bei Unleserlichkeit bei Gerich hätte über das korrekte Zustelldatum informieren müssen. Das sah das OLG (zutreffend) anders. 

Abgestellt wurde vom OLG auf § 180 ZPO (Zustellung mit Postzustellungsurkunde per Einlegen in den Briefkasten, da niemand zur Entgegennahme angetroffen wurde). Diese Zustellung (am 12.12.2022) sei, so das Landgericht, von dem Postzusteller eindeutig auf der Postzustellungsurkunde vermerkt worden. Das reiche aber nicht, so das OLG. Denn nach § 180 S. 3 ZPO sei vom Zusteller das Datum der Zustellung ebenfalls auf dem zuzustellenden Umschlag zu vermerken. Der BGH habe mit Urteil vom 15.03.2023 - VII ZR 99/22 - zu einem Fall, bei dem sich kein Datum auf dem Umschlag befand (ein übrigens nicht seltener Fall) bereits entschieden, dass es sich bei hier um eine zwingende Zustellungsvorschrift iSv. § 189 ZPO handele und bei Verletzung dieser Vorschrift die Zustellung erst als mit dem Tag des tatsächlichen Zugangs als bewirkt gelte (die Gründe des BGH wurden vom OLG angeführt, u.a. die Schutzbedürftigkeit des Zustellungsempfängers). Die Schutzbedürftigkeit ergebe sich daraus, dass die (förmliche) Zustellung der Sicherung des Nachweises von Zeit und Art der Übergabe des Schriftstücks diene, da sich die die Zustellung (wie ersichtlich) wichtige prozessuale Wirkungen (wie hier z.B. Fristen) knüpfen würden.

Die Grundform der Zustellung ist die körperliche Übergabe des Schriftstücks (§ 116 Abs. 1, § 177 ZPO); bei der Einlegung in den Briefkasten handelt es sich um eine Ersatzzustellung, die (an sich) nur bei Vorliegen der Voraussetzungen des  § 189 ZPO erfolgen darf (wenn sie auch von Zustellern häufig trotz Anwesenheit des Empfängers vorgenommen wird, wie wir in unserer Kanzlei bei Zustelllungen an und selbst häufig feststellen).  § 180 S. 2 ZPO, so das OLG in Bezug auf die Entscheidung des BGH, knüpfe an das Einlegen in den Briefkasten die Fiktion der Bekanntgabe. Die Angabe des Datum der Einlegung auf dem Umschlag solle dem Empfänger eine Ungewissheit über den genauen Zeitpunkt des mit dieser Bekanntgabe genauen Zustellungszeitpunkts und damit gegebenenfalls Beginn einer Frist ausgleichen. 

Auch wenn vorliegend anders als in dem vom BGH entschiedenen Fall hier ein Datum vermerkt wurde, doch sei dort (wie der Senat des OLG bei Inaugenscheinnahme des Umschlags festgestellt habe) das Datum nicht eindeutig zu lesen gewesen (entweder 12.12.22 oder 17.12.22). Das unleserliche Datum sei wie der Fall des fehlenden Datums zu behandeln. Letztlich sei der Empfänger bei einem unlesbaren Datum in der gleichen Situation wie jener, bei dem kein Datum angegeben worden ist. Er könne nicht feststellen, wann eine Frist zu laufen beginne. Zwar lag hier ein Zeitfenster vor, insoweit lediglich der Tag (der 12. oder der 17) undeutlich war. Gleichwohl sei die Frist, so das OLG, nicht sicher zu berechnen. Nach § 180 ZPO könne nur ein konkretes (leserliches) Datum gemeint sein, welches auf dem Umschlag aufzunehmen ist. Da das Zustellungsverfahren dazu diene, als förmliches Verfahren für Rechtssicherheit zu sorgen und Daten nachweisen zu können, könne ein unleserliches Datum dienen Zweck ebenso wenig erfüllen wie ein fehlendes Zustelldatum. 

Damit sei die Zustellung (gemäß Postzustellungsurkunde am 22.12.2022) unwirksam. Nach der vom Kläger nicht widerlegten Angabe des Prozessbevollmächtigten der Beklagten habe dieser erstmals von dem Versäumnisurteil am 27.12.2022 Kenntnis genommen, weshalb mit diesem Datum der Lauf der Einspruchsfrist iSv. § 189 ZPO beginne.  Diese Rechtsansicht des OLG wird durch § 189 ZPO (Heilung von Zustellungsmängeln) gestützt, wonach bei Nichtnachweis einer formgerechten Zustellung das Datum gilt, zu dem das Dokument der betroffenen Person tatsächlich zugegangen ist. 

2. Die Klägerseite hatte eine Zustellungsvereitelung durch den Prozessbevollmächtigten der Klägerin eingewandt, da dieser im Rahmen der (zulässigen) elektronischen Übermittlung (über beA = besonderes elektronisches Anwaltspostfach) das (elektronische) Empfangsbekenntnis , trotz dreifacher Erinnerung, nicht abgegeben habe. Dem folgte das OLG aus zutreffenden Erwägungen nicht. 

Das OLG konstatiert, dass die Zustellung mittels elektronischen Empfangsbekenntnis dem Gericht eine kostengünstige und schnelle Zustellung bewirken kann. Allerdings erfordere dies die Mitwirkung des Empfängers. § 175 ZPO enthalte allerdings keine Verpflichtung zur Entgegennahme (allgemeine Ansicht, z.B. Vogt-Beheim in Anders/Gehle, ZPO 92 Aufl. 1024 zu § 175 Rn. 12); standesrechtliche Pflichten des Anwalts seien nicht entscheidend. Es genüge nicht, dass der Adressat das Schriftstück zur Kenntnis oder auch in Gewahrsam nähme (anders als bei Zustellung durch Gerichtsvollzieher oder Post), sondern er müsse auch den Willen haben, das Schriftstück zugestellt zu bekommen (also empfangsbereit sein). Dies geschehe in der Regel durch Unterschrift des Empfangsbekenntnisses (oder elektronische Bestätigung). Damit müsse der Anwalt zunächst Kenntnis von dem Schriftstück haben, bevor er entscheiden könne, ob er es als zugestellt ansehe. Er könne auch konkludent, so z.B. durch Überlassung an den Mandanten, den Annahmewillen zum Ausdruck bringen (Anm.: was allerdings dem Gericht in der Regel nicht bekannt ist). Das OLG weist auch darauf hin, dass die für eine Zustellung nach § 174 ZPO erforderliche Empfangsbereitschaft nicht alleine durch den Nachweis des bloßen Zugangs iSv. § 189 ZPO erfolgen könne, da zumindest eine konkludente Äußerung vorliegen müsse, das zur Empfangnahme angebotene Schriftstück als zugestellt entgegenzunehmen. Eine Verweigerung der Empfangnahme im Sinne einer Zustellung könne bei Nichtrücksendung des Empfangsbekenntnisses nicht ausgegangen werden, wenn die Gesamtumstände auf das Gegenteil hinweisen würden. Ein hierbei abweichender oder genteiliger Wille des Adressaten sei unbeachtlich, wenn er nach Außen keinen Ausdruck gefunden habe (BGH, Beschluss vom 13.01.2015 - VIII ZB 55/14 -). 

