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Mittwoch, 3. August 2022

Ärztlicher Behandlungsfehler und Beginn des Laufs der Verjährung, §§ 195, 199 BGB

Bei dem Antragsteller wurde von Ärzten der Beklagten am 25.01.2017 eine Leistenhernienoperatin durchgeführt. Danach bildeten sich beim ihm eine Sepsis mit Nierenversagen bei 4-Quadranten-Reritonitis. Nach Ansicht des Antragstellers sei dies auf eine unzureichende Reaktion der Ärzte auf die von ihm geäußerten extremen Schmerzen und eine unzureichende Befunderhebung zurückzuführen.

Für seien Klage auf Schadensersatz in Form von Schmerzensgeld, vorgerichtlichen Rechtsanwaltsgebühren und einer Einstandsverpflichtung der Beklagten für mögliche kausale Zukunftsschäden beantragte der Antragsteller Prozesskostenhilfe, § 114 ZPO. Die Beklagte erhob im Rahmen ihrer Stellungnahme die Einrede der Verjährung. Mit Hinweis auf die eingetretene Verjährung lehnte das Landgericht die Bewilligung von Prozesskostenhilfe ab, da es damit an einer für die Gewährung von Prozesskostenhilfe notwendigen hinreichenden Erfolgsaussicht für die beabsichtigte Klage ermangele, § 114 Abs. 1 S. 1 ZPO.

Die dagegen von dem Antragsteller eingelegte sofortige Beschwerde war erfolgreich.

Wie auch bereits das Landgericht sah auch das Oberlandesgericht im Rahmen seiner Beschwerdeprüfung den Vortrag des Antragstellers zu einer Haftung der Beklagten als ausreichend an, wobei es darauf verwies, dass zwar der Patient einen Behandlungsfehler darlegen und beweisen müsse, allerdings von ihm im Hinblick auf das bestehende Informationsgefälle zwischen ihm und dem Arzt keine genauen Kenntnisse der medizinischen Vorgänge erwartet und gefordert würden und mithin nur maßvolle Anforderungen an seien Substantiierungslast zu stellen seien, wonach er sich auf einen Vortrag beschränken könne, der die Vermutung eines ärztlichen Fehlverhaltens aufgrund der Folgen für den Patienten gestatte (BGH, Urteil vom 08.06.2004 - VI ZR 199/03 -).

