Mittwoch, 28. August 2019

Arbeitsrecht: Unwirksamkeit des Aufhebungsvertrages bei Verstoß gegen Gebot des fairen Verhandelns


Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis der als Reinigungshilfe beschäftigten Beklagten mit einem Schreiben vom 22.06.2015 zum 22.06.2015. Mit einem weiteren Schreiben die Beklagten an die Klägerin, dessen Zugang streitig ist, teilte die Beklagte mit, das Arbeitsverhältnis sei bis zum 29.02.2016 verlängert. Die Klägerin war über den 22.06.2015 hinaus tätig. Am 15.02.2015 suchte der Lebenspartner der Beklagten (der tatsächlich die Geschäfte führte) die Klägerin in ihrer Wohnung auf und unterbreitete ihr einen Aufhebungsvertrag zum gleichen Tag, den die Beklagt unterschrieb. Mit Ausnahme von überzahlten Arbeitsstunden sollten mit dem Vertrag alle wechselseitigen Ansprüche abgegolten sein. 

Die Klägerin ließ in der Folge den Aufhebungsvertrag wegen Irrtums, arglistiger Täuschung und Drohung anfechten und widerrief hilfsweise ihre Zustimmung zum Vertragsabschluss. Da die Beklagte an der Aufhebung festhielt, klagte die Klägerin auf Feststellung, dass das Arbeitsverhältnis nicht durch Aufhebungsvertrag oder Befristungsbarde beendet worden sei und fortbestünde, wobei sie geltend machte, sie habe am 15.02.2016 erkrankt im Bett gelegen. Der Lebenspartner der Beklagten habe erklärt, ihre Faulheit nicht zu unterstützen, ihr den Vertrag hingehalten und sie habe diesen dann unter dem Einfluss von Schmerzmitteln „im Tran“ unterschrieben. Rst später habe sie festgestellt, was sie gemacht habe. Der Widerruf sei gem. §§ 355 Abs. 1 und Abs. 2 BGB fristgerecht erfolgt.

Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht hatten die Klage abgewiesen. Auf die Revision der Klägerin wurde das Urteil des Landesarbeitsgerichts aufgehoben und der Rechtsstreit an dieses zurückverwiesen.

Richtig sei allerdings, so das LAG, das der Vertrag nicht nichtig oder anfechtbar sei und auch ein Widerruf nicht in Betracht käme. Eine Nichtigkeit sei vom LAG zutreffend negiert worden, da die Behauptung der Klägerin zu einem Zustand vorrübergehender Störung ihrer Geistestätigkeit nach § 105 Abs. 2 2. Alt. BGB nicht hinreichend substantiiert gewesen sei. Aus diesem Grund käme auch eine Anfechtung nach §§ 119ff BGB nicht in Betracht.

Da formularmäßige Abreden zu Art und Umfang von Hauptleistungen und der dafür zu zahlenden Vergütung nicht der Inhaltskontrolle gem. § 307 Abs. 1 S. 1 BGB unterlägen, § 307 Abs. 3 S. 1 BGB, käme auch eine Angemessenheitskontrolle nicht in Betracht.

Ein Widerrufsrecht gem. § 355 iVm. 312g Abs. 1, 312b BGB scheide auch aus, da deren Anwendungsbereich gem. § 312 Abs. 1 BGB nicht gegeben sei. Damit könne der Aufhebungsvertrag nicht deshalb widerrufen werden, da er in der Wohnung der Klägerin schlossen worden sei. Zwar handele es sich um einen Verbrauchervertrag; die Auslegung des § 312 Abs. 1 BGB, systematischer Zusammenhang und gesetzgeberischer Wille ergäben allerdings, dass hier die Norm für die arbeitsrechtliche Beendigungsvereinbarung nicht den Anwendungsbereich des 2. Kapitels und damit der §§ 312n, 312g BGB eröffnen würden.

Nicht geprüft habe aber das Landesarbeitsgericht, ob der streitgegenständliche Vertrag unter Verstoß gegen das sogen. Gebot des fairen Verhandeln zustande gekommen sei und von daher unwirksam sei. Für den Verstoß seien Anhaltspunkte erkennbar; da die Feststellungen nicht für eine Entscheidung durch das BAG ausreichen würden, müsste das Landesarbeitsgericht nach Zurückverweisung dazu neu verhandeln du entscheiden.

Der Gefahr der Überrumplung des Arbeitnehmers bei Vertragsverhandlungen (da z.B. diese zu ungewöhnlichen Zeiten oder an ungewöhnlichen Orten stattfinden) könne mit dem Gebot fairen Verhandeln begegnet werden. Bei diesem Gebot handele es sich im Zusammenhang mit Verhandlungen zu einem arbeitsrechtlichen Aufhebungsvertrag um eine durch die Aufnahme von Vertragsverhandlungen begründete Nebenpflicht iSv. § 311 Abs. 2 Nr. 1 BGB iVm. § 241 Abs. 2 BGB, da es sich bei dem Aufhebungsvertrag um ein eigenständiges Rechtsgeschäfts handele. Die aus dem bestehenden Arbeitsverhältnis stammenden Verpflichtungen zur wechselseitigen Rücksichtnahme gem. § 241 Abs. 2 BGB würden auf die Verhandlungen bezüglich der Beendigung des Arbeitsverhältnisses ausstrahlen. Das Gebot fairen Verhandelns schütze daher durch §§ 105, 119ff BGB erfasste Willensmängel unterhalb der dort  vorgegebenen Schwelle im Hinblick auf die Entscheidungsfreiheit bei Vertragsverhandlungen. Bei Vertragsverhandlungen seien regelmäßig widerstreitende Interessen wahrzunehmen, die nicht geleugnet werden müssten, sondern lediglich im Interesse der Gegenseite angemessen berücksichtigt werden. Dabei käme dem Arbeitgeber u.U. auch eine Aufklärungs- und Hinweispflicht zu (BAGE 161, 245; BAG, Urteil vom 15.12.2016 – 6 AZR 578/15 -). Danach verstößt derjenige gegen die Verpflichtungen aus § 241 Abs. 2 BGB, der eine Verhandlungssituation herbeiführe oder ausnutze, die eine unfaire Behandlung des Vertragspartners darstelle. Es ginge dabei nicht um die Schaffung einer für den Vertragspartner möglichst angenehmen Verhandlungssituation. Es müssten aber psychische Drucksituationen vermieden werden, und es dürften auch nicht körperliche oder psychische gebrechen wie auch Sprachunkenntnis ausgenutzt werden.

Der Verstoß gegen das Gebot des fairen Verhandelns sei in der Regel die Unwirksamkeit des darauf beruhenden Vertrages. Einer neuen (vertraglichen) Vereinbarung bedürfe es nicht.

Die Beweislast für den Verstoß gegen ein faires Verhandeln trage derjenige, der sich darauf berufe.