Vorliegend wurde das Empfangsbekenntnis vom Beklagtenvertreter nicht mit Datum und Unterschrift versehen an das Landgericht zurückgesandt. Anhaltspunkte für eine konkludente Empfangsbereitschaft gäbe es nicht.

 Damit sei gemäß § 189 ZPO von einer Zustellung am 27.12.2022 auszugehen und der Einspruch gegen das Versäumnisurteil rechtzeitig gewesen. 

OLG Koblenz, Urteil vom 13.12.2023 - 10 U 472/23 -

Donnerstag, 21. März 2024

Verwertung des Gutachtens des wegen Besorgnis der Befangenheit erfolgreich abgelehnten Sachverständigen ?

Es handelte sich um einen Arzthaftungsprozess. In der Verhandlung über ein medizinisches Gutachten des vom Gericht bestellten Sachverständigen (SV) lehnte die Klägerin diesen wegen Besorgnis der Befangenheit ab und begründete dies in einem späteren Schriftsatz, zu dem der Sachverständige Stellung nahm. Dem Befangenheitsantrag wurde im Beschwerdeverfahren vor dem OLG stattgegeben, allerdings im Hinblick darauf, dass zwischenzeitlich die Klägerin ihren Befangenheitsantrag auf den Inhalt der Stellungnahme des SV stützte. In der Folge wurde die Klage unter Berücksichtigung des Gutachtens des abgelehnten SV abgewiesen. Die dagegen eingelegte Berufung wurde zurückgewiesen, wobei der Senat insoweit die Befangenheitsablehnung (festgestellt durch einen anderen Senat) als unzulässig ansah.  Die Revision der Klägerin führte zur Aufhebung des Urteils und Zurückverweisung des Rechtsstreits an das OLG. 

Zunächst stellte der BGH fest, dass gem. § 412 Abs. 2 ZPO die Begutachtung durch einen anderen SV anordnen „kann“, wenn der bestellte Sachverständige erfolgreich abgelehnt worden sei. „Kann“ sei hier dahingehend zu verstehen, dass das Gutachten des abgelehnten SV grundsätzlich nicht mehr verwertet werden dürfe. Gründe, die eine Ausnahme zulassen würden, lägen nicht vor. 

In diesem Zusammenhang setzte sich der BGH mit der Annahme des Berufungsgerichts auseinander, das Ablehnungsgesuch der Klägerin als unzulässig einzustufen. Er verwies zutreffend darauf, dass diese Beurteilung der Bindungswirkung der im Ablehnungsverfahren getroffenen Entscheidung widerspreche. Die Entscheidung des anderen Senats des OLG, mit der dem Ablehnungsantrag stattgegeben worden sei, unterliege gem. §§ 512, 406 Abs. 5 ZPO nicht der Beurteilung des Berufungsgerichts, welches an die rechtskräftige Entscheidung gebunden sei. 

Eine Ausnahme von dem aus § 412 Abs. 2 ZPO verankerten Verwertungsverbot läge vor, wenn die sich auf die Befangenheit des Sachverständigen berufene Partei den Ablehnungsgrund selbst in rechtsmissbräuchlicher Weise provoziert habe und gleichzeitig kein Anlass bestünde, dass die Unvoreingenommenheit des Sachverständigen schon bei Erstellung seiner bisherigen Gutachten beeinträchtigt gewesen sei (BGH, Beschluss vom 26.04.2007 - VII ZB 18/06 -). Die Entscheidung zur weiteren Verwertbarkeit sei nicht Teil des Ablehnungsverfahrens. Welche Folgen die erfolgreiche Ablehnung habe, sei vom Gericht im Rahmen seiner Entscheidung, welche Beweise noch zu erheben sind, zu beurteilen. 

Hier habe das Berufungsgericht schon keine Feststellungen getroffen, aus denen sich ergäbe, dass die Klägerin den Ablehnungsgrund rechtsmissbräuchlich provoziert habe. 

Auch habe es rechtsfehlerhaft angenommen, dass kein Anlass zur Besorgnis bestünde, dass die Unvoreingenommenheit des SV schon bei Erstellung des Gutachtens beeinträchtigt gewesen sei. In seinen Ausführungen habe das Berufungsgericht zunächst nur dargelegt, was die Klägerin als Befangenheitsgrund iSv. § 406 Abs. 1 S. 1 , § 42 Abs. 1 und 2 ZPO angesehen habe. Den fehlenden Anlass zur Besorgnis der beeinträchtigten Unvoreingenommenheit des SV habe das Berufungsgericht mit dem Hinweis darauf begründet. Dass der SV und er Prozessbevollmächtigte der Klägerin vor der Erstellung des Gutachtens nicht aufeinandergetroffen seien und daher für den SV (anders als ins einer späteren Stellungnahme zum Befangenheitsantrag nach der mündlichen Verhandlung) kein Anlass bestanden habe, das Verhalten des klägerischen Prozessbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung zu bewerten und zu kritisieren.  Es würden Darlegungen im Urteil fehlen, ob die Unvoreingenommenheit des SV bereits zuvor beeinträchtigt gewesen sein könnte. Dass sich diese mögliche Beeinträchtigung nicht schon früher offenbart hätte, folge nicht, dass sie nicht vorgelegen habe. 

Offen ließ der BGH, ob die Verwertbarkeit des Gutachtens auch dann in Betracht kommen könne, wenn die sich auf die Befangenheit berufene Partei dem Ablehnungsgrund nicht rechtsmissbräuchlich provoziert habe. Auch dann käme eine Verwertung des Gutachtens nur in Betracht, wenn kein Anlass zu der Besorgnis bestünde, dass die Unvoreingenommenheit des SV schon bei dessen Erstellung (und ggf. Erläuterung) beeinträchtigt gewesen sei. Dies sei hier nicht der Fall. 