Gegen die nach dem für die Gewährung der Prozesskostenhilfe sprechende Erfolgsaussicht gemäß Vortrag des Antragstellers könnte danach lediglich der Eintritt der Verjährung sprechen. Es gilt hier für die in Betracht kommenden Ansprüche gem. §§ 630a ff, 823ff BGB die regelmäßige Verjährungsfrist nach §§ 195, 199 Abs. 1 BGB von drei Jahren, beginnend mit dem Schluss des Kalenderjahres, in dem der Anspruch entstanden ist und der Gläubiger von den den Anspruch begründenden Umstände und der Person des Schuldners Kenntnis erlangt oder aber ohne grobe Fahrlässigkeit hätte erlangen müssen. Dies zugrunde legend wies das OLG als Beschwerdegericht darauf hin, die erforderliche Kenntnis bzw. grob fahrlässige Unkenntnis sei nicht schon dann zu bejahen, wenn dem Patienten lediglich der negative Ausgang der ärztlichen Behandlung bekannt sei. Vielmehr sei erforderlich, dass er auch auf einen ärztlichen Behandlungsfehler als Ursache hätte schließen können müssen. Erforderlich sei dazu nicht nur die Kenntnis von den Tatsachen, aus denen sich auch für den medizinischen Laien ergäbe, dass der behandelnde Arzt von dem üblichen medizinischen Vorgehen abgewichen sei oder Maßnahmen nicht getroffen hätte, die nach ärztlichem Standard zur Vermeidung oder Beherrschung von Komplikationen erforderlich sind. Diese Kenntnis ei aber erst vorhanden, wenn die dem Antragsteller (Patienten) bekannten Tatsachen ausreichen, um den Schluss auf ein schuldhaftes Fehlverhalten des Arztes und auf die Ursache des Verhaltens für den Schaden als naheliegend erscheinen würden (BGH, Urteil vom 08.11.2016 - VI ZR 594/215 -). Im Hinblick auf ärztliche Behandlungsfehler sei zudem die Kenntnis des Abweichens vom medizinischen Standard oder des Unterlassens medizinisch gebotener Handlungen erforderlich.  Diese Kenntnis richte sich in Ansehung der Komplexität moderner medizinischer Behandlungsweisen nicht nach wissenschaftlichen Kriterien, sondern der Parallelwertung in der Laiensphäre des Patienten, nach der die Behandlung nicht lege artis durchgeführt worden sei. Er müsse mithin diejenigen Behandlungstatsachen kennen, die in Bezug auf einen Behandlungsfehler ein ärztliches Fehlverhalten und in Bezug auf die Schadenskausalität eine ursächliche Verknüpfung bei objektiver Betrachtung nahelegen. Ob eine Abweichung vom Standard vorläge könne der Laie, mit Ausnahme grundlegender Behandlungsmethoden, erst durch eine ärztliche Begutachtung des Schadens feststellen. Diese Begutachtung sei vorprozessual erst durch ein von der Krankenkasse eingeholtes viszeralchirurgisches MDR-Gutachten vom 18.08.2020, welches der Antragsteller mit Schreiben der Krankenasse vom 24.08.2020 zur Kenntnis erhielt, erfolgt. Ob eine fachgutachterliche Stellungnahme für den Lauf der Verjährungsfrist zwingend sei (so OLG Köln, Urteil vom 05.03.2018 - 5 U 98/16 -) könne auf sich beruhen, da nicht ersichtlich sei, aufgrund welcher sonstiger Umstände der Antragsteller zuvor die nach den benannten Maßstäben gebotene Kenntnis hätte erlangen können.

OLG Dresden, Beschluss vom 04.05.2022 - 4 W 252/22 -

Sonntag, 6. Februar 2022

Neuer Vortrag zur Art der kausalen ärztlichen Fehlbehandlung im Berufungsverfahren mit Bezug auf medizinisches Privatgutachten

Der Kläger klagte materielle und immaterielle Schadensersatzansprüche gegen den beklagten Arzt wegen angeblich fehlerhafter ärztlicher Behandlung mit der Folge einer Beinlähmung ein. Er behauptete in 1. Instanz vor dem Landgericht Fehler des Beklagten im Zusammenhang mit einer Ansteckung VZV, einem Herpes-Virus. Das Landgericht wies die Klage ab. Nunmehr holte der Kläger ein medizinisches Privatgutachten ein und stütze seine Berufung gegen das Urteil unter Bezugnahme auf dieses Gutachten darauf, er habe an einer Neuro- bzw. Lymeberreliose gelitten, was der Beklagte übersehen habe. Dies hätte der Beklagte erkenn können und müssen und sei behandlungsfehlerhaft nicht erkannt worden sowie die Diagnosen von ihm seien falsch gewesen. Er habe neben der (negativen) serologischen Befundung zu einer Borreliose weitere Befunde erheben müssen, was er pflichtwidrig unterlassen habe, bei deren Vornahme aber Borreliose erkannt worden wäre. In Ansehung der richtigen Diagnose sei das verordnete hochdosierte Cortison kontraindiziert gewesen und ursächlich für die vom Kläger geklagte Beinlähmung. Zudem sei er über die Risiken der Cortisonbehandlung nicht aufgeklärt worden.

Zunächst musste sich das OLG der Frage widmen, ob der Kläger mit seinem neuen Vortrag zugelassen werden konnte, bevor es - bei Bejahung – klären musste, ob sich daraus ein Anspruch des Klägers gegen den Beklagten herleiten lässt.

