Montag, 13. Juni 2022

Fehlende Befugnis zur Prozessvertretung des Versicherungsnehmers durch Haftpflichtversicherer

Im Rahmen der auf § 3a UWG (Rechtsbruch) gestützten, wettbewerbsrechtlichen Klage eines Rechtsanwalts gegen eine Haftpflichtversicherung musste sich letztinstanzlich der BGH mit der Frage auseinandersetzen, ob der Haftpflichtversicherer für seinen Versicherungsnehmer – soweit eine anwaltliche Vertretung nicht zwingend vorgeschrieben ist (z.B. bei Verfahren vor dem Land- und Oberlandesgericht), also im sogenannten Parteiprozess ohne Notwendigkeit anwaltlicher Vertretung, die Prozessvertretung übernehmen darf, also im . Hintergrund war gewesen, dass der Haftpflichtversicherer für seinen Versicherungsnehmer Einspruch gegen einen Vollstreckungsbescheid einlegte.

Das Landgericht hatte der Klage gegen den Haftpflichtversicherer stattgegeben. Die Berufung des Haftpflichtversicherers war erfolgreich. Der Rechtsanwalt hat die (vom Berufungsgericht zugelassene) Revision eingelegt, die zur Wiederherstellung des der Klage stattgebenden Urteils des Landgerichts führte.

Eine Vertretungsberechtigung ergäbe sich entgegen der Annahme des Berufungsgerichts nicht aus § 79 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 ZPO, wonach Familienangehörige, Personen mit Befähigung zum Richteramt und Streitgenossen, wenn die Vertretung nicht im Zusammenhang mit einer entgeltlichen Tätigkeit stünde, diese Vertretung übernehmen könnten. Der Anwendungsbereich der Norm könne nicht überseinen Wortlaut hinaus erweitert werden dahingehend, dass dem dort benannten Streitgenossen ein Versicherungsunternehmen gleichstünde, dem ein Recht zur Nebenintervention (§§ 66, 68 ZPO) zustünde. Die Analogie sei nur bei planwidriger Regelungslücke zulässig, an der es hier fehle. Es lasse sich nicht erkennen, dass es der gesetzgeberischen Regelungsabsicht widerspreche, zwar Streitgenossen der Partei eine Vertretung zu erlaube, nicht aber Personen, denen nach §§ 66, 68 ZPO das Recht zur Nebenintervention zustünde. Der Begriff des Streitgenossen sei in der ZPO an einem anderen Ort als die Bestimmungen über Beteiligung Dritter (so die Nebenintervention) am Verfahren geregelt. Es handele sich um eine eindeutige Begriffswahl.

Zudem läge auch keine vergleichbare Interessenslage zwischen dem Streitgenossen und dem Nebenintervenienten vor. Die Zulassung des Streitgenossen diene der Prozessökonomie, da diese bereits als Partei auf Kläger- oder Beklagtenseite am Rechtsstreit auf gleicher Seite beteiligt seien. Mit dieser der Erleichterung des Verfahrens bezogenen Rechtfertigung sei die Stellung eines zur Nebenintervention Berechtigten nicht vergleichbar. Die prozessökonomische Wirkung entfalte ihre Wirkung erst im Folgeprozess, insoweit er nach § 68 von bestimmten Einwendungen in einem Verfahren mit der Partei, der er beigetreten ist, im Folgeprozess ausgeschlossen ist.

Zudem sei die Vertretung im Rahmen des § 79 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 ZPO bei einer entgeltlichen Tätigkeit ausgeschlossen. Dabei käme es nicht darauf an, ob ein Entgelt für die Prozessvertretung als solche vereinbart sei (BT-Drucks. 16/3655, S. 87); die Prozessvertretung dürfe auch nicht Teil einer entgeltlichen Vertragsbeziehung (wie sie zwischen dem Versicherungsnehmer und dem Versicherer bestünde) sein. Hier sei der Haftpflichtversicherer im Rahmen des entgeltlichen Versicherungsvertrages verpflichtet, bei von einem Dritten gegen den Versicherungsnehmer geltend gemachten Ansprüchen diesen freizustellen und unbegründete Ansprüche abzuwehren, § 100 VVG. Die Versicherung umfasse die gerichtlichen und außergerichtlichen Kosten, § 101 Abs. 1 S. 1 VVG. Damit sei die Vertretung durch den Haftpflichtversicherer als entgeltlich anzusehen.

Auch Art. 12 Abs. 1 GG, der die Berufsausübungsfreiheit beinhalte, gebiete es nicht, dem Haftpflichtversicherer eine Vertretungsbefugnis nach § 79 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 ZPO zuzubilligen. Zwar würde seine Berufsausübung eingeengt, wenn ihm das Recht zur Prozessvertretung nicht zuerkannt würde, da diese Einschränkung gerechtfertigt und nicht verfassungswidrig sei. Der Eingriff sei durch Gründe des Gemeinwohls begründet. § 79 Abs. 2 ZPO diene dem Schutz der rechtssuchenden Bevölkerung und der funktionierenden Rechtspflege und damit übergeordneten Gemeinwohlzielen (BGH, Urteil vom 20.01.2011 – I ZR 122/09 -; nachfolgend BVerfG, Beschluss vom 20.04.2011 – 1 BvR 624/11 -).  