BGH, Urteil vom 05.12.2023 - VI ZR 34/22 -

Montag, 18. März 2024

Löschung negativer Bewertungen im Arbeitgeber-Bewertungsportal

Die Antragstellerin beschäftigte etwa 22 Mitarbeiter und unterhielt in Hamburg ein Ladengeschäft. Von der Antragsgegnerin wurde eine Arbeitgeber-Bewertungsportal betrieben. Bewertungen auf dem Portal können von (auch ehemaligen) Mitarbeitern. Bewerbern und Auszubildenden in verschiedenen Kategorien abgegeben werden.

U.a. wurden Bewertungen im Portal eingestellt, gegen die sich die Antragstellerin mit anwaltlichen Schreiben wandte. Darin hieß es jeweils: „Der genannte Bewerter hat unsere Mandantschaft negativ bewertet, Der Bewerber- und Mitarbeiter-Kontakt wird mit Nichtwissen bestritten, da er nicht zugeordnet werden kann.“ Die Antragsgegnerin forderte eine Substantiierung der unwahren Tatsachenbehauptungen und Rechtsverletzungen.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung gegen die Antragsgegnerin wurde vom Landgericht zurückgewiesen. Die dagegen von der Antragstellerin eingelegte sofortige Beschwerde führte zu deren Erlass. Rechtsgrundlage sei § 1004 BGB analog iVm. § 823 Abs. 1 BGB und dem Unternehmenspersönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs.1, 18 Abs. 3 GG) auf Unterlassung des weiteren Zugänglichmachens der beanstandeten Bewertung zu. Die Grundsätze würden auch bei einem Internet-Bewertungsportal greifen (BGH, Urteil vom 09.08.2022 - VI ZR 1244/20 -). Die Betreiberin sei mittelbare Störerin und hafte als solche eingeschränkt. Bei Beanstandungen eines Betroffenen die so konkret gefasst seien, dass der Rechtsverstoß auf der Grundlage der Behauptung unschwer bejaht werden könne, sei eine Ermittlung durch den Betreiber erforderlich, unabhängig davon, ob die Äußerung als Tatsachenbehauptung oder als Werturteil (aufbauend auf einem Tatsachenurteil) zu qualifizieren sei. Grundsätzlich sei (bis zur Grenze des Rechtsmissbrauchs) die Rüge ausreichend, dass der Bewertung kein tatsächlicher Kontakt zugrunde läge, wobei der Bewertete diese Rüge solange aufrechterhalten dürfe, bis ihm gegenüber der Bewerter soweit individualisiert würde, dass er das Vorliegen geschäftlicher Kontakte überprüfen könne. Das OLG trug damit dem Umstand Rechnung, dass der Bewerter anonym im Portal in Erscheinung tritt und von daher der Bewerte nichts zu Einzelheiten eines möglicherweise tatsächlichen Kontakts sagen kann, da er den Vorgang grundsätzlich nicht ohne Kenntnis des angebliche beteiligten Bewerters identifizieren können muss.

Eine solche Rüge wurde hier von der Antragstellerseite erhoben. Eine weitere Übermittlung von Informationen zu den Inhalten der Bewertungen, habe es von daher nicht bedurft. Da es sich hier überwiegend um Werturteile gehandelt habe, hätte der Antragsgegnerin die Übermittlung von weiteren Informationen durch die Antragstellerin kaum ermöglicht,  alleine aufgrund diese Informationen unschwer einen eventuellen Rechtsverstoß zu erkennen, weshalb die Antragsgegnerin auch in diesem Fall nicht darum herum gekommen wäre zu ermitteln, ob den Bewertungen tatsächliche geschäftliche Kontakte zugrunde gelegen hätten und insoweit Stellungnahmen von den Urhebern der Bewertungen einzuholen.

Die Anzahl mit gleicher Begründung des fehlenden geschäftlichen Kontakts sei auch nicht rechtsmissbräuchlich, da nicht ausgeschlossen werden könne, dass auf einem solchen Portal eine Vielzahl von nicht auf konkreten Kontakten beruhenden Bewertungen eingestellt würden. Auch die Vertretung der Antragstellerin durch eine Kanzlei, die offensiv damit werbe, gegen Festhonorar gegen Einträge in Bewertungsportalen vorzugehen, sei nicht rechtsmissbräuchlich, da das Bestreiten des Vorliegens eines geschäftlichen Kontakts durch die Antragstellerin keinen Rückschluss in jedem einzelnen Fall zuließe, ob das Bestreiten in der Sache begründet sei oder nicht. Der Umfang des Geschäftsbetriebs der Antragsgegnerin könne diese nicht von ihrer Überprüfungsobliegenheit entbinden, die jeden Betreiber eines Bewertungsportals treffe.

Von der Antragsgegnerin seien die Bewerter nicht identifizierbar gemacht worden, weshalb der Antragstellerin eine Prüfung tatsächlicher Kontakte nicht möglich gewesen sei.  Zwar könnten die eingereichten Unterlagen aus dem Geschäftsbereich der Antragstellerin stammen. Doch ließe sich für die Antragstellerin nicht erkennen, wer die betreffenden Mitarbeiter gewesen sein könnten, auf den sie sich beziehen, weshalb nicht überprüfbar sei, ob diese Urkunden wirklich die Urheber der Bewertungen betreffen und ob es sich tatsächlich um Personen handele, die für sie arbeiten oder gearbeitet hatten. Der Portalbetreiber dürfe die Überprüfung des geschäftlichen Kontakts durch den Betroffenen nicht in der Weise verhindern, dass er deren Vorliegen für sich selbst prüft und lediglich dessen positives Ergebnis bestätige. Dies würde eine effektive Verteidigung des Betroffenen verhindern.

Auch im Hinblick auf die (geringe) Anzahl von Mitarbeitern der Antragstellerin (22) ergäbe sich nichts anderes. Eine Kritik könne sich auf konkrete Einzelfälle beziehen die auf ihre tatsächliche Gegebenheiten vom Betroffenen nur geprüft werden könnten, wen die Person des angeblichen Arbeitnehmers bekannt sei oder jedenfalls die konkrete Situation die geschildert wird, bekannt wäre (so die Angabe „Einarbeitung? Fahlanzeige!  Am ersten Tag bekommt man ein paar Dokument(e), die man sich auf eigene Faust aneignen soll(m) und dann wird bitte losgelegt“, „Abmachungen wurden nicht eingehalten“), und sich auch aus allgemein gehaltenen Meinungsäußerungen wie zum Betriebsklima oder Betriebsmitteln (hier z.B. „Vorgesetztenverhalten … Empathie ist ein Fremdwort“, „Software auf Hobby-Niveau“ nicht ziehen ließen.