BAG, Urteil vom 07.02.2019 - 6 AZR 75/18 -

Freitag, 23. August 2019

Zwangsvollstreckung – eine defekte Achillessehne des Rechtsstaats ?

Ein nicht seltener Vorgang: Nachdem die vollstreckbare Ausfertigung eines  Titels (hier: Vollstreckungsbescheid) vorlag, wurde Zwangsvollstreckungsauftrag erteilt. Dies erfolgte auf dem amtlich vorgeschriebenen Formular am 11.12.2018. Unter dem 05.03.2019 erfolgte über die zuständige Gerichtsvollzieherverteilerstelle eine Sachstandanfrage, auf die allerdings (wie meist in solchen Fällen) nicht reagiert wurde. Die Anfrage wurde daher am 02.04.2019 unter Fristsetzung zum 16.04.2019 wiederholt. Fad letzte Schreiben wurde vom zuständigen Obergerichtsvollzieher (OGV) per Fax retourniert und mit einem Stempelaufdruck versehen, in dem es hieß:

Ich bin um zügige Erledigung bemüht. Wegen Überlastung ist aber mit längeren Bearbeitungszeiten zu rechnen. Ich bitte um Verständnis. Sie hören automatisch von mir.

Die veranlasste, gegen den zuständigen OGV eine Dienstaufsichtsbeschwerde wegen Nichtbearbeitung / Verzögerung zu erheben, die vom zuständigen Präsidenten des AG Darmstadt zurückgewiesen. Hier wird ein „überobligatorischer Einsatz“ des OGV versichert und u.a. ausgeführt:

Die Personalsituation im Gerichtsvollzieherdienst ist landesweit äußerst angespannt. Die Gerichtsvollzieherinnen und Gerichtsvollzieher des Amtsgerichts Darmstadt sind seit langer Zeit aufgrund von krankheitsbedingten Personalausfällen besonders hoch belastet.
Die Justizverwaltung versucht Belastungen, so gut es geht, horizontal auszugleichen. So hat der Präsident des Oberlandesgerichts einen Teil des Vollstreckungsbezirks Pfungstadt dem Amtsgericht Groß-Gerau zur Bearbeitung übertragen. Sie mögen daran erkennen, dass alle Seiten im Rahmen ihrer Möglichkeiten dafür arbeiten, die Situation zu verbessern.

Dieses Schreiben vom 30.04.2019 wurde mit Schreiben vom 10.05.2019 ab das Hessische Ministerium der Justiz am 10.05.2019 mit der Frage überlassen, welche Maßnahmen vorgesehen seien, um kurzfristig für eine Wiederherstellung einer effektiven Vollstreckung zu sorgen. In dessen Antwortschreiben vom 05.06.2019 heißt es u.a.:

Die Belastung des Gerichtsvollzieherdienstes ist in den letzten Jahren insbesondere infolge des Gesetzes zur Reform der Sachaufklärung deutlich angestiegen. Bei beiden hier betroffenen Gerichten kamen längerfristige krankheitsbedingte Personalausfälle hinzu.

Ich kann versichern, dass … alle zuständigen Stellen mit Nachdruck bemüht sind, die Arbeitssituation der Gerichtsvollzieherinnen und Gerichtsvollzieher landesweit im Interesse kürzerer Erledigungszahlen zu verbessern. Hierzu wurde die Zahl der zum Vorbereitungsdienst zugelassener Nachwuchskräfte in den letzten Jahren deutlich erhöht und im Haushalt 2018 wurden insgesamt acht neue Stellen für den Gerichtsvollzieherdienst ausgebracht.  … Darüber hinaus werden hier auch strukturelle Überlegungen angestellt, um in Zukunft eine Verstärkung des Personalkörpers im Gerichtsvollzieherdienst zu erleichtern.

Wegen des zu durchlaufenden Vorbereitungsdienstes von 20 Monaten Dauer wird es jedoch noch einige Zeit in Anspruch nehmen, bis die getroffenen Maßnahmen nach und nach Wirkung entfalten…

Beachtlich ist sicherlich, dass sowohl das AG Darmstadt als auch das AG Groß-Gerau, welches nach Angaben des Präsidenten des AG Darmstadt durch den Präsidenten des OLG Frankfurt einen Teil des Vollstreckungsbezirks des AG Darmstadt (nämlich Pfungstadt) übernommen hat, personell durch krankheitsbedingte Ausfälle geschwächt sind. Diese Umstrukturierung scheint also wenig sinnvoll gewesen, da beide Amtsgerichte Schwierigkeiten bei der Zwangsvollstreckung durch Gerichtsvollzieher haben. Es ist auch verwunderlich, dass „seit Jahren“ die Zahl der zum Vorbereitungsdienst zugelassener Nachwuchskräfte erhöht worden sein soll, da bei „Jahren“ sich der Vorbereitungsdienst von 20 Monaten bereits entlastend ausgewirkt haben müsste, was aber (landesweit) nicht festgestellt werden konnte. Und bezeichnend ist auch, dass auf den Haushalt 2018 im Jahr 2019 abgestellt wird, da dies doch wohl den Schluss zulässt, dass der Haushalt 2019 nichts vorsieht; allerdings wurde dies im nachfolgenden Schreiben des Ministeriums dahingehend korrigiert, dass es sich um einen Doppelhaushalt 2018/19 handele und ihm Rahmen dessen acht Planstellen in 2018 geschaffen worden seien. Und acht (!) Nachwuchskräfte können wohl bei einer landesweiten, seit Jahren bestehenden Misere in der Zwangsvollstreckung nicht als zielführend angesehen werden. (Das Schreiben ist im Anhang zu lesen).

Auf ein weiteres Schreiben vom 19.06.2019, in dem darauf hingewiesen wurde, dass das vom Ministerium als Begründung der Situation benannte Gesetz zur Reform der Sachaufklärung auf Initiative des Bundesrats (und auch Hessens) eingeführt wurde, nahm das Ministerium mit Schreiben vom 19.08.2019 Stellung. Ziel des Gesetzes sei die Beschleunigung und Erhöhung der Effektivität gewesen und Hessen habe dem (mit Ausnahme von drei Ziffern zur Abgabenordnung) zugestimmt.  Die Belastung der Gerichtsvollzieher sei in den Jahren vor dem Inkrafttreten des Gesetzes 2013 stark rückläufig gewesen. Der Belastungsanstieg sei mit 21% prognostiziert worden. 2017 sei eine Empfehlung zur Methode der künftigen Personalbedarfsberechnung erarbeitet worden. Diese sei in Hessen zum 01.01.2018 umgesetzt worden. Längerfristige Erkrankungen mit der Folge des Ausfalls im Gerichtsvollzieherdienst seien nicht nur in Darmstadt und Frankfurt am Main gegeben; allerdings bestünde seien aktuell Möglichkeiten, im Wege der Personallenkung über Abordnungen, vorübergehende Bezirkszuweisungen o.ä. Abhilfe zu schaffen, eingeschränkt.