Das OLG hat auf sich beruhen lassen, ob – wie klägerseits geltend gemacht – in dem Vortrag im Berufungsverfahren, er habe im Behandlungszeitraum an einer Neuro- bzw. Lymeborreliose gelitten (gestützt auf das zwischenzeitlich eingeholte Privatgutachten) lediglich eine Präzisierung des erstinstanzlichen Vortrages lag oder ob es sich um neuen Sachvortrag iSv. § 531 Abs. 2 ZPO handelt. Nach Auffassung des OLG bedurfte es dazu keiner Entscheidung, da bei Präzisierung des erstinstanzlichen Vortrages dieser ohnehin zuzulassen wäre, aber auch dann, wenn man ihn als „neues Vorbringen“ ansehen würde, dies einer Zulassung nach § 531 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 ZPO nicht entgegenstehen würde. Nach § 531 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 ZPO ist neuer Vortrag zuzulassen, wenn das Unterlassen des Vortrages in er 1. Instanz nicht auf Nachlässigkeit beruht. Eine Nachlässigkeit des Klägers verneinte das OLG.

Jede Partei sei schon im ersten Rechtszug gehalten, die Angriffs- und Verteidigungsmittel vorzubringen, deren Relevanz für den Rechtsstreit ihr bekannt seien oder bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt hätten bekannt sein müssen und zu deren Geltendmachung sie dort imstande gewesen seien. Der gebotene Sorgfaltsmaßstab sei einfache Fahrlässigkeit. Allerdings dürften in einem Arzthaftungsprozess an eine Substantiierungsverpflichtung des Patienten nur maßvolle Anforderungen gestellt werden, was auch für Einwendungen gegen ein gerichtliches Gutachten gelte. Deshalb seien die Parteien nicht gehalten, bereits in 1. Instanz ihre Einwendungen gegen ein Gerichtsgutachten auf die Beifügung eines Privatgutachtens oder auf einen eingeholten sachverständigen Rat zu stützen oder selbst (oder durch Dritte) in medizinischen Bibliotheken Recherchen anzustellen, um Einwendungen gegen ein gerichtliches Sachverständigengutachten zu erheben (BGH, Urteil vom 08.06.2004 - VI ZR 199/03 -). Dem würde nicht entgegenstehen, dass der Privatgutachter des Klägers kein Facharzt für Neurologie sei. Da selbst eigene Recherchen des Klägers oder seines Prozessbevollmächtigten in medizinischer Fachliteratur ausreichen würden, um den Voraussetzungen des § 531 Abs. 2 Nr. 3 ZPO zu genügen (BGH aaO.), dann müsse dies erst recht für Vorbringen gelten, welches sich auf ein medizinisches Gutachten gelten, auch wenn der privat beauftragte ärztliche Gutachter nicht dem zur Beurteilung eines Behandlungsfehlers maßgeblichen Fachgebiet angehöre.

Damit brachte das OLG deutlich zum Ausdruck, dass das erstinstanzliche Abstellen auf bestimmte ärztliche Fehler nicht ein Abstellen im Berufungsverfahren auf anderweitige Fehler hindert, da der Kläger im Arzthaftungsprozess nicht veranlasst ist, sich bereits vorab ein eigenes medizinisches Gutachten zu besorgen bzw. sich in die medizinische Fachliteratur einzulesen; erfolge dies erst im Zusammenhang mit der von ihm gegen ein klageabweisendes Urteil eingelegten Berufung, liegt darin keine diesen neuen Sachvortrag ausschließende Nachlässigkeit iSv. § 531 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 ZPO.