Auch wenn es für den Arbeitgeber-Bewertungsportal-Betreiber schwierig sein könne, Bewerter zu bewegen, sich zu erkennen zu geben da sie im Gegensatz zu Nutzern, die einmalige Geschäftskontakte wie Hotelbesuch, einen singulären Arztbesuch, oder den Ankauf von Ware bewerten, die Befürchtung hätten, Repressalien des negativ bewerteten Arbeitgebers ausgesetzt zu sein, rechtfertige nicht, dass ein betroffener Arbeitgeber diese öffentliche Kritik hinnehmen müsse, ohne die Möglichkeit zu erhalten, dies zu prüfen und sich dazu zu positionieren.

Aus diesem Grund könne sich auch die Antragsgegnerin nicht darauf berufen, dass sie ohne Zustimmung des Bewerters aus Datenschutzgründen diesen nicht namhaft machen dürfe. Auch wenn § 21 TTDSG in Ansehung des Erfordernisses des Verfahrens nach dessen Absätzen 2 bis 4 diese Konsequenz haben sollte, dürfe das nicht dazu führen, dass eine öffentliche Bewertung zugänglich gehalten werden dürfe, solange dem Bewerteten die Möglichkeit der Prüfung eines geschäftlichen Kontakts genommen ist. Bei der Verbreitung von Äußerungen trage der Verbreiter das Risiko, ob er den Urheber namhaft machen könne. Gesche die Verbreitung (wie hier) im Rahmen eines Geschäftsbetriebs, gehöre dieses Risiko zu den typischen Geschäftsrisiken, die jeden Unternehmer bei seiner Tätigkeit treffe.

Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg, Beschluss vom 08.02.2024 - 7 W 11/24 -

Freitag, 15. März 2024

Faires Verfahren bei Videoverhandlung ohne „Nahblick“ auf Richterbank ?

Im Rahmen der Verhandlung, die auf Antrag der Beschwerdeführer als Videoverhandlung (§ 91a FGO; diese Norm entspricht § 128a ZPO) durchgeführt wurde, wurde nur eine Kamera im Gerichtssaal eingesetzt, die die Richterbank in der Totalen (also alle Richter zusammen) abbildete, mangels einer von den Beschwerdeführern steuerbaren Zoomfunktion diesen – so ihr Vorwurf – nicht die Möglichkeit gegeben habe, die Unvoreingenommenheit der Richter durch einen Blick ins Gesicht zu prüfen. Die Beschwerdeführer beriefen sich in ihrer Verfassungsbeschwerde gegen eine Entscheidung des Bundesfinanzhofes (BFH) auf eine Verletzung des gesetzlichen Richters gem. Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) nahm die Beschwerde nicht zu Entscheidung an.

 Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG bestimme, dass niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden dürfe. Grundsätzlich bedeute dies, dass kein anderer Richter tätig werden dürfe, der nicht nach allgemeinen Normen des Gesetzes und der Geschäftsverteilungspläne zur Entscheidung berufen sei. Allerdings könne Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG nicht al eine formale Bestimmung verstanden werden, die stets dann bereits erfüllt sei, wenn die Richterzuständigkeit allgemein und eindeutig geregelt sei. Vielmehr gewährleiste das Grundgesetz den Beteiligten eines gerichtlichen Verfahrens auch einen unabhängigen und unparteilichen Richter. Neben sachlicher und persönlicher Unabhängigkeit des Richters (Art. 97 Abs. 1 und 2 GG) sei es wesentliches Kennzeichen der Rechtsprechung im Sinne des Grundgesetzes, dass die richterliche Tätigkeit nicht von einem „nicht beteiligten Dritten“ ausgeübt würde. Die richterliche Tätigkeit erfordere daher eine unbedingte Neutralität gegenüber den Verfahrensbeteiligten. Dies sei auch zugleich ein gebot der Rechtsstaatlichkeit. Die Frage, ob Befangenheitsgründe gegen die Mitwirkung eines Richters sprechen, berühre so die Rechtsstellung der Verfahrensbeteiligten.

Es würde von den Beschwerdeführern nicht eine nicht vorschriftsmäßige Besetzung bei dem Finanzgericht (FG) gerügt, vielmehr beanstandet, dass keine von ihnen steuerbare Zoomfunktion bestanden habe, und damit nicht die Möglichkeit bestanden habe, die über die Vollzähligkeit hinausgehende mentale Anwesenheit und Unvoreingenommenheit der Richterbank überprüfen zu können, also ein eventueller Befangenheitsgrund nicht erkennbar gewesen wäre. Dies genüge alleine aber noch nicht, auf einen bösen Schein oder einen Verdacht der Befangenheit zu schließen, der zu einer Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter führen könne. Nur die unrichtige Besetzung, nicht aber die fehlende Möglichkeit von deren (rechtzeitiger) Überprüfung begründe die Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter (anders BFH, Beschluss vom 30.06.2023 – V B 13/22 -). Damit führe ein fehlender Nahblick und eine dadurch begründete Unsicherheit, ob Verhalten oder Mimik für eine Befangenheit sprechen könnten, nicht zur fehlerhaften Besetzung. Der Schutz des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG könne nicht auf den Bereich der Möglichkeit vorverlagert werden. 

Durch eine fehlende Überprüfungsmöglichkeit der Unvoreingenommenheit könne gegebenenfalls das Recht auf ein faires Verfahren verletzt worden sein (worauf sich die Beschwerdeführer aber nicht bezogen hätten und welches nach ihrem Vortrag hier auch nicht vorgelegen habe). 

Zu den wesentlichen Grundsätzen eines rechtsstaatlichen Verfahrens gehöre ein Faires Verfahrens, welches seine Grundlagen im Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit den Freiheitsrechten und Art. 1 Abs. 1 GG habe. Das faire Verfahren bedürfe je nach sachlichen Gegebenheiten einer Konkretisierung. Die Gerichte hätten den Schutzgehalte der in Frage stehenden Verfahrensnormen und anschließend die Rechtsfolgen ihrer Verletzung zu bestimmen. Dabei seien Bedeutung und Tragweite des Rechts auf ein faires Verfahren angemessen zu berücksichtigen, damit dessen wertsetzende Bedeutung auch auf der Rechtsanwendungsebene gewahrt bleibe. Die Verkennung des Schutzgehalts einer Verfahrensnorm könne daher in das Recht eines Beteiligten auf ein faires Verfahren eingreifen. 