Der Verfasser hatte bereits von den Problemen im Rahmen der Zwangsvollstreckung am 14.03.2019 berichtet (https://recht-kurz-gefasst.blogspot.com/2014/03/kommentar-zwangsvollstreckung-der.html). Und in der aktuellen Sache: Der Gerichtvollzieher war hier erfolglos tätig, da die Schuldnerin zwischenzeitlich verzogen war ….

Da der Verfasser viele Zwangsvollstreckungen zu betreiben hat, ist mithin schnell festzustellen, dass es häufig zu erheblichen Verzögerungen kommt, in Hessen aber auch in anderen Bundesländern. Dass die Gerichtsvollzieher mit dem Gesetz zur Reform der Sachaufklärung zusätzlich (erheblich) belastet wurden, ist ersichtlich. Es ist auch verständlich, dass viele Gerichtsvollzieher dem ständigen Druck gesundheitlich nicht gewachsen sind. Da die wirtschaftlichen Umstände darauf deuten, dass es vermehrt zu Zwangsvollstreckungsmaßnahmen kommen wird, die durch die Reform der Sachaufklärung zusätzlich geschaffenen Möglichkeiten nicht ausreichend sind, eine Befriedigung des Gläubigers herbeizuführen, dürfte dieser Druck noch weiter zunehmen.

Es war einige Zeit üblich, Forderungen mittels des „schwarzen Mannes“ einzutreiben. Dieser wurde nicht handgreiflich. Er war nur in schwarz gekleidet und folgte dem Schuldner überall hin, wohin sich dieser begab. Letztlich sollte er durch on seiner Schulden bloßgestellt werden und so veranlasst werden, zu zahlen. Dies wurde als Verstoß gegen die guten Sitten und sogar als strafrechtlich relevant angesehen (vgl. z.B. Beschluss des LG Bonn vom 29.11.1994 - 4 T 742/94 -). Die Selbsthilfe könne nicht an die Stelle des staatlichen Gewaltenmonopols treten.

Die Zwangsvollstreckung gehört zu dem staatlichen Gewaltenmonopol (zu zutreffend das LG Bonn aaO.). Wenn aber der Staat ein Monopol hat, welches in die Rechtsordnung direkt eingreift, muss er dieses Monopol auch besetzen, d.h. hier dem Gläubiger die effektive Möglichkeit gibt, seinen Anspruch durch Nutzung dieses Monopols zu verwirklichen. Die derzeitige Situation in der Zwangsvollstreckung durch Gerichtsvollzieher wird dem nicht gerecht. Der Gläubiger muss sich häufig bereits mühselig durch langwierige Prozesse quälen, nicht notwendig bedingt durch den Prozessinhalt, sondern auch durch langfristige Terminierungen der Gerichte (die häufig genug nicht von den gesetzlichen Möglichkeiten zur Verfahrensbeschleunigung Gebrauch machen, z.B. Terminierung mit Ladung von Zeugen nach einem schriftlichen Vorverfahren, wie es das Gesetz vorsieht, § 276 ZPO), sondern muss dann auch noch eine unverhältnismäßige Verzögerung im Rahmen der Vollstreckung hinnehmen. Ein Rechtsstaat hat auf Grund seiner Monopolstellung gerade auch im Bereich der Zwangsvollstreckung dafür zu sorgen, dass ein Rechtsanspruch effektiv durchgesetzt werden kann. Und effektiv bedeutet nicht, dass wegen Personalmangels die Zwangsvollstreckung nur schleppend erfolgt. Wenn Ziel des vom Bundesrat initiierten Gesetzes zur Reform der Sachaufklärung die Beschleunigung und Erhöhung der Effektivität gewesen sein sollen, wäre dieses Ziel nicht nur verfehlt worden, sondern das Gegenteil erreicht. Es wäre angezeigt, durch gesetzgeberische Maßnahmen, die Gerichtvollzieher wieder zu entlasten.


Die Vollstreckung eines Titels ist ein wesentlicher Teil des vorgegebenen Rechtsweges. Es handelt sich um eine Achillessehne im System. Wird die Vollstreckung (zeitlich) behindert, ist die Achillessehne defekt, das System erkrankt. Das gilt nicht nur für Hessen (vgl. WELT zu Hamburg vom 21.08.2017). 

Mittwoch, 21. August 2019

Bürgenhaftung nach Insolvenz des Schuldners einer Werkleistung (§ 650f Abs. 2 S. 2 BGB)


Die Klägerin plante und baute als Nachunternehmerin der A GmbH (Hauptunternehmerin) zwei Haustreppenanlagen in Einfamilienneubauten ein. Die Beklagte verbürgte sich für die Vergütungsforderungen gegen die Hauptunternehmerin zur Erfüllung deren Sicherungspflicht nach § 648a BGB a.F. (heute: § 650f BGB), wobei der Text der Norm sinngemäß in die Bürgschaftsurkunde übernommen worden sei.  Nachdem die A GmbH gegen ein von der Klägerin wegen ihres offenen Vergütungsanspruchs Versäumnisurteil erwirkt hatte, wurde über das Vermögen der A GmbH während der laufenden Einspruchsfrist das Insolvenzverfahren eröffnet. Der Vergütungsanspruch der Klägerin wurde in der Folge vom Insolvenzverwalter zur Tabelle festgestellt.

Mit der vorliegenden Klage nahm die Klägerin die Beklagte aus deren Bürgschaft in Anspruch. Das Landgericht wies die Klage als derzeit noch nicht fällig ab. Das OLG änderte das Urteil ab und gab der Klage Zug um Zug gegen Übergabe der Bürgschaftsurkunde und Abtretung der Werklohnforderung (mit Ausnahme eines Gewährleistungseinbehalts) statt.

Das OLG verweist darauf, dass die Regelung des § 648a Abs. 2 S. 2 BGB a.F. (heute: § 650f Abs. 2 S. 2 BGB) gegenüber dem allgemeinen Bürgschaftsrecht ein zusätzliches formales Fälligkeitskriterium  zum Schutz des Bestellers und des Bürgen enthalte, dem die sachliche Auseinandersetzung um die Hauptforderung erspart werden solle. In § 648a Abs. 2 S. 2 BGB a.F. (heute: § 650f Abs. 2 S. 2 BGB) heißt es:

Das Kreditinstitut oder der Kreditversicherer darf Zahlungen an den Unternehmer nur leisten, soweit der Besteller den Vergütungsanspruch des Unternehmers anerkennt oder durch vorläufig vollstreckbares Urteil zur Zahlung der Vergütung verurteilt worden ist und die Voraussetzungen vorliegen, unter denen die Zwangsvollstreckung begonnen werden darf.