Da es dem Haftpflichtversicherer möglich sei, nach einem Einspruch gegen den Vollstreckungsbescheid (Anm.: den der Versicherungsnehmer selbst einlegen kann) dem Rechtsstreit als Nebenintervenientin beizutreten bestünde für ihn kein schutzwürdiges Interesse, die Hauptpartei als Prozessbevollmächtigter zu vertreten. Auch der Umstand, dass der Haftpflichtversicherer über vertiefte Kenntnisse und Erfahrungen im Versicherungsrecht und über qualifiziertes Personal mit der Befähigung zum Richteramt verfüge käme es nicht an.

Anmerkung: Es ist bei vielen Versicherungsgesellschaften üblich, dass sich diese von dem Versicherungsnehmer den Mahn- bzw. Vollstreckungsbescheid zusenden lassen, um dann selbst den Widerspruch bzw. Einspruch einzulegen. So wollen sie sicherstellen, dass das Rechtsmittel korrekt und fristwahrend eingelegt wird. Auch vertreten sie den Versicherungsnehmer in einigen Fällen direkt vor Gericht und Sachbearbeiter der Versicherung nehmen die Termine wahr. Der BGH hat klargestellt, dass dies unzulässig ist.  Zur Konsequenz hat dies, dass ein derartiges Verhalten nicht nur (wie hier) eine Abmahnung nach § 3a UWG begründen kann. Vielmehr dürfte die prozessuale Handlung als solche unzulässig sein, dass das Rechtsmittel (Widerspruch oder Einspruch) oder die Klageverteidigung für den Versicherungsnehmer unwirksam ist und als Folge Vollstreckungsbescheide ergehen können bzw. solche nicht rechtzeitig mit dem Rechtsmittel des Einspruchs angefochten wird, bzw. bei einer Klageverteidigung dies nicht beachtet wird (da die unwirksam ist) und Versäumnisurteil ergeht. Die Versicherungen müssen ihre Versicherungsnehmer darauf hinweisen, dass diese - ist ein gerichtliches Verfahren zu erwarten - selbst sofort bei Zugang von Mahn- oder Vollstreckungsbescheid den Rechtsbehelf einlegen und sich im Übrigen, bei einem streitigen Verfahren, überlegen, ob sie gemäß den Versicherungsbedingungen dem Versicherungsnehmer einen Rechtsanwalt stellen oder, wollen sie die Vertretung vor Gericht selbst übernehmen (soweit nicht anwaltliche Vertretung vorgeschrieben ist) dem Rechtsstreit auf Seiten ihres Versicherungsnehmers durch Nebenintervention beitreten.

BGH, Urteil vom 10.03.2022 - I ZR 70/21 -

Sonntag, 5. Juni 2022

Verzicht auf Anrecht in Altersversorgung im Versorgungsausgleich bei Scheidung

Im Rahmen der Scheidung der Parteien (Antrag vom 08.08.2013) musste das Familiengericht auch über den Versorgungsausgleich entscheiden. Es hat dabei ein Anrecht des Antragstellers, welches dieser als Vorstand einer Sparkasse erlangt hatte, nicht berücksichtigt, da dieser mit einem Änderungsvertrag vom 12.09.2012 auf diese Altersversorgung verzichtete. Die dagegen eingelegte Beschwerde wies das Oberlandesgericht zurück. Hiergegen wandte sich die Antragstellerin mit der zugelassenen Rechtsbeschwerde die vom BGH zurückgewiesen wurde.

Im ursprünglichen Dienstvertrag des Antragsgegners vom 07.03.2007 waren Anrechte in Form einer Ruhegeldreglung (auch auf den Invaliditätsfall) und Abfindungszusage enthalten gewesen. enthalten gewesen.  Beide Anrechte waren aber, nach der vom BGH bestätigten Auffassung des Oberlandesgerichts, nicht ausgleichsreif, da sie zum Zeitpunkt des Ehezeitendes nicht ausreichend verfestigt gewesen wären.  Der Ruhegehaltanspruch habe erst ab dem Eintritt in den Vorstand am dem 01.10.207 bestanden, weshalb eine Unverfallbarkeit erst nach fünf Jahren (§ 1b BetrAVG a.F.) am 30.09.2012 hätte eintreten können, der Antragsteller aber darauf (zulässig nach § 3 BetrAVG) vorher auf das Anrecht verzichtet habe. Der Invaliditätsfall sei nicht eingetreten gewesen, und zudem auch untergegangen, nachdem das Dienstverhältnis mit Auflösungsvertrag vom 24.03.2015 zum 30.04.2015 beendet worden sei.

Soweit von der Antragstellerin in der Rechtsbeschwerde geltend gemacht worden sei, das Oberlandesgericht habe die Vereinbarung vom 13.09.2012 fehlerhaft dahingehend ausgelegt, dass die Ruhegeldzusage im Rahmen der Vereinbarungen über die Weiterbeschäftigung über den 30.09.2012 hinaus abbedungen worden sei, folgte dem der BGH nicht. Die Auslegung der Individualvereinbarung nach §§ 133, 157 BGB sei Sache des Tatrichters. Sie sei für das Revisionsgericht bindend, wenn sie rechtsfehlerfrei vorgenommen wurde und zu vertretbaren Ergebnissen führe, auch wenn ein anders Auslegungsergebnis möglich erscheine. Rechtsfehler bei der Auslegung seien hier nicht ersichtlich. Zutreffend sei auf das gemeinsame Motiv der Vertragsparteien für die Abbedingung angestellt worden. Ohne den Verzicht wäre eine Weiterbeschäftigung des Antragsgegners über den 30.09.2012 hinaus in Ansehung einer zum 01.01.2013 vorgesehenen Fusion mit einer anderen Sparkasse nicht möglich gewesen. Von der Antragstellerin geäußerten Zweifeln an der wirtschaftlichen Plausibilität dieses Vorgehens habe das Berufungsgericht nicht zu weiterer Sachverhaltsaufklärung nach § 26 FamFG veranlassen müssen, da zum Einen diese Auslegung sich aus der Vereinbarung vom 13.09.2012 entnehmen ließe, zum Anderen auch in der Jahresbilanz der Sparkasse zum 31.12.2012 die noch in der Bilanz zum 31.12.2011 enthaltene Rückstellung nicht mehr enthalten war.