Allerdings wies das OLG die Berufung des Klägers als unbegründet zurück. Nach Beweisaufnahme durch Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens kam es zum Ergebnis, dass mir hoher Wahrscheinlichkeit Borreliose zum Zeitpunkt der streitbefangenen Behandlung noch nicht vorlag. Es habe auch nicht darüber befinden müssen, ob der Beklagte im Zusammenhang mit der Cortisonbehandlung eine Aufklärungspflicht gegenüber dem Kläger verletzt habe, da diese jedenfalls nicht zu einem Schaden geführt habe; die gerichtlich bestellten Sachverständigen hätten darauf hingewiesen, dass Schäden durch eine Cortisonbehandlung in den Behandlungsunterlagen nicht dokumentiert seien.

OLG Dresden, Urteil vom 14.09.2021 - 4 U 1771/20 -

Sonntag, 15. August 2021

Fehlende Dokumentation von möglichen Veränderungen der elektronischen Patientenakte und Beweiswürdigung im Arzthaftungsfall

Die Informationspflicht des Arztes umfasst nach § 630c Abs. 2 S. 1 BGB die Pflicht, dem Patienten in verständlicher Weise zu Beginn der Behandlung (und erforderlichen Falls im weiteren Verlauf ergänzend) sämtliche für die Behandlung wesentlichen Umstände zu erläutern, insbesondere die Diagnosen die voraussichtliche gesundheitliche Entwicklung, die Therapie und die zu und nach der Therapie zu ergreifenden Maßnahmen.  Der Umfang der Dokumentationspflicht des Arztes wird in § 630f Abs. 2 BGB dahingehend festgehalten, dass in der Patientenakte sämtliche aus fachlicher Sicht für die derzeitige und künftige Behandlung wesentlichen Maßnahmen und deren Ergebnisse aufzuzeichnen sind, insbesondere die Anamnese, Diagnosen, Untersuchungen, Untersuchungsergebnisse, Befunde, Therapien und ihre Wirkungen, Eingriffe und ihre Wirkungen, Einwilligungen und Aufklärungen, wie auch Arztbriefe in die Patientenakte aufzunehmen sind.  

Der Kläger verlangte wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung von der Beklagten materiellen und immateriellen Schadensersatz. Die Beklagte, eine Augenärztin, habe bei der Untersuchung am 07.11.2013 einen Netzhautriss übersehen, da sie es versäumt habe, vor der Untersuchung eine Pupillenweitstellung zu veranlassen. Die Klage wurde von Landgericht und Oberlandesgericht abgewiesen. Auf die Revision erfolgte eine Aufhebung des Urteils und Zurückverweisung an das Oberlandesgericht.

Zunächst verwies der BGH darauf, dass in § 630h Abs. 3 BGB  nicht die Dokumentationspflicht geregelt würde, sondern nur die Folgen einer fehlenden Dokumentation, wie sie in § 630f Abs. 2 BGB normiert sei. Nach § 630f Abs. 2 BGB seien aber nur die wesentlichen Maßnahmen und Ergebnisse aufzuzeichnen. Durch den Hinweis auf de „fachliche Sicht“ würde dies zum Ausdruck gebracht, weshalb weitergehende Anforderungen an die Dokumentation auch nicht gestellt werden könnten. Die fehlende Dokumentation über eine Kontrollbedürftigkeit der Beschwerden würde daher nicht nach § 630h BGB zur Beweislastumkehr führen.

Allerdings sei entgegen der Annahme der Vorinstanzen von einen Befunderhebungsfehler auszugehen. De Sachverständige habe festgestellt, dass bei den geschilderten Beschwerden durch den Kläger eine Untersuchung des Augenhintergrundes dringend geboten gewesen sei. Rechtsfehlerhaft seien die Vorinstanzen davon ausgegangen, der Kläger habe den beweis der unterlassenen Untersuchung nicht erbracht. Dabei würde von der Revision zutreffend gerügt, dass das Oberlandesgericht der mit einer  nachträgliche Änderungen nicht erkennbar machenden Software erstellten elektronischen Dokumentation der Beklagten im Rahmen der Beweiswürdigung eine positive Indizwirkung beigemessen habe, nach der die Untersuchung des Augenhintergrundes unter Weitstellung der Pupillen erfolgt sei.