Die Erfüllung dieses Kriteriums sei notwendige Bedingung für die Inanspruchnahme des Bürgen, der - wenn er wie  hier nicht auf Einwendungen verzichtet hat - nicht an ein mögliches Anerkenntnis durch den Hauptschuldner wie auch ein rechtskräftiges Urteil gegen diesen nicht gebunden sei, sondern Einwendungen des Hauptschuldners uneingeschränkt wie eigene erheben könne. Die Gegenansichten würden nicht überzeugen und Sinn und Zweck des § 648a Abs. 2 S. 2 BGB a.F. (heute: § 650f Abs. 2 S. 2 BGB) verkennen. Allerdings sei die Berufung hier unabhängig davon begründet.

Die notwendige Bedingung entsprechend § 488 Abs. 2 S. 2 BGB (heute: § 650f Abs. 2 BGB) sei unabhängig davon eingetreten, ob hierfür das Versäumnisurteil ausreiche, obwohl das Insolvenzverfahren während der laufenden Einspruchsfrist eröffnet worden sei und damit zur Unterbrechung des Rechtsstreits nach § 240 ZPO geführt habe, da jedenfalls die nach § 648a Abs. 2 S. 2 BGB a.F. (heute: § 650f Abs. 2 S. 2 BGB) erforderliche Fälligkeitsvoraussetzung durch die Feststellung zur Insolvenztabelle erfüllt sei, die wie ein rechtskräftiges Urteil wirke, § 178  Abs. 3 InsO; dies könnte zudem (worauf es aber nicht ankäme) auch als Anerkenntnis angesehen werden.
In der Feststellung der Forderung durch den Insolvenzverwalters liege die (die Fälligkeit der Forderung nach § 641 Abs. 1 S. 1 BGB begründende) Abnahme der Werkleistung, wofür auch der Insolvenzverwalter nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens zuständig war; daran sei die Beklagte als Bürgin auch gebunden, da die Abnahme zur planmäßigen Durchführung des Werkvertrages gehöre. Mit der Abnahme läge die Darlegungs- und Beweislast für Werkmängel bei dem Besteller und damit hier der Beklagten als Bürgin. Hier seien substantiiert keine Mängel behauptet worden.

Da der Bauvertrag einen Gewährleistungseinbehalt von 5% vorsehe, sei dieser Betrag bei dem geltend gemachten Zahlungsanspruch in Abzug zu bringen. Der Verweis der Klägerin darauf, dass im Prozess gegen die Hauptunternehmerin A GmbH ein Annahmeverzug festgestellt worden sei, hindere den Abzug nicht, da der Bürge an dieses Urteil nicht gebunden sei.

OLG Frankfurt am Main, Urteil vom 25.02.2019 - 29 U 81/189 -

Sonntag, 18. August 2019

Städtebaulicher Vertrag über den Kauf eines Grundstücks und Dauer des Wiederkaufsrechts der Gemeinde


Der Kläger kaufte am 17.09.1996 von der beklagten Stadt  ein in einer ehemaligen Kleingartenanlage, die von der Stadt in 1959 in ein Siedlungsgebiet umgewandelt wurde, zum Preis von DM 101.790,00 ein 552qm großes  Grundstück, wobei zwischen den Parteien Streit bestand, ob dies einen Preisnachlass von 20% oder 29% vom Wert darstellt. Im Gegenzug zu dem Preisnachlass erhielt die Beklagte ein Wiederkaufsrecht von 30 Jahren, beginnend mit dem Eigentumserwerb, u.a. für den Fall, dass der Kläger das Grundstück Dritten ganz oder teilweise verkauft oder zur eigentumsähnlichen Nutzung überlässt. Die Wahrung des Eigentums an dem Grundstück erfolgte am 06.05.1999 im Grundbuch. Nachdem der Kläger die Beklagte 2013 darüber informierte, dass er das Grundstück verkaufen wolle, bot ihm diese an, gegen Zahlung von € 47.078,78 auf das Wiederkaufsrecht, welches nach ihrer Ansicht am 16.03.2017 ende, zu verzichten. Der Kläger zahlte den Betrag unter Vorbehalt der Klärung der Wirksamkeit des Wiederkaufsrechts und verkaufte mit Vertrag vom 01.02.2016 das Grundstück zu € 335.000,00.

Die Klage auf Rückzahlung der € 47.078,78 war erfolgreich. Das OLG wies die Berufung der Beklagten zurück. Auf die Revision der Beklagten änderte das Landgericht das Urteil unter Abweisung der Klage ab.

Nach Auffassung des BGH stünde dem Kläger kein Anspruch gem. § 812 Abs. 1 S. 1 1. Alt auf Rückzahlung des unter Vorbehalt gezahlten Ablösebetrages zu.

Zutreffend sei allerdings die Auffassung des OLG, dass die Regelung zum Wiederkaufsrecht im Hinblick auf die Dauer von 30 Jahren nichtig sei, § 134 BGB. Sie stelle sich sowohl nach § 6 Abs. 3 S. 4 BauGB-MaßnahmenG idF. Vom 22.04.1993 (jetzt: § 11 Abs. 2 S. 1 BauGB) als auch nach § 9 Abs. 1 AGBG (iVm. Art. 229 § 5 S. 1 EBGB) als eine unangemessene Vertragsbestimmung dar (dabei ließ es dahingestellt ob, Klauseln eines privatrechtlichen städtebaulichen Vertrages nach dem Ablauf der Frist zur Umsetzung der EG-Richtlinie über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen zum 31.12.1994 alleine an den Vorgaben des § 11 Abs. 2 S. 1 BauGB oder auch an §§ 307ff BGB zu messen seien, da der Vertrag vorher geschlossen wurde). Nach § 6 Abs. 2 BauGB-MaßnahmenG 1993 müssten in Ansehung des Ziels der Bauleitplanung, die Nutzung entsprechend den Festsetzungen des Bebauungsplanes oder die Deckung des Wohnbedarfs,  die in dem städtebaulichen Vertrag vereinbarten Leistungen insgesamt angemessen sein. Das bedeute, dass bei wirtschaftlicher Betrachtung des Gesamtvorgangs die Gegenleistung nicht außer Verhältnis zu der Bedeutung und dem Wert der von der Behörde erbrachten / zu erbringenden Leistung stünde und auch ansonsten die Übernahme von Pflichten zu keiner unzumutbaren Belastung für den Vertragspartner der Behörde führen würfe. Dieser Prüfungsmaßstab gelte auch im Rahmen von § 9 AGBG. Danach sei die an sich zulässige Bindungswirkung im Hinblick auf deren Dauer von 30 Jahren unwirksam. Dies würde auch bei einem von der Beklagten behaupteten Nachlass von 29% gelten. Es handele sich um eine Beschränkung im Rahmen einer Subventionierung durch die öffentliche Hand, bei der die den Käufer auferlegten Bedingungen nicht zu einer unzumutbaren Belastung führen dürften. Es bedürfe also einer zeitlichen Begrenzung zur Ausübung des Wiederkaufsrechts im Verhältnis zu Höhe des Nachlasses. Besondere Umstände, die hier diese Bindungsdauer rechtfertigen könnten lägen nicht vor. Weder habe die Subventionierung über dem üblichen Rahmen (bei Einheimischenmodellen idR. 30%) gelegen, noch seien andere diese Dauer rechtfertigende Umstände erkennbar.