Es sei daher denkbar, dass das Recht auf ein faires Verfahren im Rahmen des § 91a FGO eine Überprüfungsmöglichkeit der Neutralität und Unabhängigkeit der Richterbank für die Beteiligten gewährleiste. Auch sei nicht auszuschließen, dass bei dem derzeitigen Stand, wenn aus der Distanz gefilmt würde, damit die gesamte Richterbank erscheine, je nach räumlichen Gegebenheiten oder ggf. der Qualität der technischen Hilfsmittel die Beobachtungsmöglichkeit eingeschränkt sein könnte und hinter jener bei Anwesenheit vor Ort zurückbleiben könnte. 

Diese Möglichkeit wurde hier aber als für die Beschwerde vom BVerfG schon deshalb nicht als tragfähig angesehen. Die Beschwerdeführer, die selbst die Videoverhandlung beantragt hätten, hätten ihre konkrete Situation nicht hinreichend substantiiert beschrieben, um in ihrem Fall die Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren beurteilen zu können.  So sei nicht erkennbar, dass eine fehlende Kontrollmöglichkeit nicht auf einer unzureichenden eigenen Ausstattung beruht habe oder wie die konkreten örtlichen Gegebenheiten und die Übertragungsqualität sowie wie sich etwaige dadurch bedingte Einschränkungen dargestellt hätten. Es könne daher nicht abschließend beurteilt werden, ob tatsächlich keine Kontrollmöglichkeit bestanden habe. 

Zudem hätten es die Beschwerdeführer entgegen den Anforderungen aus dem aus § 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG abgeleiteten Grundsatz der Subsidiarität nicht  dargelegt, dass sie im Laufe der Verhandlung vor dem FG etwaige Einschränkungen der Beobachtungsfähigkeit von Verhalten oder nonverbaler Kommunikation beanstandet hätten. 

BVerfG, Beschluss vom 15.01.2024 - 1 BvR 1615/23 -

Mittwoch, 13. März 2024

Reparaturkosten: Werkstattrisiko und Berufung darauf durch Kfz-Werkstatt als Zessionarin

Die Klägerin (die Kfz-Werkstatt, die aus abgetretenen Recht der Unfallgeschädigten klagte) verlangte restliche Reparaturkosten nach einem Verkehrsunfall (bei unstreitiger vollständiger Haftung der Beklagten). Nach Einholung eines Sachverständigengutachtens hatte die Unfallgeschädigte die Klägerin mit der Reparatur gemäß Gutachten beauftragt. Die Kosten erstattete die Beklagte mit Ausnahme der Rechnungsposition „Arbeitsplatzwechsel“ in Höhe von € 227,31 (Klageforderung). Die Beklagte machte geltend, dieser Arbeitsplatzwechsel (Verbringung zum Lackieren zu einem Dritten) habe nicht stattgefunden; die Klägerin verwies auf das sogen. Werkstattrisiko, welches nicht zu Lasten des Geschädigten gehen würde. Während das Amtsgericht der Klage stattgab, wurde sie vom Landgericht unter Zulassung der Revision auf die Berufung der Beklagten abgewiesen. Die Revision hatte keinen Erfolg. 

Der Geschädigte könne gem. § 249 Abs. 2 S. 1 BGB statt der Herstellung der beschädigten Sache den dazu erforderlichen Geldbetrag verlangen. Der Anspruch sei auf Befriedigung seines Finanzierungsbedarf in Form des zur Wiederherstellung objektiv erforderlichen Geldbetrages gerichtet. Allerdings könnten als erforderlicher Herstellungsaufwand nur die Kosten erstattet verlangt werden, die vom Standpunkt eines verständigen, wirtschaftlich denkenden Menschen in der Lage des geschädigten zur Behebung des Schadens zweckmäßig und notwendig erscheinen. Darüber hinaus würde für die Ersetzungsbefugnis des § 240 Abs. 2 S. 1 BGB das Verbot der Bereicherung durch den Schadensersatz gelten; der Geschädigte könne zwar eine Totalreparation verlangen, soll aber nicht an dem Schadensfall verdienen. 

Übergebe der Geschädigte das beschädigte Fahrzeug an eine Fachwerkstatt zur Instandsetzung, ohne dass ihn ein (insbes. Auswahl- oder Überwachungs-) Verschulden treffe, seien vom Schädiger die dadurch anfallenden Reparaturkosten im Verhältnis des Geschädigten zum Schädiger auch dann vollumfänglich zu ersetzen, wenn sie aufgrund unsachgemäßer oder unwirtschaftlicher Arbeitsweise der Werkstatt nicht iSv. § 249 Abs. 2 S. 1 BGB erforderlich seien; in einem solchen Fall gegebenenfalls bestehende Ansprüche des Geschädigten gegen die Werkstatt könne der Schädiger im Rahmen der Vorteilsausgleichung abgetreten verlangen. Das Werkstattrisiko verbliebe im Rahmen des § 249 Abs. 2 S. 1 BGB im Verhältnis zwischen Schädiger und Geschädigten beim Schädiger (wie bei § 249 Abs. 1 BGB); so auch der Senat im Urteil vom gleichen Tag zu VI ZR 253/22 und bereits im Urteil vom 29.10.1974 – VI ZR 42/73 -). 

Dieser Grundsatz gelte für alle Mehraufwendungen der Schadensbeseitigung, deren Entstehung dem Einflussbereich des Geschädigten entzogen sei und ihren Grund darin habe, dass die Schadensbeseitigung in einer fremden, vom Geschädigten nicht kontrollierbaren Einflusssphäre stattfinden müsse.  Ersatzfähig seien daher nicht nur Rechnungspositionen, die ohne Schuld des Geschädigten etwa wegen überhöhter Ansätze von Material oder Arbeitszeit, unsachgemäßer oder unwirtschaftlicher Arbeitsweise unangemessen und nicht zur Herstellung erforderlich iSv. § 249 Abs. 2 S. 1 BGB seien, sondern auch diejenigen Rechnungspositionen, die sich auf – für den Geschädigten nicht erkennbar – tatsächlich nicht durchgeführte Reparaturschritte und -maßnahmen beziehen würden (Senat vom gleichen Tag zu VI ZR 253/22 unter II.2.c). 