Da die Antragstellerin ihren Verdacht, die ursprüngliche Ruhegeldzusage sei nur ausgelagert oder abgefunden worden, nicht näher darlegte, der Antragsgegner in seiner Anhörung auch Anrechte ausdrücklich (wie auch in der Versorgungsauskunft) verneinte, habe keine Veranlassung bestanden, weitere Jahresabschlüsse, Prüfungsberichte und Gehaltsabrechnungen und Steuerbescheide des Antragsgegners beizuziehen. Zudem würde es sich bei einer Abfindung für den Ruhegeldanspruch nach § 2 VersAusglG nicht um ein ausgleichsfähiges Recht handeln.

Auch die in der Vereinbarung vom 07.03.2007 enthaltene Abfindung sei nicht auszugleichen. Ausgleichsfähig seien nach § 2 VersAusglG nur Anrechte, die der Absicherung im Alter oder bei Invalidität dienen würden, demgegenüber Ansprüche oder Aussichten auf Leistungen mit anderweitiger Zweckbestimmung (wie Abfindungen und Überbrückungszahlungen) nicht auszugleichen seien. Da sich die Abfindungszusage auf die Beendigung des Dienstverhältnisses bezog und nach dessen Ablauf der (befristeten) Vertragslaufzeit gezahlt werden sollte, handelte es sich nach der Zielsetzung nicht um ein spezifisch der Alters- oder Invaliditätsabsicherung dienendes Anrecht.

BGH, Beschluss vom 30.03.2022 - XII ZB 421/21  -

Mittwoch, 1. Juni 2022

Keine Umsatzsteuer bei Teilreparatur und fiktiver Schadensabrechnung

Die Klägerin verlangte nach einem Verkehrsunfall Schadensersatz. Der Sachverständige bezifferte die Reparaturkosten mit netto € 5.521,63; ob die Verkehrssicherheit des Fahrzeugs der Klägerin durch den Unfall beeinträchtigt war, war streitig. Auf Basis der Feststellungen des Sachverständigen nahm die Klägerin die Abrechnung des Schadens vor und verlangte von der Beklagten Zahlung der vom Sachverständigen ermittelten Nettoreparaturkosten, die die Beklagte auch ausglich. Sodann ließ die Klägerin eine Teilreparatur durchführen, für die sie € 4.454,63 zuzüglich Umsatzsteuer von € 846,38 zahlte. Diese Umsatzsteuer machte sie bei der Beklagten geltend, die die Zahlung ablehnte, woraufhin die Klägerin Klage erhob. Klage und Berufung der Klägerin waren erfolglos. Die vom Berufungsgericht zugelassene Revision wurde vom BGH zurückgewiesen.

Der BGH stellte fest, es könne auf sich beruhen, ob das Fahrzeug nach dem Unfall noch verkehrs- und betriebssicher war oder für die Wiedererlangungen derselben die Teilreparatur erforderlich war. Entscheidend sei, das die Klägerin den Weg der fiktiven Schadensabrechnung gewählt habe und auch nicht zu einer konkreten Berechnung des Schadens auf der Grundlage der durchgeführten Reparatur übergegangen sei. Nach § 249 Abs. 1 BGB sei vom Schädiger der zustand wiederherzustellen, der bestehen würde, wenn es zu dem den Ersatzanspruch begründenden Umstand nicht gekommen wäre. Bei der Beschädigung einer Sache könne der für die Herstellung erforderliche Geldbetrag verlangt werden. Dabei könne der Geschädigte zwischen der konkreten Abrechnung nach den tatsächlich aufgewandten Kosten und einer fiktiven Abrechnung auf der Grundlage eines Sachverständigengutachtens wählen. Eine Vermengung beider Abrechnungsarten sei aber unzulässig. Damit solle verhindert werden, dass der Geschädigte in Form eines Rosinenpickens die ihm vorteilhaften Elemente der jeweiligen Berechnungsart heraussuche und damit bereichere. Zudem würde so die innere Kohärenz der jeweiligen Berechnungsart sichergestellt.  

Der Geschädigte habe bei der Wahl der Art des Schadensersatzes eine Dispositionsfreiheit. Er müsse also nichts zu von ihm veranlassten oder nicht veranlassten Herstellungsmaßnahmen vortragen. Mit seiner Schadensberechnung auf Basis des Sachverständigengutachtens habe die Klägerin dahin disponiert, sich mit Ersatz auf abstrahierter Basis zufrieden zu geben.  Dadurch sei ihr auch kein Schaden entstanden, da sie noch später (bei Vorliegend er Voraussetzungen und fehlender Verjährung) zur konkreten Schadensberechnung übergehen könne.  