Die Nichtigkeit der zeitlichen Komponente führe aber nicht auch zur Nichtigkeit des vereinbarten Wiederkaufs als solchem. Die Lücke sei durch §§ 157, 133 BGB zu schließen. Das Verbot der geltungserhaltendem Reduktion von Klauseln nach §§ 9ff AGBG (heute: §§ 307ff BGB)  gelte nichts ausnahmslos. Bei Fehlen gesetzlicher Regelungen, die an die Stelle der unwirksamen Klausel treten (vgl. § 306 Abs. 2 BGB) würde die ersatzlose Streichung der Klausel zu einem Ergebnis, dass den beiderseitigen Interessen nicht mehr in vertretbarer Weise Rechnung trage, sondern das gesamte Vertragsgefüge einseitig zugunsten des Vertragspartners des Verwenders verschiebe, so dass diesem ein Festhalten an dem Vertrag nicht mehr zumutbar wäre, käme keine ergänzende Vertragsauslegung in Betracht (BGH, Urteil vom 16.04.2010 - V ZR 175/90 - zu § 306 Abs. 3 BGB; BGH, Urteil vom 06.07.2016 - IV ZR 44/15 -). Nach Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13/EWG würde die nach dem Vertrag bestehende formale Ausgewogenheit der Rechte und Pflichten der Vertragspartner unter Berücksichtigung ihrer beiderseitigen Interessen durch eine materielle Ausgewogenheit ersetzt und so ihre Gleichheit wiederhergestellt (BGH, Urteil vom 06.04.2013 - VIII ZR 80/12 -).

Die Beklagte habe dem Kläger das Grundstück zu einem unter dem Verkehrswert liegenden Preis verlauft, was ihr in Ansehung des Gebots der sparsamen Verwendung öffentlicher Mittel nur gestattet sei, wenn dies der Erfüllung legitimer öffentlicher Aufgaben diene und die zweckentsprechende Mittelverwendung sichergestellt sei (§ 90 GO NRW). Das zeitlich befristete Wiederkaufsrecht würde mithin erst die Grundlage für den Verkauf begründen können. Die ersatzlose Streichung der Klausel würde dazu führen, dass der Vertrag insgesamt keinen Bestand mehr haben könnte, käme es nicht zu einer ergänzenden Vertragsauslegung gem. § 6 Abs. 3 AGBG (jetzt: § 306 Abs. 3 BGB) (dazu EuGH, Urteil vom 07.08.2018  C-96/16 und C-94/17; BGH vom 16.04.2016 - VIII ZR 79/15 -). Durch die Nichtigkeit der Klausel insgesamt und damit dem fehlenden Bestand für den Vertrag  würde der Kläger entgegen der Zielsetzung des Unionsgesetzgebers eines bestmöglichen Verbraucherschutzes schlechter gestellt als durch eine ergänzende Vertragsauslegung.

Die ergänzende Vertragsauslegung habe nach dem objektivierten hypothetischen Parteiwillen so zu erfolgen, dass ein Gleichgewicht der Rechte und Pflichten der Vertragsparteien wiederhergestellt  und die materielle Ausgewogenheit gewahrt würde. Ausgehend von einem vom Kläger behaupteten Preisnachlass von 20% würde dies bei einer Dauer des Wiederkaufsrechts von 20 Jahren der Fall sein. Eine solche Frist diene dem von der Gemeinde verfolgten Zweck der Verhinderung einer Grundstücksspekulation und stelle zugleich eine adäquate Gegenleistung des Käufers für den verbilligten Erwerb dar.

Da die Weiterveräußerung rund 17 Jahre nach der grundbuchlichen Wahrung bzw. 19,5 Jahre nach Abschluss des Kaufvertrages erfolgte, könne der Kläger den Ablösebetrag nicht zurückverlangen.

BGH, Urteil vom 15.02.2019 - V ZR 77/18 -

Freitag, 16. August 2019

Erledigung der Hauptsache, § 91a ZPO: Zu frühe Schadensersatzklage kann zur Kostentragung führen


Immer wieder geht es dem Anspruchsteller nicht schnell genug. Ereignet sich ein Verkehrsunfall, so will er möglichst umgehend nach Mitteilung des Schadensfalls dem ihm zustehenden Schadensersatz vom gegnerischen Haftpflichtversicherer haben. Häufig lassen sich Anwälte dazu drängen, schnell eine Klage zu erheben. Dies mit der ebenfalls immer wieder auftretenden Konsequenz, dass der Versicherer nach Zustellung der Klage zahle, sich damit die Hauptsache erledigt – und der geschädigte Kläger gleichwohl die Kosten des Verfahrens zu tragen hat.

Der hier zugrunde liegende Verkehrsunfall ereignete sich am 29.08.2018. Am 29.08.2018 gab der Kläger ein Schadensgutachten in Auftrag, welches am 13.09.2018 erstellt wurde. Mit E-Mail vom 24.09.2018, deren Zugang zwischen den Parteien streitig war, forderte der spätere Prozessbevollmächtigte des Klägers die beklagte Haftpflichtversicherung auf, den  näher bezifferten Schadensbetrag binnen 14 Tagen auf sein Fremdgeldkonto zu überweisen. Mit Schreiben vom 11.10.2018 forderte er den Versicherer auf, nunmehr sein Schreiben vom 24.09.2018 innerhalb von sieben Tagen ab Datum dieses Schreibens zu erledigen, andernfalls er klagen werde. Mit E-Mail vom 30.10.2018 teilte die Beklagte dem Klägervertreter mit, sie werde für den Schaden dem Grunde nach aufkommen, sein Schreiben (Mail) vom 24.09.2018 läge aber nicht vor und bat ihn, den Schaden zu beziffern und zu belegen.  Der Kläger ließ am 05.11.2018 eine auf den 24.10.2018 datierende Klage einreichen. Mit Schreiben vom 09.11.2018 teilte die Beklagte mit, von einer Prozessführung absehen zu wollen. Der Klagebetrag sei am gleichen Tag überwiesen worden und sie ginge von einer Klagerücknahme aus. Im Falle einer Hauptsacheerledigungserklärung durch den Kläger würde sie dieser unter Verwahrung gegen die Kosten zustimmen, wobei sie auf ihr ohne Reaktion gebliebenes Schreiben vom 30.10.2018 verwies. Der Kläger erklärte die Hauptsache in der Folge als erledigt. Das Landgericht erlegte der Beklagten gem. § 91a ZPO die Kosten mit Beschluss vom 10.01.2019 auf. Das Landgericht führte aus, dass § 93 ZPO (Regelung zur Kostentragung bei sofortigem Anerkenntnis) nicht anzuwenden sei, da der Sachvortrag des Klägers zu einem vorprozessualen Verzug von der Beklagten nicht wirksam bestritten worden sei. Dagegen wandte sich die Beklagte mit ihrer rechtzeitigen und nach Auffassung des OLG begründeten Beschwerde, auf Grund der das OLG den Beschluss des Landgerichts abänderte und die Kosten dem Kläger auferlegte.