Die Grundsätze zum Werkstattrisiko würden nicht die Zahlung der Werkstattrechnung durch den Geschädigten voraussetzen. Hat er sie nicht beglichen, könne er – wenn er das Werkstattrisiko nicht tragen wolle, die Zahlung durch den Geschädigten an die Werkstatt fordern (Senat im Urteil vom gleichen Tag – VI ZR 253/22 unter II.2.e). Zu berücksichtigen sei nämlich, dass bei nicht (vollständiger) Bezahlung der Rechnung ein Vorteilsausgleich durch Abtretung etwaiger Gegenansprüche des Geschädigten gegen die Werkstatt an den Schädiger aus Rechtsgründen nicht gelingen könne, sehe der Geschädigte auch nach Erhalt der Schadensersatzleistung von der (Rest-) Zahlung an die Werkstatt ab. Der Geschädigte habe zwar einen Gegenanspruch gegen die Werkstatt nach § 280 Abs. 1 BGB  und diesbezüglich einen Freistellunganspruch, doch könne dieser Freistellungsanspruch nicht an den Schädiger abgetreten werden. Zugleich wäre der geschädigte bereichert, wenn er den vollen Schadensersatz erhalte, die Rechnung aber (teilweise) nicht ausgleiche, und der Schädiger schlechter gestellt, als wenn er die Reparatur selbst veranlasst hätte (da er dann einen direkten Anspruch gegen die Werkstatt hätte). Daher könne der Geschädigte, die Rechnung noch nicht (vollständig) gezahlt habe, nur Zahlung der Rechnung an die Werkstatt Zug um Zug gegen Abtretung etwaiger (das Werkstattrisiko betreffender) Ansprüche des Geschädigten eggen die Werkstatt verlangen. 

Verlange der Geschädigte im Rahmen von § 308 Abs. 1 ZPO Freistellung von der Verbindlichkeit statt Zahlung, richte sich sein Anspruch grundsätzlich und bis zur Grenze des Auswahl- und Überwachungsverschuldens danach, ob und inwieweit er mit der Verbindlichkeit gegen die Werkstatt, beschwert sei; damit ist die werkvertragliche Beziehung zwischen dem Geschädigten und der Werkstatt maßgeblich. Damit trage auch in diesem Fall der Geschädigte das Werkstattrisiko. 

Vorliegend hatte der Geschädigte seinen Anspruch an die Werkstatt abgetreten. Diese könne sich als Zessionarin aber nicht auf das Werkstattrisiko berufen.   

§ 399 Alt. 1 BGB lasse die Abtretung einer Forderung nicht zu, wenn die Leistung an einen anderen als den ursprünglichen Gläubiger nicht ohne Veränderung ihres Inhalts erfolgen könne. Eine Inhaltsänderung würde auch angenommen, wenn ein Gläubigerwechsel zwar vorstellbar, das Interesse des Schuldners an der Beibehaltung einer bestimmten Gläubigerposition aber besonders schutzwürdig sei.  Vorliegend würde dieser Rechtsgedanke greifen, insofern als sich der Geschädigte im Verhältnis zum Schädiger auch bei unbeglichener Rechnung auf das Werkstattrisiko berufen könne, wenn er Zahlung an die Werkstatt verlange. Insofern habe der Schädiger Interesse daran, dass der Geschädigte sein Gläubiger bleibe. Nur in dessen Verhältnis sei die Durchführung des Vorteilsausgleichs möglich, da der Schadensersatzanspruch gegen den Schädiger und die im Wege der Vorteilsausgleichung abzutretenden etwaigen Ansprüche gegen die Werkstatt in einer and (beim Geschädigten) lägen. Dies sei nach der Abtretung an die Werkstatt nicht mehr der Fall. Der Schädiger verlöre das Recht seine Zahlung nur Zug um Zug gegen Abtretung der Ansprüche des Geschädigten gegen die Werkstatt zu erfüllen. Zudem wäre zu berücksichtigen. Dass das Werkstattrisiko dogmatisch dem Geschädigten, nicht der Werkstatt zugute kommen soll. 

Damit lasse sich die hier vom Geschädigten gewählte Option, sich auch bei unbeglichener Werkstattrechnung auf das Werkstattrisiko zu berufen, nicht im Wege der Abtretung auf Dritte übertragen. Im Ergebnis trage daher bei der Geltendmachung des Anspruchs aus abgetretenen Recht stets der Zessionar das Werkstattrisiko.  Im Schadensersatzprozess zwischen der Werkstatt (als Zessionar) und dem Schädiger habe mithin die klagende Werkstatt darzulegen und gegebenenfalls zu beweisen, dass die abgerechneten Reparaturmaßnahmen tatsächlich durchgeführt wurden und dass die geltend gemachten Reparaturkosten nicht etwa wegen überhöhter Ansätze von Material oder Arbeitszeit oder wegen unsachgemäßer oder unwirtschaftlicher Arbeitsweise der Werkstatt zur Herstellung nicht erforderlich wären. 

Da die klagende Werkstatt dem nicht entsprochen habe, sei die Klage abzuweisen. 

BGH, Urteil vom 16.01.2024 - VI ZR 239/22 -

Freitag, 8. März 2024

Selbstprotokollierung durch Sachverständigen bei seiner gerichtlichen Gutachtenerstattung

Nach § 159 ZPO ist über die mündliche Verhandlung bei Gericht ein Protokoll aufzunehmen, explizit auch gem. § 160 Abs. 3 Nr. 4 ZPO über Zeugenvernehmungen und Sachverständigenanhörungen. Im Rahmen des erstinstanzlichen Verfahrens erstattete ein vom Gericht beauftragter Sachverständiger sein unfallanalytisches Gutachten in mündlicher Form, wobei diesem von der erkennenden Einzelrichterin auch die Protokollierung übertragen wurde. Es handelte sich hier um eine Prozedur, die an vielen Gerichten in Deutschland anzutreffen ist,  bei denen die beauftragten Sachverständigen ihre Gutachten im Termin vortragen (oder bei denen sie auch nur ergänzende Angaben zum schriftlichen Gutachten, ggf. auf Fragen der Beteiligten, machen),  um sie dann auch selbst zu protokollieren, wobei „protokollieren“ hier bedeutet, dass sie ihre Angaben selbst auf dem vom Gericht für die Protokollierung vorgegebenen Tonträger aufzeichnen (also Übernahme der Protokollführung). Das OLG Hamm sah dies als unzulässig an und hatte daher im Berufungsverfahren gegen ein auf dieser Grundlage ergangenes Urteil die Beweisaufnahme (in Bezug auf das Sachverständigengutachten) wiederholt. 

§ 159 Abs. 1 ZPO sehe vor, dass über die Verhandlung vor dem erkennenden Gericht (§ 128 Abs. 1, § 279 ZPO) und jede Beweisaufnahme (§ 355 Abs. 1 ZPO) ein Protokoll aufzunehmen sei. Zuständig für die Protokollierung sei bei einer Entscheidung durch die Kammer der Vorsitzende (Anm.: entscheidet der Einzelrichter, dann dieser), es sei denn, er ziehe einen Urkundsbeamten gem. § 159 Abs. 1 S. 2 ZPO zur Protokollführung hinzu.  Die Beweisaufnahme, bei der das mündliche Gutachten durch den Sachverständigen erstattet würde, würde dem Protokollzwang gem. § 160 Abs. 3 Nr. 4 ZPO unterliegen; in der ZPO sei nicht vorgesehen, dass diese Protokollierung durch den Sachverständigen selbst erfolgen könne, weshalb diese Eigenprotokollierung durch den Sachverständigen verfahrensfehlerhaft sei. 