Elektronische Dokumente seien gemäß § 371 Abs. 1 S. 2 ZPO Gegenstand des Augenscheinsbeweises und ihr Beweiswert unterliege gem. § 286 Abs. 1 S. 1 ZPO der freien Beweiswürdigung. Die bis zum Inkrafttreten des Patientenrechtsgesetzes vertretene Ansicht, auch bei elektronisch erstellten Dokumenten, die nachträglich nicht erkennbar verändert werden könnten, sei bei Plausibilität der volle Beweiswert gegeben, sei mit der Gesetzesänderung durch das Patientenrechtsgesetz in den §§ 630a ff BGB nicht mehr haltbar. Die elektronische Dokumentation, die nachträgliche Veränderungen nicht deutlich mache, genüge nicht den Anforderungen von § 630f Abs. 1 S. 2 und 3 BGB, da danach Berichtigungen und Änderungen von Eintragungen in der Patientenakte nur zulässig seien, wenn neben dem ursprünglichen Inhalt erkennbar bleibt, wann sie vorgenommen wurden. Ziel sei eine fälschungssichere Organisation der Dokumentation. Die Software müsse also gewährleisten, dass nachträgliche Änderungen erkennbar würden (BT-Drucks. 17/10488, S. 26).

Allerdings führe (anders als in einem Teil der Literatur vertreten) die Verwendung einer dies nicht kenntlich machende Software nicht zur Beweislastumkehr iSv. § 630h Abs. 3 BGB. Die beweisrechtliche Folge knüpfe nur daran, dass der Behandelnde eine notwendige Dokumentation  nicht aufgezeichnet bzw. in die Patientenakte aufgenommen habe. Der Fall, dass die elektronische Dokumentation mit einer nachträgliche Änderungen nicht aufzeigenden Software erstellt worden sei, würde in § 630h BGB nicht geregelt.

Jedenfalls aber käme der elektronischen Dokumentation mittels einer nachträgliche Änderungen nicht kenntlich machenden Software keine positive Beweiswirkung zugunsten des Arztes zu, wie vom Oberlandesgericht angenommen. Dabei sei zu berücksichtigen, dass anders als bei handschriftlichen Aufzeichnungen Änderungen durch Streichungen, Radierung, Einfügung oder Neufassung nicht auffallen und diese Änderung bei der elektronischen Software jeder schnell durchführen könne, der eine Zugangsberechtigung habe, und zwar fast ohne Entdeckungsrisiko. Hinzu käme auch die Gefahr einer versehentlichen Löschung oder Änderung. Damit würde einer derartigen Dokumentation die für eine Überzeugungsbildung und Zuverlässigkeit erforderliche Indizwirkung fehlen.

Dies würde auch dann geltend, wenn wie hier mit dem Oberlandesgericht davon ausgegangen würde, dass der Kläger keine greifbaren Anhaltspunkte für eine nachträgliche Änderung der Dokumentation zu seinen Lasten dargelegt hat. Hier stünde der Patient außerhalb des Geschehensablaufs und sei regelmäßig nicht in der Lage, Anhaltspunkte für eine bewusste oder versehentliche nachträgliche Änderung vorzutragen.

Der Richter könne zwar diese elektronische Dokumentation mit bei der Beweiswürdigung berücksichtigen, müsse dies aber einer umfassenden und sorgfältigen, angesichts der fehlenden Veränderungssicherheit aber kritischen Würdigung unterziehen. Dies sei hier nicht erfolgt.