Die Beklagte machte im wesentlichen geltend, das Sachreiben (die Mail) vom 24.09.2018 nicht bekommen zu haben. Lediglich aus dem weiteren Schreiben vom 30.10.2018 habe sie von der Existenz erfahren. Aug ihre entsprechende Mitteilung an den Klägervertreter vom 30.10.2018 sei keine Reaktion erfolgt. Eine Regulierung sei mangels einer Information über den Schadensumfang nicht möglich gewesen. Deshalb sei die Klage verfrüht erhoben worden. Zudem beginne die Prüfungs- und Reaktionsfrist erst mit Zugang eines spezifizierten Anspruchsschreibens und betrage je nach den Umständen des Einzelfalls in der Regel vier bis sechs Wochen. Zum Zeitpunkt der Datierung der Klageschrift seien erst vier Wochen seit dem Anspruchsschreiben verstrichen gewesen.

Das OLG folgte der Ansicht der Beklagten, dass diese keine Veranlassung der Klage gegeben habe und unmittelbar nach Zustellung der Klage reguliert habe. Nach dem Grundsatz des § 93 ZPO seien daher die Kosten dem Kläger aufzuerlegen. Im Rahmen der Kostenentscheidung nach § 91a ZPO würden die allgemeinen Kostengrundsätze der §§ 91ff ZPO, und damit auch § 93 ZPO gelten; nach § 93 ZPO seien die Kosten einer ohne Veranlassung erhobenen Klage dem Kläger aufzuerlegen, wenn der Beklagte unmittelbar nach Kenntnis einer spezifizierten Anspruchsbegründung (hier in der Klageschrift) zahle.

Zwar sei dem Kläger bei Abfassung der auf den 24.10.2018 datierenden Klageschrift das Schreiben vom 30.10.2018 noch nicht bekannt gewesen, aber bei Klageeinreichung am 05.11.2018 als auch bei Zahlung des Gerichtskostenvorschusses am 02.11.2018. Anlass zur Klageerhebung gebe nur derjenige, der durch sein Verhalten vernünftigerweise den Schluss auf die Notwendigkeit einer Klage zulasse (BGH, Beschluss vom 08.03.2015 - VIII ZB 3/04 -). Dabei sei hier zu berücksichtigen, dass einem Kraftfahrt-Pflichtversicherer, wie der Beklagten, eine Prüfungszeit zuzubilligen sei, die erst mit einem spezifizierten Anspruchsschreiben (welches die Angabe zum Haftungsgrund und zur Haftungshöhe enthalten muss) zu laufen beginne und vor deren Ablauf auch keinen Verzug eintreten lasse und auch keine Klage veranlasse (wenn nicht zuvor der Anspruch abgelehnt wird). Würde vor Ablauf der Prüfungsfrist Klage erhoben, könne der Versicherer noch ein Anerkenntnis unter Verwahrung gegen die Kostenlast abgeben (§ 93 ZPO) oder bei fristgerechter Regulierung und anschließender Klagerücknahme oder übereinstimmender Erledigungserklärung auf eine ihn günstige Kostenentscheidung vertrauen. Die Prüffrist betrage regelmäßig vier bis sechs Wochen, wobei es, auch wenn der Versicherer seine Prüfung möglichst beschleunigen müsse, keine starren Fristen gebe und maßgebend die Umstände des Einzelfalls seien. Auch danach sei hier nicht von einer Veranlassung zur Klageerhebung auszugehen. Für den Zugang des Anspruchsschreibens vom 24.09.2018 sei (anders als vom Landgericht angenommen) der Kläger darlegungs- und beweisbelastet, ohne einen Beweis für den Zugang zu erbringen. Zudem habe er nicht mehr auf das Schreiben der Beklagten vom 30.10.2018 reagiert. Es bedürfe daher hier keiner Entscheidung darüber, welche Prüffrist im Rahmen von vier bis sechs Wochen angemessen wäre, da ein spezifiziertes Anspruchsschreiben überhaupt nicht festzustellen sei. Es sei zu erwarten gewesen, dass die Beklagte bei einer Bezifferung des Schadens entsprechend ihrer Ankündigung reguliert hätte, wie sie es auch unmittelbar nach Zustellung der Klage getan habe.

Das Vorbringen der Beklagten im Beschwerdeverfahren sei auch nicht verspätet. Im Beschwerdeverfahren sind neue Angriffs- und Verteidigungsmittel zulässig, da die Beschwerdeinstanz grundsätzlich eine volle zweite Tatsacheninstanz darstelle, für die die Einschränkungen des § 529 Abs. 1 ZPO für das Berufungsverfahren nicht gelten würden.

Anmerkung: Es ist mithin anzuraten, dem Kfz-Versicherer ausreichend Zeit für eine Prüfung zu belassen und sicherzustellen, dass die den Anspruch dem Grunde und der Höhe nach rechtfertigen Umstände auch dem Versicherer zugehen.

Saarländisches OLG, Beschluss vom 17.05.2019 - 4 W 4/19 -

Donnerstag, 15. August 2019

Steuerrecht: Bindungswirkung der vom unzuständigen Finanzamt erteilten verbindlichen Auskunft


Die Klägerin war Kommanditistin der Beigeladenen (einer GmbH & Co. KG). Nachdem die Beigeladene hatte nach Veräußerung eines Grundstücks eine Rücklage nach § 6b EStG gebildet. Da die Beigeladene über kein Ersatzwirtschaftsgut verfügte, plante die Klägerin im Rahmen einer Bauherrengemeinschaft den Bau von Tiefgaragenplätzen und wollte zum Zwecke der Übertragung der Rücklage die Fristverlängerung auf sechs Jahre gem. § 6b Abs. 3 S. 3 EStG in Anspruch nehmen. Sie stellte deshalb im Juni 2008 bei dem für sie betreffend der einheitlichen und gesonderten Feststellung zuständige Finanzamt (FA) S. einen Antrag auf verbindliche Auskunft unter Darlegung der Umstände. Das FA S. erteilte unter Bezugnahme auf die Darstellung der Klägerin die gebührenpflichtige verbindliche Auskunft, dass die Rücklage, soweit sie auf die Klägerin entfällt, in deren Gesamthandsvermögen übertragen werden könne. Auch die vorgesehene buchhalterische Abwicklung entspräche den Richtlinien. Sofern die „formalen Voraussetzungen des § 6b Abs. 4 EStG eingehalten werden, werde die Übertragung anerkannt“. Die Beigeladene löste die Rücklage auf und buchte den auf die Klägerin entfallenden Betrag ertragsneutral unter Zuschreibung zum Gesellschafterdarlehen aus und führte die Rücklage in ihren Bilanzen fort.