Im Rahmen der fiktiven Schadensberechnung könne Umsatzsteuer nicht begehrt werden, auch wenn diese bei Durchführung der Reparatur anfällt. Dies würde zur unzulässigen Kombination von fiktiver und konkreter Schadensberechnung führen. Umsatzsteuer zur Wiederherstellung einer Sache sei nach § 249 Abs. 2 S. 2 BGB nur zu zahlen, wenn und soweit sie tatsächlich anfalle. Damit begrenze die Norm den die Dispositionsbefugnis bei fiktiver Abrechnung.

Auch bleibe die Umsatzsteuer nicht nur fiktiv, wenn es nicht zu einer umsatzsteuerpflichtigen Reparatur oder Ersatzbeschaffung käme, sondern auch dann, wenn der Geschädigte zwar Wiederherstellungsmaßnahmen (die umsatzsteuerpflichtig sind) ergreife, dies aber nicht zur Grundlage seiner Abrechnung mache, sondern es dabei belässt, den Schaden fiktiv abzurechnen. Der Geschädigte könne die Restitutionsmaßnahme nicht (in Bezug auf die Umsatzsteuer) teilweise  zum Gegenstand seiner im Übrigen fiktiven Abrechnung machen.

Diese Grundsätze würden auch bei einer Teilreparatur gelten.

Zwar könne eine Teilreparatur zur Wiederherstellung der Verkehrssicherheit grundsätzlich zur Voraussetzung für die Abrechenbarkeit fiktiver Reparaturkosten werden, wenn diese den Wiederbeschaffungsaufwand (Wiederbeschaffungswert abzüglich Restwert) überschreiten würden. Dadurch würde das Integritätsinteresse des Geschädigten und seine Dispositionsfreiheit geschützt. Diese umsatzsteuerpflichtige Teilreparatur würde in diesem Fall erst die fiktive Abrechnung ermöglichen. Allerdings sei es dem Geschädigten nicht erlaubt, auf diesen Weg durch eine Vermengung von fiktiver und konkreter Abrechnung die Vorteile der konkreten Abrechnung zu sichern. Auch in diesen Fall wäre zu beachten, dass die Umsatzsteuer nur auf die Teilreparatur anfalle, nicht aber auf die der Schadensberechnung zugrunde gelegte fiktive Reparatur des gesamten Schadens.

Danach habe der Geschädigte keinen Anspruch auf die Umsatzsteuer bei einer Teilreparatur,  obwohl sie angefallen sei, da fiktiv der gesamte Schaden (und damit auch der reparierte Teil) abgerechnet worden sei.

BGH, Urteil vom 12.05.2022 - VI ZR 7/21 -

Sonntag, 29. Mai 2022

Bestellung eines Notanwalts beim BGH, § 78b Abs. 1 ZPO – Frist und Voraussetzungen

Beim BGH sind aktuell 47 Rechtsanwälte zugelassen. Mit der Begründung, innerhalb der Rechtsmittelrist keinen (beim BGH zugelassenen) Anwalt gefunden zu haben, der bereit gewesen wäre, ihre Interessen beim BGH im Rechtsmittelverfahren zu vertreten, beantragte die Beklagte die Beiordnung eines Notanwalts. Der zur Entscheidung über den Antrag berufene Senat wies den Antrag zurück.

Grundlage für die Beiordnung eines Notanwalts ist § 78b Abs. 1 ZPO. Danach kann unter den Voraussetzungen, dass

1. eine Vertretung durch einen Rechtsanwalt zwingend vorgesehen ist

2. die antragstellende Partei einen zur Wahrnehmung seiner Rechte bereiten Rechtsanwalt nicht findet

3. die Rechtsverfolgung oder -verteidigung nicht mutwillig oder aussichtslos erscheint

und der Antrag auf Beiordnung eines Notanwalts bei dem für die Entscheidung zuständigen Gericht gestellt wird. Dieses Rechtsinstitut der Beiordnung eines Notanwalts ist Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips: Wenn schon der Gesetzgeber den Zugang zu den Gerichten abhängig macht von einer anwaltlichen Vertretung, muss er auch dafür Sorge tragen, dass eine solche erfolgen kann. Lehnen trotz Bemühungen des Rechtssuchenden die Rechtsanwälte die Vertretung ab (sei es aus Zeitgründen, sei es, da sie die Erfolgschancen des potentiellen Mandanten negativ beurteilen), muss es gleichwohl dem rechtssuchenden möglich sein, seinen Anspruch geltend zu machen. Dabei ist sicherlich auch zu beachten, dass im Hinblick auf den für die Gebühren entscheidenden Streitwert häufig die Gebühren in keiner vernünftigen Relation zum Aufwand stehen und deshalb – wenn auch mit fadenscheinigen Vorwänden – in einigen Fällen die Übernahme abgelehnt wird (was letztlich standesrechtlich unzulässig wäre und wohl deshalb auch nie offen bekundet würde).