BGH, Urteil vom 27.04.2021 - VI ZR 84/19 -

Dienstag, 13. August 2019

Darlegungslast des Patienten im Arzthaftungsprozess bei vorliegenden negativen Schlichtungsgutachten


Die Erblasserin war bei der Beklagten wegen Beschwerden an der Lendenwirbelsäule  in stationärer Behandlung, in deren Verlauf sie auch am 27.01.2012 operiert wurde. Postoperativ klagte sie über Übelkeit und Bauchschmerzen. Sie verstarb am 02.02.2012. Im Autopsiebericht wird als Todesursache eine akute Koronarinsuffizienz u.a. nach vorausgegangenem Darmverschluss angegeben. Die Klägerin, die materielle und immaterielle Ansprüche aus eigenem und ererbten Recht geltend machte, führt den Tod der Erblasserin auf einen unerkannt und unbehandelt gebliebenen Darmverschluss zurück.

Vorgerichtlich wurde ein Schlichtungsverfahren vor der Schlichtungsstelle für Arzthaftpflichtfragen der zuständigen Ärztekammer durchgeführt. In diesem Rahmen wurde ein neurochirugisches Gutachten erstellt, demzufolge ein Behandlungsfehler nicht festzustellen sei. Die nachfolgende Klage wurde von Land- und Oberlandesgericht zurückgewiesen. Die gegen die Entscheidung des OLG eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde zum BGH führte zur Aufhebung des Urteils des OLG und Zurückverweisung.

Der BGH folgte nicht der Auffassung des OLG, ein möglicher Behandlungsfehler sei von der Klägerin nicht hinreichend substantiiert dargelegt worden. Dabei stützte sich das OLG auf das im Schlichtungsverfahren eingeholte Gutachten; da dagegen seitens der Klägerin keine substantiierten Einwendungen erhoben worden seien, sei es nicht erforderlich gewesen, ihrem Antrag auf Einholung eines (weiteren) Sachverständigengutachtens (auch unter Berücksichtigung der im Arzthaftpflichtprozess geltenden geringeren Anforderungen an die Darlegungslast des Patienten)  nachzugehen.

Der BGH sah in seiner Entscheidung die Substantiierungsanforderung des OLG als überspannt an. Vom Patienten (und damit auch des Erben) könne keine genaue Kenntnis medizinischer Vorgänge erwartet oder gefordert werden; ihm fehle die genaue Einsicht in das Behandlungsgeschehen sowie das Fachwissen zur Erfassung und Darlegung des Konfliktstoffs. Vom BGH wurde darauf verwiesen, dass sich der Patient zur Prozessführung nicht medizinisches Fachwissen aneignen müsse. Das aber bedeutet auch, dass er nicht verpflichtet ist, sich einen Rechtsanwalt zu suchen, der über dieses Wissen verfügt oder zur Prozessbegleitung einen Mediziner zu beauftragen. Deshalb, so der BGH, könne sich der Patient auf Vortrag beschränken, der alleine die Vermutung eines fehlerhaften Verhaltens des Behandlers aufgrund der Folgen für den Patienten gestatte (so bereits u.a. Urteile des BGH vom 19.02.2019 - VI ZR 505/17 - und vom 24.02.2015 - VI ZR 106/13 -). Diese eingeschränkte primäre Darlegungslast des Patienten ginge zur Gewährleistung einer Waffengleichheit der Parteien regelmäßig mit einer gesteigerten Verpflichtung des Gerichts zur Sachverhaltsaufklärung (§ 139 ZPO) bis hin zur Einholung eines Sachverständigengutachtens (§ 144 Abs. 1 S. 1 ZPO) von Amts wegen einher, soweit der Patient auf eine entsprechende Aufbereitung des Sachverhalts angewiesen sei (BGH, Urteil vom 19.02.2019 aaO.; BGH, Urteil vom 08.01.1991 - VI ZR 102/90 -).  