Im Rahmen einer bei der Beigeladenen durchgeführten steuerlichen Außenprüfung wurde die steuerneutrale Übertragung der anteiligen Rücklage nicht anerkannt. Die Auskunft des örtlich unzuständigen FA S. entfalte keine Bindungswirkung, da die Umstellung des Wirtschaftsjahres bei der Beigeladenen nicht mitgeteilt worden sei und das zuständige FA, der Beklagte des Verfahrens, nicht beteiligt worden sei. Der Auflösungsbetrag sei daher steuerpflichtiger Gewinn der Klägerin. Der Beklagte daher seinen unter Nachprüfungsvorbehalt stehenden Bescheid über die gesonderte und einheitliche Feststellung von Besteuerungsgrundlagen den Gewinn der Beigeladenen hinsichtlich des Gewinnanteils der Klägerin, indem es die Rücklage nach § 6b EStG auch für die Klägerin zinswirksam auflöste. Der Einspruch der Klägerin wurde zurückgewiesen. Hiergegen erhob die Klägerin Klage.

Das Finanzgericht (FG) stellte zunächst die Zulässigkeit der Klage fest und machte sodann Ausführungen zu einer Rücklage nach § 6b EStG. Im Hinblick auf den Zeitraum sei zwar die Rücklage, wenn sie am Schluss des vierten bzw. sechsten Jahres nach ihrer Bildung noch vorhanden sei, grundsätzlich gewinnerhöhend aufzulösen. Hier hätten die Voraussetzungen für eine Verlängerung der Reinvestitionsfrist von vier auf sechs Jahre (bei der Klägerin) vorgelegen. Einzig kontrovers sei, ob die Rücklage bei der Beigeladenen gewinnneutral hätte aufgelöst werden und auf die Klägerin als Mitunternehmerin übertragen werden dürfen, bevor die Herstellung des Reinvestitionsgutes abgeschlossen war  und ohne auf Seiten der Beigeladenen eine Ergänzungsbilanz für die Klägerin zu bilden. Dies ergäbe sich, unbeschadet der materiell-rechtlichen Richtigkeit (BFH, Urteil vom 22.11.2018 - VI R 50/16 -) aus der verbindlichen Auskunft des FA S.

§ 89 Abs. 2 S. 1 AO sehe vor, dass Finanzämter auf Antrag verbindliche Auskünfte über eine steuerliche Beurteilung von genau bestimmten, noch nicht verwirklichten Sachverhalten erteilen, wenn in Ansehung der steuerlichen Auswirkungen ein besonderes Interesse bestünde. Diese Auskünfte seien für die Besteuerung des Antragstellers verbindliche (§ 2 Abs. 1 S. 1 StAuskV) Verwaltungsakte, die nach § 133 BGB zu beurteilen seien. Sie würden mit Bekanntgabe wirksam, §§ 124 Abs. 1 S. 1 AO iVm. 122 AO) und eine Rechtswidrigkeit sei grundsätzlich ohne Bedeutung. Nur eine Nichtigkeit käme in Betracht (§§ 124 Abs. 3, 125 Abs. 1 AO), der einen besonders schwerwiegenden Fehler voraussetze und offenkundig sein müsse (BFH, Urteil vom 12.08.2015 - I R 45/14 -). Eine verbindliche Auskunft durch das FA S. in diesem Sinne sei zu bejahen.

Die Nichtangabe des Wirtschaftsjahres bei der Beigeladenen sei ohne Bedeutung, da lediglich die Verlängerung der Reinvestitionsfrist von vier auf sechs Jahre entscheidend gewesen sei, bei der hier datumsmäßig die Umstellung des Wirtschaftsjahres ohne Belang gewesen sei.

§ 2 Abs. 1 S. 1 StAuskV entfalte auch Bindungswirkung für die Klägerin in personeller Hinsicht. Es könne dahinstehen ob in Fällen eines mehrstufigen Feststellungsverfahrens der Antrag von der Beigeladenen als auch der Klägerin zu stellen gewesen sei (§§ 1 Abs. 3, 2 Abs. 3 StAuskV, § 178 Abs. 2 S. 2 AO), wobei das FG von einer alleinigen Antragsbefugnis der Klägerin in Ansehung einer mitunternehmerbezogenen Sichtweise des § 6b EStG ausgeht, da die formelle Rechtmäßigkeit nicht die Bindungswirkung bzw. Wirksamkeit ausschließen würde (BFH, Urteil vom 12.08.2015 - I R 45/14 -).

Selbst wenn (was nicht unzweifelhaft sei) das FA S. örtlich nicht zuständig gewesen sein sollte, würde dies die Bindungswirkung nicht betreffen. Die Bindungswirkung würde nur im Falle der Nichtigkeit entfallen. Soweit in § 2 Abs. 1 S. 1 StAuskV und dem Anwendungserlass zur Abgabenordnung zu § 89 ausdrücklich ausgeführt wird, dass Auskünfte unzuständiger Behörden keine Bindungswirkung entfalten würden, würde es schon in Ansehung von Art 80 Abs. 1 GG an einer tragfähigen Ermächtigungsgrundlage ermangeln. Es handele sich um einen solch fundamentalen Eingriff in die gesetzliche Regelung betreffend der Wirksamkeit von Verwaltungsakten, dass diese entweder im Gesetz selbst (§ 89 Abs. 2 AO) oder deutlich in die Ermächtigungsgrundlage hätte aufgenommen werden müssen. Auch würde die Bindungswirkung nicht deshalb entfallen, da das FA S. und nicht die Beklagte die verbindliche Auskunft erteilt habe; auch bei Steuerbescheiden, die von einer unzuständigen Behörde erlassen worden seien, könne eine Durchbrechung ihrer Bestandskraft nur bei Vorliegen entsprechender Rechtsgrundlagen erfolgen. Maßgebend sei alleine, dass sich die Verwaltungsakte auf sämtliche Steuerfestsetzungen beziehen würden. Dem entspräche auch § 2 Abs. 1 S. 1 StAuskV, da dort von der Bindung „für die Besteuerung des Antragstellers gesprochen würde.

Auch sei die verbindliche Auskunft nicht wieder aufgehoben worden. Auch eine konkludente Aufhebung sei nicht erfolgt, da das Verhalten der Betriebsprüfung dahin gegangen sei, dass die Auskunft von vornherein keine Wirksamkeit entfalte.