Die Anforderungen für die Bestellung eines Notanwalts durch das angerufene Gericht sind allerdings hoch. So wurde der hier zurückgewiesene Antrag deshalb zurückgewiesen, da die Beklagte am Tag des Ablaufs der Frist pauschal lediglich angegeben habe, dass sie „trotz intensiven Suchens“ keinen zu ihrer Vertretung bereiten Rechtsanwalt gefunden habe. Dies hielt der BGH für unzureichend, da nicht angegeben worden sei, bei welchem Rechtsanwalt vergeblich angefragt worden sei. Es sei zum Einen erforderlich, dass zumutbare Anstrengungen zur Vertretung innerhalb er Rechtsmittelfrist unternommen worden seien (BGH, Beschluss vom 24.06.2014 -VI ZR 226/13 -) und in Verfahren vor dem BGH müsse die Partei darlegen und nachweisen, dass sich sie an mindestens sechs bei dem BGH zugelassene Anwälte erfolglos gewandt habe. Dies sei nicht erfolgt.

Nun muss man sich natürlich auch fragen, wie eine Naturalpartei, die evtl. ohne anwaltliche Hilfe aus der Vorinstanz einen Rechtsanwalt sucht, dies wissen sollte, ergibt es sich doch so nicht zwingend aus dem Gesetzwortlaut. Der BGH wirft hier der Beklagten allerdings vor, dass sie nicht angegeben habe, bei welchen Anwälten sie nachgefragt haben will und dies auch nicht nachgewiesen habe.

Erst in einem nachgeschobenen Schreiben vom 07.01.2022 (wobei unklar bleibt, ob dies auf einen entsprechenden Hinweis des Senats des BGH erfolgte) habe sie zwar sieben Namen von beim BGH zugelassenen Rechtsanwälten benannt, ohne allerdings Nachweise über Anfragen und Absagen vorzulegen. Angemerkt wird zudem, dass das Schreiben nach Ablauf der Rechtsmittelfrist eingereicht worden sei, worauf es allerdings nicht ankäme, da es in der Sache mangels dezidierter Angaben (Nachweise) den Antrag auch nicht rechtfertigen würde.

Die mir sehr knapper Begründung versehen Entscheidung des BGH verdeutlicht, dass es für den juristischen Laien selbst in einem Bereich schwierig ist, in dem er sich (wie bei dem Antrag auf Bestellung eines Notanwalts gem. § 78b Abs. 1 ZPO selbst vertreten darf. Es wird erwartet, dass er sich mit den einschlägigen, auch von der Rechtsprechung entwickelten Voraussetzungen an entsprechende Anträge vertraut macht und diese beachtet. Ob dies (noch) mit dem Rechtsstaatsgebot des Art. 20 Abs. 3 GG vereinbar ist, müsste durch das Bundesverfassungsgericht geklärt werden.

BGH, Beschluss vom 09.02.2022 - V ZA 2/22 -

Freitag, 27. Mai 2022

Strafverteidigerkosten als steuerlich abzugsfähige Werbungskosten

Dem Kläger wurden strafrechtlich die Hinterziehung von Lohnsteuer und Vorenthaltung und Veruntreuung von Arbeitsentgelten in seiner Stellung als angestellter (faktischer) Geschäftsführer vorgeworfen, wobei Mittel aus Schwarzrechnungen nur zur Zahlung von „Schwarzlöhnen“ sondern auch für private Zwecke des Klägers verwandt wurden. Das Finanzgericht (FG) nahm eine berufliche Veranlassung für die Steuerdelikte an und bejahte deshalb die Abzugsfähigkeit der Strafverteidigergebühren als Werbungskosten bei der Einkommensteuer des Klägers. Die Nichtzulassungsbeschwerde des beklagten Finanzamtes (FA) zum BFH wurde von diesem zurückgewiesen.

Werbungskosten seien alle Aufwendungen, die durch die Erzielung von steuerpflichtigen Einnahmen veranlasst würden. Eine entsprechende Veranlassung läge vor, wenn objektiv ein Zusammenhang mit der auf die Einnahmeerzielung gerichteten Tätigkeit bestünde und subjektiv die Aufwendungen zur Förderung dieser steuerlich relevanten Tätigkeit gemacht würden. Danach sei anerkannt, dass auch im Zusammenhang mit einer beruflichen Tätigkeit stehende strafbare Handlungen  Erwerbsaufwendungen begründen könnten (BFH, Urteil vom 09.12.2003 - VI R 35/96 -).

Der strafrechtliche Vorwurf, gegen den sich der Steuerpflichtige mit Hilfe des Strafverteidigers zur Wehr setze, müsse durch sein berufliches Verhalten veranlasst sein. Zu bejahen sei dies, wenn die Tat in Ausübung der beruflichen Tätigkeit begangen wurde. Es müsste sich um einen Bereich der beruflichen Aufgabenerfüllung handeln, dürfe also nicht auf privaten, den beruflichen Zusammenhang aufhebenden Umständen beruhen. Dass bei Gelegenheit der Erwerbstätigkeit eine strafbare Handlung verübt würde, würde also nicht ausreichen. Gleichfalls sei eine Erwerbsbezogenheit zu negieren, wenn der der steuerpflichtige Arbeitnehmer seinen Arbeitgeber bewusst schädigen wollte oder sich oder einem Dritten durch die Handlung bereichert, mithin die Handlung von privaten Motiven geleitet sei.

Das FG habe als Tatsacheninstanz festgestellt, dass sich die Strafverteidigerkosten ausschließlich auf die Vorwürfe der Verkürzung von Lohnsteuer und Sozialversicherungsbeiträgen bezogen hätten. Damit läge eine berufliche Veranlassung vor. Die Abzweigung von Bargeld für eigene Zwecke habe nach Würdigung durch das FG mit der Lohnsteuerhinterziehung nicht in einem solchen Zusammenhang gestanden, dass darin eine Überlagerung der beruflichen Veranlassung durch Eigenbereicherung läge. An dieser Würdigung sei der BFH gebunden, da sie nicht zwingend, nur möglich sein müsse.