Eine Verletzung der Protokollierung nach § 160 Abs. 3 Nr. 4 ZPO durch Eigenprotokollierung durch den Sachverständigen könne nicht gem. § 295 ZPO geheilt werden, was im Falle einer Revision auch regelmäßig zur Aufhebung des angefochtenen Urteils führe. Der Grund für die Aufhebung sei, dass es in Ermangelung einer ordnungsgemäßen Protokollierung an der für eine revisionsrechtliche Prüfung notwendigen Feststellung eines Teils der tatsächlichen Grundlagen fehle. Ausnahmsweise sei eine Aufhebung nur dann nicht veranlasst, wen sich der Inhalt der Beweisaufnahme klar aus dem Urteil ergäbe du keine Anhaltspunkte dafür bestünden, dass die zeugen oder Sachverständigen weitere Erklärungen abgegeben haben, die erheblich sein könnten. In diesem Ausnahmefall müsste sich die Wiedergabe der Aussagen im Urteil deutlich von deren Würdigung abheben und den gesamten Inhalt von deren Angaben erkennen lassen (BGH, Urteil vom 12.02.2019 - VI ZR 141/18 -; BGH, Urteil vom 21.04.1993 - XII ZR 126/91 -). 

Damit würde sich der erstinstanzliche Protokollmangel in der Berufungsinstanz als wesentlich iSv. § 538 Abs. 2 Nr. 1 ZPO darstellen, da die eigene Protokollführung durch den Sachverständigen in 3inem Zuge mit der Gutachtenerstattung keine Grundlage für eine instanzbeendende Entscheidung sein könne (BGH, Urteil vom 15.02.2017 – VIII ZR 284/15 -).   

Anmerkung: 

Die Erwägungen des OLG sind in der Sache richtig, und von daher musste das OLG die Beweisaufnahme durch Erstattung des Sachverständigengutachtens (als entscheidungserheblich in dem Rechtsstreit) wiederholen. Es handelte sich hier, wie vom OLG dargelegt, um eine protokollpflichtige Verhandlung. Die mündliche Verhandlung wird mit dem Protokoll um ein schriftliches Element ergänzt und hat nach § 165 ZPO für die Einhaltung von Förmlichkeiten Beweiskraft. Die Aufzeichnung auf Tonträger ist eine vorläufige Aufzeichnung nach § 160a ZPO, aufgrund der dann das Protokoll „unverzüglich nach der Sitzung herzustellen“ (also ohne schuldhaftes zögern , § 121 BGB) ist, § 60a Abs. 2 S. 1 ZPO, wobei Verzögerungen in der Übertragung aber nicht zur  Erschütterung der Beweiskraft führt (Stadler in Musielak/Voit, ZPO 20. Aufl. 2023, § 160a Rn. 3). Lediglich nach § 161 ZPO bedarf es einer Aufnahme in den Fällen des § 160 Abs. 3 Nr. 4 und 5 ZPO nicht (also bei Aussagen von Sachverständigen, Zeugen und Parteien und bei einer Inaugenscheinnahme), was voraussetzt, dass die Klage zurückgenommen oder anerkannt pp. wurde. Die Voraussetzungen lagen vorliegend nicht vor, wie schon dadurch deutlich wurde, dass gegen das landgerichtliche Urteil Berufung eingelegt wurde.    

In dem „Merkblatt für Sachverständige im Zivilprozess“ des Instituts für Sachverständigenwesen e.V. (Stand 2019) wird u.a. ausgeführt: „Der Richter kann dem Sachverständigen auch gestatten, seine gutachterlichen Äußerungen selbst in das Protokoll zu diktieren…“. Dem folgt das OLG Hamm ersichtlich – und nach der Grundlage des § 159 ZPO richtig – nicht. Auch wenn hier der Sachverständige „nur“ auf den für die Protokollaufnahme vorgesehenen Tonträger sprach, handelt es sich gem. § 160a ZPO um die vorläufige und dann in das Protokoll aufzunehmende Aufzeichnung und steht daher als Vorstufe dem gleich in der Verhandlung mitgeschriebenen Protokoll letztlich gleich. Die Verantwortung für das Protokoll obliegt dem zuständigen Richter, weshalb dieser es selbst (oder durch einen Urkundsbeamten, dem dann die Verantwortung obläge) aufzunehmen hat. 

In der praktischen Anwendung ist allerdings die Aufnahme des mündlich erstatteten Sachverständigengutachtens durch den Sachverständigen selbst meist sinnvoller, als eine Wiedergabe durch den zuständigen Richter. Häufig stellt man bei der Aufnahme des vom Sachverständigen erklärten fest, dass wesentliche Details seiner Angaben nicht mit protokolliert werden. Hier besteht zwar die Möglichkeit zu intervenieren und eine Ergänzung zu beantragen, was aber eine erhebliche Konzentration erfordert, da die Angaben des Sachverständigen im Hinblick auf möglicherweise erforderliche Zusatzfragen ständig durch die Aufgabe, die Protokollierung des Richters im Hinblick auf die Übertragung des vom Sachverständigen Gesagten im Hinblick auf eine Lücke zu (zumindest zunächst als wesentlich angesehene) Umstände zusätzlich beansprucht wird. Es gibt einige Sachverständige, die ihr Gutachten diktatsicher vortragen, welches dann aber bei der Wiedergabe durch den Richter auf Tonträger nur verschwommen aufgenommen wird, da z.B. der Richter relevante Umstände falsch versteht.  Es wäre daher sinnvoll, die Zivilprozessordnung dahingehend zu ändern, dass es dem Richter, insbesondere wenn (und solange) die Parteien bzw. Parteivertreter damit einverstanden sind, dem vom Gericht bestellten Sachverständigen die Protokollierung seiner Angaben übertragen könnten. 

Problematisch ist vorliegend auch, dass das OLG nicht die Kosten des Sachverständigen für sein Gutachten in der Berufungsinstanz niedergeschlagen hat, sondern die Parteien (hier die nach erneuter Erstattung des Gutachtens neuerlich unterlegene Partei) mit diesen Kosten belastet ließ. Nach § 21 GKG können Kosten niedergeschlagen werden, die bei richtiger Behandlung der Sache nicht entstanden wären. Hätte sich das Landgericht bereits an die ZPO gehalten, wäre es nicht zur erneuten Beweiserhebung durch Erstattung des Gutachtens durch den Sachverständigen gekommen. 