FG Münster, Urteil vom 17.06.2019 - 4 K 3539/16 F -

Dienstag, 13. August 2019

Darlegungslast des Patienten im Arzthaftungsprozess bei vorliegenden negativen Schlichtungsgutachten


Die Erblasserin war bei der Beklagten wegen Beschwerden an der Lendenwirbelsäule  in stationärer Behandlung, in deren Verlauf sie auch am 27.01.2012 operiert wurde. Postoperativ klagte sie über Übelkeit und Bauchschmerzen. Sie verstarb am 02.02.2012. Im Autopsiebericht wird als Todesursache eine akute Koronarinsuffizienz u.a. nach vorausgegangenem Darmverschluss angegeben. Die Klägerin, die materielle und immaterielle Ansprüche aus eigenem und ererbten Recht geltend machte, führt den Tod der Erblasserin auf einen unerkannt und unbehandelt gebliebenen Darmverschluss zurück.

Vorgerichtlich wurde ein Schlichtungsverfahren vor der Schlichtungsstelle für Arzthaftpflichtfragen der zuständigen Ärztekammer durchgeführt. In diesem Rahmen wurde ein neurochirugisches Gutachten erstellt, demzufolge ein Behandlungsfehler nicht festzustellen sei. Die nachfolgende Klage wurde von Land- und Oberlandesgericht zurückgewiesen. Die gegen die Entscheidung des OLG eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde zum BGH führte zur Aufhebung des Urteils des OLG und Zurückverweisung.

Der BGH folgte nicht der Auffassung des OLG, ein möglicher Behandlungsfehler sei von der Klägerin nicht hinreichend substantiiert dargelegt worden. Dabei stützte sich das OLG auf das im Schlichtungsverfahren eingeholte Gutachten; da dagegen seitens der Klägerin keine substantiierten Einwendungen erhoben worden seien, sei es nicht erforderlich gewesen, ihrem Antrag auf Einholung eines (weiteren) Sachverständigengutachtens (auch unter Berücksichtigung der im Arzthaftpflichtprozess geltenden geringeren Anforderungen an die Darlegungslast des Patienten)  nachzugehen.

Der BGH sah in seiner Entscheidung die Substantiierungsanforderung des OLG als überspannt an. Vom Patienten (und damit auch des Erben) könne keine genaue Kenntnis medizinischer Vorgänge erwartet oder gefordert werden; ihm fehle die genaue Einsicht in das Behandlungsgeschehen sowie das Fachwissen zur Erfassung und Darlegung des Konfliktstoffs. Vom BGH wurde darauf verwiesen, dass sich der Patient zur Prozessführung nicht medizinisches Fachwissen aneignen müsse. Das aber bedeutet auch, dass er nicht verpflichtet ist, sich einen Rechtsanwalt zu suchen, der über dieses Wissen verfügt oder zur Prozessbegleitung einen Mediziner zu beauftragen. Deshalb, so der BGH, könne sich der Patient auf Vortrag beschränken, der alleine die Vermutung eines fehlerhaften Verhaltens des Behandlers aufgrund der Folgen für den Patienten gestatte (so bereits u.a. Urteile des BGH vom 19.02.2019 - VI ZR 505/17 - und vom 24.02.2015 - VI ZR 106/13 -). Diese eingeschränkte primäre Darlegungslast des Patienten ginge zur Gewährleistung einer Waffengleichheit der Parteien regelmäßig mit einer gesteigerten Verpflichtung des Gerichts zur Sachverhaltsaufklärung (§ 139 ZPO) bis hin zur Einholung eines Sachverständigengutachtens (§ 144 Abs. 1 S. 1 ZPO) von Amts wegen einher, soweit der Patient auf eine entsprechende Aufbereitung des Sachverhalts angewiesen sei (BGH, Urteil vom 19.02.2019 aaO.; BGH, Urteil vom 08.01.1991 - VI ZR 102/90 -).  

Vorliegend lag allerdings ein medizinisches Gutachten aus dem vorangegangenen Schlichtungsverfahren vor. Dieses könne, so der BGH, mittels des Urkundenbeweises auch vom Gericht gewürdigt werden (BGH, Beschluss vom 13.12.2016 - VI ZB 1/16 -). Das aber dürfe nicht zu einer Erhöhung der Darlegungslast des Patienten führen, da dieser für den Prozess ansonsten doch gezwungen wäre, sich medizinisches Fachwissen für einen schlüssigen Klagevortrag anzueignen. Auch sei ein Schlichtungsgutachten auf Beweisebene nicht geeignet, den prozessualen Sachverständigenbeweis zu ersetzen; eine Verwertung gem. § 411a ZPO sei mangels gerichtlicher oder staatsanwaltschaftlicher Veranlassung nicht möglich. Als Urkunde würde aber das Gutachten nur bezeugen, dass der Schlichtungsgutachter dieses erstattet hat, nicht aber die Richtigkeit des Inhalts. Ob die im Schlichtungsgutachten enthaltene Einschätzung inhaltlich richtig ist, unterliege der freien richterlichen Würdigung. Hier müsse der Tatrichter einen (vom Gericht beauftragten) Sachverständigen hinzuziehen, unabhängig davon, ob die Behauptung der Partei in dem urkundsbeweislich herangezogen Gutachten eine Stütze findet oder nicht. Der Urkundsbeweis dürfe nie dazu führen, dass den Parteien zustehende Recht, einen Sachverständigenbeweis zu führen, zu verkürzen (BGH, Urteil vom 06.06.2000 - VI ZR 98/99 -).

Diese Grundsätze seien vom OLG nicht beachtet worden, indem das OLG die Auffassung vertrat, der mit dem Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachten versehene Vortrag der Klägerin zu einem angeblichen Behandlungsfehler der Beklagten sei nicht hinreichend substantiiert, was die die Klägerin in ihrem Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 GG) verletzt habe. Indem die Klägerin unter Bezugnahme auf die Autopsiebericht behauptete, die Erblasserin habe einen von der Beklagte schuldhaft verkannten postoperativen Darmverschluss, an dem sie verstorben sei, gehabt, hätte sie alle Voraussetzungen für den Schadensersatzanspruch vorgetragen. Nach den benannten Grundsätzen hätte es eines weitergehenden Vortrages nicht bedurft. Dass der Klägerin ungünstige Gutachten aus dem Schlichtungsverfahren habe die Substantiierungsanforderungen nicht erhöht, sondern lediglich dazu geführt, dass sich ein gerichtlich zu bestellender Sachverständiger und das Gericht selbst auf Beweisebene mit dem Schlichtungsgutachten auseinandersetzen müsse, § 286 ZPO.

BGH, Beschluss vom 12.03.2019 - VI ZR 278/18 -