BFH, Beschluss vom 31.03.2022 - VI B 88/21 -

Mittwoch, 25. Mai 2022

Zivilrechtliche Klage zur Einstellung des Betriebs von Windenergieanlagen (Windrädern)

Der Kläger begehrte von der Beklagten die Unterlassung des Betriebs von drei Windenergieanlagen und hilfsweise Maßnahmen zur Vermeidung einer Beeinträchtigung seines Eigentums und seiner Gesundheit. Das Landgericht wies die Klage nach Einholung eines Sachverständigengutachtens ab, da die maßgeblichen Richtwerte der TA Lärm eingehalten würden und eine wesentliche Beeinträchtigung durch Infraschall läge auch nicht vor. Im Berufungsverfahren. In dem der Kläger seinen erstinstanzlichen haupt- wie auch Hilfsantrag weiterverfolgte, war unstreitig, dass die Windenergieanlagen bestandskräftig genehmigt sind. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem OLG hat der Kläger wesentliche Teile seiner Berufungsbegründung fallen lassen und machte geltend, es würde ihm einzig um Beeinträchtigungen durch unzulässigen Lärm und „Körperschall“ (Schwingungen in Festkörpern) und um Schlafstörungen gehen. Er rügte, dass Messungen nicht an seinem, haus erfolgt seien und zudem keine Langzeitmessung erfolgt sei.

Das OLG negierte Ansprüche des Klägers nach §§ 1004 Abs. 1 BGB oder § 1004 Abs. 1 iVm. § 823 Abs. 1 BGB. Sei -wie hier - eine Genehmigung des Betriebs der Anlage unanfechtbar, könne aufgrund privatrechtlicher, nicht auf besonderer Titeln beruhender Ansprüche nicht die Einstellung des Betriebs gefordert werden, § 14 S. 1 1 1. Halbs. BImSchG. In diesem Fall könnten nur Vorkehrungen gegen benachteiligende Wirkungen verlangt werden. Seien solche Maßnahmen technisch nicht möglich oder wirtschaftlich nicht vertretbar, könne lediglich Schadensersatz begehrt werden.  § 14 BImSchG statuiere eine Duldungspflicht. Begründet sei dies damit, dass der Schutz des Nachbarn durch seine Beteiligungsmöglichkeit im Genehmigungsverfahren nach § 19 BImSchG vorverlagert sei.

Vorliegend käme es nicht auf die bisher höchstrichterlich nicht geklärte Frage an, ob wegen gesundheitlicher Beeinträchtigungen und des Anspruchs auf körperliche Unversehrtheit gem. § 1004 BGB analog iVm. § 823 Abs. 1 BGB ein Anspruch auf Einstellung des Betriebs der Anlagen besteht. Der Kläger, der sich im Berufungsverfahren nur noch auf Schlafstörungen seit Inbetriebnahme der Anlagen berief, habe nicht hinreichend konkret ausgeführt, im Hinblick auf Häufigkeit, Dauer, Abhängigkeit vom jeweiligen Raum im Haus und der Öffnung von Fenstern vorgetragen. Damit sei unklar, welches Ausmaß und welche Intensität die Schlafstörungen erreichen würden. Ein angebotenes Sachverständigengutachten sei nicht einzuholen, da sich dies als unzulässiger Ausforschungsbeweis darstellen würde.

Auch könne der Beklagte nicht gemäß §§ 1004 Abs. 1, 906 BGB sonstige Maßnahmen wegen Einwirkungen auf das in seinem Eigentum stehende Grundstück verlangen. Nach dem erstinstanzlich eingeholten Sachverständigengutachten würde nicht feststehen, dass die Anlagen mehr als nur unwesentlich iSv. § 906 Abs. 1 S. 1 BGB die Benutzung des Grundstücks beeinträchtigen würden.

Soweit der Kläger geltend machte, dem Sachverständigen würde es an der notwendigen Neutralität ermangelt haben, könne er damit im Berufungsverfahren nicht gehört werden. Er habe im erstinstanzlichen Verfahren den Sachverständigen wegen Befangenheit abgelehnt. Der Antrag sei zurückgewiesen worden. Dagegen hätte er Beschwerde einlegen können, § 406 Abs. 5 ZPO, was nicht erfolgte. Das Berufungsgericht könne im Rahmen des Berufungsverfahrens nach § 512 ZPO nicht diejenigen Entscheidungen die dem Ersturteil vorausgegangen seien und gesondert mit der sofortigen Beschwerde anfechtbar seien, überprüfen.