Vorliegend lag allerdings ein medizinisches Gutachten aus dem vorangegangenen Schlichtungsverfahren vor. Dieses könne, so der BGH, mittels des Urkundenbeweises auch vom Gericht gewürdigt werden (BGH, Beschluss vom 13.12.2016 - VI ZB 1/16 -). Das aber dürfe nicht zu einer Erhöhung der Darlegungslast des Patienten führen, da dieser für den Prozess ansonsten doch gezwungen wäre, sich medizinisches Fachwissen für einen schlüssigen Klagevortrag anzueignen. Auch sei ein Schlichtungsgutachten auf Beweisebene nicht geeignet, den prozessualen Sachverständigenbeweis zu ersetzen; eine Verwertung gem. § 411a ZPO sei mangels gerichtlicher oder staatsanwaltschaftlicher Veranlassung nicht möglich. Als Urkunde würde aber das Gutachten nur bezeugen, dass der Schlichtungsgutachter dieses erstattet hat, nicht aber die Richtigkeit des Inhalts. Ob die im Schlichtungsgutachten enthaltene Einschätzung inhaltlich richtig ist, unterliege der freien richterlichen Würdigung. Hier müsse der Tatrichter einen (vom Gericht beauftragten) Sachverständigen hinzuziehen, unabhängig davon, ob die Behauptung der Partei in dem urkundsbeweislich herangezogen Gutachten eine Stütze findet oder nicht. Der Urkundsbeweis dürfe nie dazu führen, dass den Parteien zustehende Recht, einen Sachverständigenbeweis zu führen, zu verkürzen (BGH, Urteil vom 06.06.2000 - VI ZR 98/99 -).

Diese Grundsätze seien vom OLG nicht beachtet worden, indem das OLG die Auffassung vertrat, der mit dem Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachten versehene Vortrag der Klägerin zu einem angeblichen Behandlungsfehler der Beklagten sei nicht hinreichend substantiiert, was die die Klägerin in ihrem Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 GG) verletzt habe. Indem die Klägerin unter Bezugnahme auf die Autopsiebericht behauptete, die Erblasserin habe einen von der Beklagte schuldhaft verkannten postoperativen Darmverschluss, an dem sie verstorben sei, gehabt, hätte sie alle Voraussetzungen für den Schadensersatzanspruch vorgetragen. Nach den benannten Grundsätzen hätte es eines weitergehenden Vortrages nicht bedurft. Dass der Klägerin ungünstige Gutachten aus dem Schlichtungsverfahren habe die Substantiierungsanforderungen nicht erhöht, sondern lediglich dazu geführt, dass sich ein gerichtlich zu bestellender Sachverständiger und das Gericht selbst auf Beweisebene mit dem Schlichtungsgutachten auseinandersetzen müsse, § 286 ZPO.

BGH, Beschluss vom 12.03.2019 - VI ZR 278/18 -

Dienstag, 21. Mai 2019

Arzthaftung/Krankenhaushaftung: Umfang der Darlegungslast des Patienten zu Hygienemängeln


Klägerin nahm den beklagten Krankenhausträger auf materielle und immaterielle Schadensersatzansprüche im Zusammenhang mit der Entfernung der Gebärmutter in Anspruch. Sie machte u.a. geltend, dass die Beklagte unter Verstoß gegen die maßgeblichen Leitlinien unterlassen habe, eine Antibiotikaprophylaxe vorzunehmen, bei einer Wiederaufnahme sie sie nur unzureichend untersucht worden sei und dass es im Krankenhauszimmer Hygienemängel gegeben habe. Landgericht und Oberlandesgericht haben die Klage abgewiesen. Die Revision der Klägerin führte zur Aufhebung der Entscheidung des OLG und Zurückverweisung. Begründet wurde dies vom BGH damit, dass es das OLG versäumt habe, die unterlassene Antibiotikaprophylaxe auch unter dem Gesichtspunkt des Organisationsverschuldens zu betrachten und in Bezug auf die behaupteten Hygienemängel die sekundäre Beweislast der Beklagten (Krankenhausträger) nicht beachtet habe.