OLG Hamm, Urteil vom 19.12.2023 - 7 U 73/23 -

Donnerstag, 7. März 2024

6-Monatsfrist bei fiktiver / konkreter Abrechnung mit 130% vom Wiederbeschaffungswert

Im Kern ging es in dem Rechtsstreit um die Frage, ob die Weiternutzung eines unfallgeschädigten Fahrzeugs noch mindestens sechs Monate erfolgen muss, wenn eine fiktive Abrechnung des Unfallschadens erfolgen soll. Es stellt sich dann die Frage, ob die Frist von sechs Monaten als Indiz für ein Integritätsinteresse eine Fälligkeitsvoraussetzung ist. Das OLG sah darin keine Fälligkeitsvoraussetzung und machte die Fälligkeit des Schadensersatzanspruchs nicht von dem Ablauf der sechs Monate abhängig.

In seinem Urteil vom 23.05.2006 - VI ZR 192/05 - hat der BGH festgehalten, dass der Geschädigte den zum Ausgleich des durch einen Unfall verursachten Fahrzeugschaden, der den Wiederbeschaffungswert nicht übersteigt, die von einem Sachverständigen geschätzten Reparaturkosten bis zur Höhe des Wiederbeschaffungswertes ohne Abzug des Restwertes verlangen könne, wenn er das Fahrzeug (auch ggf. unrepariert) mindestens sechs Monate nach dem Unfall weiter nutze. Da es um das Integritätsinteresse gehen würde, welches vorliegend die Höhe des (fiktiven) Schadensersatzanspruchs rechtfertigen würde, wurde vom BGH dieses über die Frist als objektiv feststellbar definiert.

Das OLG ging allerdings davon aus, bei der vom BGH benannten Frist handele es sich nicht um eine Fälligkeitsvoraussetzung. Entschieden habe der BGH dies insoweit lediglich für den Fall, dass der Geschädigte den Unfallschaden, dessen Höhe zwischen dem Wiederbeschaffungswert und 130% desselben läge, konkret abgerechnet habe; in diesem Fall negiere er die notwendige Weiternutzung von sechs Monaten als Fälligkeitsvoraussetzung (BGH, Beschluss vom 18.11.2008 - VI ZB 22/08 -). Zwar ließen sich die Gründe nicht „samt und sonders“ auf den vorliegenden Fall der fiktiven Abrechnung zu übertragen. Der Gesichtspunkt, dem Geschädigten sie nicht zumutbar, die Reparatur seines Fahrzeugs innerhalb des Sechsmonatszeitraums entschädigungslos vorzufinanzieren käme bei der fiktiven Abrechnung nur in Bezug auf eine evtl. Notwendige Teilreparatur in Betracht. Allerdings sei die Weiternutzung für sechs Monate nach der Entscheidung des BGH zum konkreten Schadensersatz nur ein Indiz für das fortbestehende Integritätsinteresse, was sich hier übertragen lasse. So seien vom BGH angedachte Fallgestaltungen denkbar, in denen es vor Ablauf der sechs Monate zu einer Nutzungsaufgabe käme, ohne dass die dem Schadenersatzanspruch entgegen stünde (z.B. zweiter Unfall), was auch bei einem fiktiven Schadensersatz ebenso denkbar wäre.

Dem würden auch nicht die Urteile des BGH vom 29.04.2008 - VI ZR 220/07 - und vom 23.11.2010 - VI ZR 35/10 - entgegen stehen, da in beiden Fällen der jeweilige Geschädigte aus freien Stücken das unfallgeschädigte Fahrzeug vor Ablauf der Frist von sechs Monaten verkauft habe, weshalb sich dort die Frage nicht gestellt habe, ob das Verstreichen der Sechsmonatsfrist eine Fälligkeitsvoraussetzung sei.

Damit sah das OLG in der Sechsmonatsfrist keine Fälligkeitsvoraussetzung im Hinblick auch auf den geltend gemachten fiktiven Schadensersatz.

Anmerkung: Liest man das Urteil des BGH vom 23.05.2006 - VI ZR 192/05 - kann man den Folgerungen des OLG nicht zustimmen. Die Unbeachtlichkeit der sechsmonatigen Frist bei durchgeführter Reparatur ergibt sich bereits aus dem dafür erforderlichen Aufwand. Verhindert werden soll, dass eine Bereicherung des Geschädigten erfolgt, indem er fiktiv innerhalb der 130%-Grenze abrechnet und dann das Fahrzeug veräußert, obwohl die Erhöhung auf 130% nur erfolgte, um ein Integritätsinteresse zu wahren (BGH aaO.).  In dem Urteil vom 23.05.2006 führte der BGH aus:

„Andererseits ist zu berücksichtigen, dass eine längere Frist für die Möglichkeit einer Abrechnung mit Abzug des Restwertes den Schädiger und seinen Versicherer begünstigen bzw. zur Verzögerung der Abrechnung veranlassen könnte und von daher dem Geschädigten nicht zumutbar wäre. Deshalb erscheint in der Regel ein Zeitraum von sechs Monaten als angemessen, wenn nicht besondere Umstände ausnahmsweise eine andere Beurteilung rechtfertigen.“

Damit wird aber die Frist als Fälligkeitsfrist benannt: Der Schädiger könne die Abwicklung bei fiktiver Abrechnung hinauszögern, weshalb es der Frist bedürfe, die zum Einen das Integritätsinteresse des Geschädigten an der weiteren Nutzung des Fahrzeugs sichert, zum anderen aber den Schädiger vor einer Abrechnung schützt, die in Wirklichkeit nicht diesem Integritätsinteresse entspricht. Mit der Entscheidung des OLG kann der Geschädigte versuchen, schnell den erhöhten Schaden fiktiv abzurechnen, um dass den Verkauf vorzunehmen. Natürlich wird man in diesem Fall daran denken können, dass der Schädiger, stellt er einen Verkauf nach fiktiver Abrechnung vor Ablauf der Frist von sechs Monaten fest, einen bereicherungsrechtlichen Rückforderungsanspruch des überzahlten Betrages geltend macht; allerdings müsste er mühsam (evtl. erfolglos) nachforschen, ob ein Verkauf vor dem Ablauf der Frist erfolgte. Hier wäre die Revision zuzulassen gewesen.

OLG München, Urteil vom 11.01.2024 - 24 U 3811/23 e -