Soweit der Kläger rügte, dass keine Langzeitmessung vorgenommen worden sei, verwies das OLG darauf, dass die TA Lärm keine entsprechende Vorgabe enthalte. Es sei u.a. auf Abschnitt 6.2 der DIN 45645-1 verwiesen, demzufolge Zeit und Dauer der Messungen je nach Aufgabenstellung so zu wählen seien, dass die Messergebnisse für die zu beurteilende Geräuschimmission kennzeichnend sind. Es müsste deshalb keine Messszeit durchgehend über den gesamten Beurteilungszeitraum erfolgen, sondern die Messung müsse nach Zeitpunkt und Dauer aus einem oder mehreren Intervallen bestehen, deren Dauer kürzer als die Gesamtdauer sein könnten. Ausdrücklich würde in Ziffer 6.2 darauf hingewiesen, dass dieses Verfahren sowohl zur Reduzierung des Zeitaufwands und zur Ausgrenzung nicht zu beurteilender Fremdgeräusche zweckmäßig sein könne. Der Sachverständige habe die unterlassene Langzeitmessung auch nachvollziehbar u.a. damit begründet, dass im Bereich des Hauses des Klägers auch in der unbelaubten Jahreszeit bei höheren Windgeschwindigkeiten windinduzierte Fremdgeräusche vorlägen, die das Messergebnis relevant beeinflussen würden. Eine Abtrennung der Fremdgeräusche vom Gesamtgeräusch sei bei einer unbeaufsichtigten Langzeitmessung nicht möglich. Bei der Messung habe er überwiegend windinduzierte Fremdgeräusche festgestellt. In Phasen mit wenig Fremdgeräuschen habe er die Geräuschsituation lediglich mit 43 db(A) abschätzen können (ein nach Anhang A.3.4.1. TA Lärm ausdrücklich zugelassenes Verfahren). Die Messungen und Berechnungen des Sachverständigen habe der Kläger einschließlich von Abstandkorrekturen nicht konkret angegriffen.  

Soweit der Kläger erstmals im Berufungsverfahren geltend gemacht habe, dass von den Anlagen  durch über den Erdboden vermittelter und auf sein Hausgrundstück treffender „Körperschall“ ausgehen lägen die Voraussetzungen des § 531 Abs. 2 S. 1 ZPO für die Zulassung des neuen Angriffsmittels nicht vor.

Schleswig-Holsteinisches OLG, Urteil vom 14.12.2021 - 8 U 12/21 -

Sonntag, 22. Mai 2022

Zahlungspflicht im Fitnessstudio bei coronabedingt angeordneter Schließung

Corona hat das Wirtschaftsleben verändert. Betroffen waren letztlich alle Bereiche des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens. Die Auflagen (wie Maskenpflicht, Impfung oder Testung) wurden begleitet von weitreihenden Einschränkungen in wirtschaftlichen Bereichen, wie z.B. die Schließung von Ladengeschäften und Verbot von Freizeitveranstaltungen. Betroffen waren auch die Sport- und Fitnessstudios, die bundesweit über Monate schließen mussten. Während die Betreiber von Ladengeschäften bei dem BGH einen Erfolg erringen konnten dahingehend, dass eine Mietanpassung grundsätzlich infolge der pandemiebedingten Kündigung möglich ist (so grundlegend BGH, Urteil vom 12.01.2022 - XII ZR 8/21 -), erlitt die Branche der Fitnessstudiobetreiber eine Schlappe. Der BGH gab in seinem Urteil vom 04.05.2022 - XII ZR 64/21 - einem Nutzer eines Fitnessstudio Recht, der auf Rückzahlung von Beiträgen für die Zeit der Schließung klagte.

1. Der BGH vertrat die rechtsdogmatisch sicherlich richtige Ansicht, dass ein Fall der Unmöglichkeit vorläge, §§ 275 Abs. 1, 326 Abs. 1 BGB. Unmöglichkeit liegt vor, wenn der Schuldner (hier der Betreiber des Fitnessstudios, der seine Räume zum Training dem Nutzer zur Verfügung zu stellen hat) die Leistung nicht erbringen kann. Eine objektive Unmöglichkeit liegt vor, wenn diese Leistung von niemanden erbracht werden kann. Dieser Fall lag nach den Feststellungen des BGH vor, da in dem fraglichen Zeitraum vorliegend vom 16.03. bis 04.06.2020 die Fitnesseinrichtungen im örtlichen Bereich coronabedingt aufgrund hoheitlicher Maßnahmen schließen mussten. Es läge auch kein nur vorübergehendes Leistungshindernis vor, da die geschuldete Leistung monatlich zu zahlen war und der Nutzer einen Anspruch darauf habe das Studio regelmäßig und ganzjährig nutzen zu können und dieser Vertragszweck während der Schließungszeit nicht erreichbar sei. Von daher sei die geschuldete Leistung nicht nachholbar.

Diese Ansicht des BGH ist nicht zwingend. Wenn ein Vertrag auf (hier) 24 Monate geschlossen wird und es zu einer objektiven Unmöglichkeit der Zurverfügungstellung von knapp drei Monaten kommt, ist nicht ersichtlich, weshalb eine Nachholbarkeit nach Ende der regulären Vertragslaufzeit nicht gegeben sein sollte, erst recht dann, wenn bei Wiederaufnahme des betriebs der Nutzer die Einrichtung im Rahmen des Vertrages weiter nutzt. Hier müsste jedenfalls zur Negation der Nachholbarkeit geprüft werden, ob dies noch nach dem Vertragszweck, auf den der BGH abstellt, für den Nutzer möglich ist.

2. Einen Anspruch des Betreibers des Fitnessstudios auf Vertragsanpassung nach den Regeln über den Wegfall der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB), den der Senat im Verhältnis Mieter - Vermieter in seinem Urteil vom 12.01.2022 annahm, schloss der BGH hier aus. Liege ein Fall der Unmöglichkeit iSv. §c 275 BGB vor, greife § 313 BGB nicht.