Im Hinblick auf die Hygienemängel habe das OLG die Anforderungen an die Darlegungslast des Patienten überspannt. An die Substantiierungspflicht des Patienten seien im Arzthaftungsprozess nur maßvolle Abforderungen zu stellen, da von ihm keine genaue Kenntnis der medizinischen Vorgänge erwartet werden dürfe, weshalb der Patient seinen Vortrag dahingehend beschränken dürfe, dass die Vermutung eines fehlerhaften Verhaltens der Behandlungsseite aufgrund der Folgen für den Patienten gestatte. Diese eingeschränkte primäre Darlegungslast des Patienten ginge einher mit einer gesteigerten Verpflichtung des Gerichts  zur Sachverhaltsaufklärung (§ 139 ZPO) von Amts wegen bis hin zur Einholung eines Sachverständigengutachtens (§1 44 Abs. 1 S. 1 ZPO), soweit der Patient darauf angewiesen sei, dass der Sachverhalt durch ein solches aufbereitet würde. Die Darlegungslast des Patienten könne auch nach allgemeinen zivilprozessualen Grundsätzen eingeschränkt sein, soweit der Patient außerhalb des von ihm vorzutragenden Geschehensablaufs stünde und ihm weitergehende Angaben nicht möglich seien, demgegenüber aber der Prozessgegner alle wesentlichen Tatsachen kennt bzw. unschwer in Erfahrung bringen könne; in diesem Fall habe die Behandlungsseite im Rahmen der sekundären Darlegungslast auf die Behauptungen des Patienten substantiiert zu erwidern.

Genüge mithin die primäre Darlegung des Patienten den maßvollen Anforderungen um die Vermutung eines fehlerhaften Verhaltens der Behandlungsseite zu gestatten, es ihm auch unmöglich und unzumutbar ist, den Sachverhalt näher aufzuklären, sei die sekundäre Darlegungslast der Behandlungsseite ausgelöst. Dies würde bei der Behauptung eines Hygieneverstoßes regelmäßig der Fall sein, da sich sowohl die Existenz möglicher Infektionsquellen (etwa in Gestalt weiterer Patienten oder verunreinigter Instrumente als auch Maßnahmen zur Einhaltung von Hygienebestimmungen und Infektionsprävention sich in der Regel der Kenntnis des Patienten entziehen würden, demgegenüber die Behandlerseite über die erforderlichen Informationen verfüge. Es sei auch nicht erforderlich, dass der Patient konkrete Anhaltspunkte für einen Hygieneverstoß vorträgt; dies sie ausreichend (BGH, Beschluss vom 16.08.2016 - VI ZR 634/15 -), aber nicht Voraussetzung. Auch mit diesem Beschluss vom 16.08.2016 habe nicht ausgesagt werden sollen, dass der Patient weitergehenden Vortrag halten müsse, als dass er die Vermutung eines Hygienefehlers  der Behandlungsseite aufgrund der Folgen für ihn gestatte.

Diesen Anforderungen habe die Klägerin entsprochen, da sie geltend gemacht habe sie habe sich die bakterielle Infektion aufgrund unterdurchschnittlicher hygienischer Zustände in ihrem Krankenzimmer zugezogen. Im Hinblick darauf hätte es hier der Beklagtenseite oblegen, konkret zu den von ihr ergriffenen Maßnahmen zur Sicherstellung der Hygiene und zum Infektionsschutz im Krankenzimmer der Klägerin vorzutragen, so beispielhaft durch Vorlage von Desinfektions- und Reinigungsplänen, einschlägiger Hausordnung und Bestimmungen des Hygieneplans.

Auf von der Beklagten bestrittene, von der Klägerin wahrgenommene und benannte Umstände (desolates hygienisches Verhalten der im selben Zimmer untergebrachten Mitpatientin u.a.) käme es daher nicht an.

BGH, Urteil vom 19.02.2019 - VI ZR 505/17 -