Entgegen einer in der Rechtsprechung abgenommenen Auffassung, dass sich der Vertrag für die Zeit der Schließung verlängert, schließt dies der BGH mit Hinweis darauf aus, dass eine Anpassung nach den Grundsätzen des § 313 Abs. 1 BGB dann nicht in Betracht käme, wenn das Gesetz in den Vorschriften über die Unmöglichkeit der Leistung die Folge der Vertragsstörung bestimme. Damit scheide § 313 BGB aus, soweit der Tatbestand des § 275 BGB erfüllt sei.

Der vorliegende Fall der rechtlichen Unmöglichkeit der Leistungserbringung sei von der Regelung des § 275 Abs. 1 BGB erfasst mit der Folge, dass der Fitnessstudiobetreiber seinen Vergütungsanspruch nach § 326 Abs. 1 BGB verloren habe. Daneben sei eine Anpassung nach § 313 Abs. 1 BGB nicht möglich. Gegenstand des § 313 Abs. 1 BGB sei eine durch die Veränderung der Geschäftsgrundlage ausgelöste Störung des vertraglichen Äquivalenzverhältnisses von Leistung und Gegenleistung. Eine Anpassung sei aber nicht mehr möglich, wenn - wie bei §§ 275 Abs. 1, 326 Abs. 1 S. 1 BGB - die wechselseitigen vertraglichen Leistungsverpflichtungen entfallen seien. (Anmerkung: In dem Urteil zur Höhe der geschäftsraummiete vom 12.01.2022 hatte der BGH darauf abgestellt, dass dem  Mieter seine Leistungen - Mietzahlungen - nicht rechtlich unmöglich wurden und der Vermieter seiner Leistungspflicht - in Form der Zurverfügungstellung der Räume - weiter nachkam, also kein Fall der Unmöglichkeit nach § 175 Abs.1 BGB gegeben war).

Weiter merkte der BGH (zustimmend zu der Feststellung im Berufungsurteil) an, dass die vom Fitnessstudiobetreiber begehrte Anpassung des Vertrages im Ergebnis nicht darauf ausgerichtet sei, , den Vertrag den durch COVID-19 veränderten Umständen anzupassen, sondern die für ihn wirtschaftlich nachteiligen Folgen der Unmöglichkeit zu korrigieren, was nicht Zweck der Regelung zur Störung der Geschäftsgrundlage sei.

3. Zudem scheide nach Ansicht des BGH eine Vertragsanpassung gem. § 313 Abs. 1 BGB auch im Hinblick auf Art. 240 § 5 Abs. 2 EGBGB aus, da der Gesetzgeber mit dieser Regelung für die Pandemie eine spezielle Vorschrift geschaffen habe, die die wirtschaftlichen Folgen der Unmöglichkeit korrigiere. Eine Anpassung nach § 313 Abs. 1 BGB sei nicht möglich, wenn - wie hier - der Gesetzgeber das Risiko der Vertragsstörung erkannt und eine spezielle Norm geschaffen habe. Danach habe der Betreiber der Einrichtung die Möglichkeit, dem Nutzer einen Gutschein zu übergeben, dessen Wert dem nicht nutzbaren Teil der Berechtigung entspräche. Dies sei - im Interesse der Unternehmer und Kunden eine abschließende Regelung, um die Folgen der Pandemie abzufangen.

Dass dieser Gedanke zu kurz gefasst ist, zeigt sich schon zum Zeitpunkt der Entscheidung des BGH. Nach Art. 240 § 5 Abs. 5 EGBGB hat der Gutscheinempfänger bei Nichtnutzung des Gutscheins sich dessen Wert jedenfalls nach dem 31.12.2021 auszahlen lassen. Zum Zeitpunkt des Erlasses hatte der Gesetzgeber nämlich schlicht unbeachtet gelassen, dass eine mögliche weitere Schließungswelle pandemiebedingt notwendig werden könnte, die dann auch von November 2020 bis Mai 2021 erfolgte. Der Gutschein brachte dem Betreiber der Einrichtung lediglich für die die Schließungen März bis Juni 2020 eine mittelfristige finanzielle Entlastung, nicht aber für den Zeitraum ab November 2020: Der Gutschein war letztlich sofort auf Wunsch durch Auszahlung einzulösen, weshalb er im Wesentlichen keinen Sinn ergab. Soweit mithin der BGH zur Begründung seiner Entscheidung auf Ausschluss einer Vertragsanpassung nach Maßgabe von § 313 Abs. 1 BGB verweist, greift dies für das erste Lockdown (über welches zu entscheiden war), nicht für das zweite Lockdown, welches der Gesetzgeber ersichtlich nicht beachtet hatte. Nimmt man aber mit dem BGH an, dass die gesetzliche Regelung in Art. 240 § 5 EGBGB die gesetzliche Regelung der Unmöglichkeit modifizieren sollte und damit die Anwendbarkeit des § 313 BGB in ihrem Bereich ausschließen sollte, wäre doch (jedenfalls für das 2. Lockdown) § 313 BGB wieder aufzugreifen, da nach dem vom BGH benannten Willen des Gesetzgeber gerade diese Regelung im Hinblick auf die spezialgesetzliche Regelung ausgeschlossen und eine Modifikation im Interesse des Unternehmers und Kunden getroffen werden sollte.

BGH, Urteil vom 04.05.2022 - XII ZR 64/21 -