Der Kläger nahm mit seinem Rennrad an einem Zeitfahren seines Radsportvereins teil. Die Strecke führte über öffentliche, nicht für den übrigen Verkehr gesperrte Straßen. An der S-Straße schloss der Kläger annähernd zum Zeugen B. auf. Zu dieser Zeit fuhr der Kläger mit seinem Pkw Opel Astra ebenfalls die S-Straße in gleicher Fahrtrichtung mit ca. 30 km/h. Im weiteren verlauf der Straße wurde die Höchstgeschwindigkeit auf 40 km/h beschränkt. Ob der Kläger nach links zu einer Sportanlage abbiegen wollte, war streitig. Der Zeuge B. setzte zum Überholen des Pkw an. Der Kläger befand sich noch einige Meter hinter dem Zeugen B., wollte aber auch überholen. Kurz vor Beendigung des Überholvorgangs kollidierte der Zeuge B. mit der linken vorderen Ecke des Pkw (aus unklaren Grund) und stürzte. Der Beklagte bremste stark ab. Auch der Kläger bremste, wich nach rechts aus, konnte aber eine Kollision mit dem rechten Heck des Pkw nicht mehr verhindern und stürzte ebenfalls, wobei er sich Verletzungen zuzog.
Die Klage wurde vom Landgericht abgewiesen. Auf seine Berufung erließ des Oberlandesgericht (OLG) einen Hinweisbeschluss, demzufolge es beabsichtige, die Berufung wegen offensichtlicher Aussichtslosigkeit zurückzuweisen.
Grundsätzlich würden der Beklagte als Fahrer und Halter gemäß §§ 7, 18 Abs. 1 StVG und der Haftpflichtversicherer nach § 115 Abs. 1 Nr. 1 VVG eines unfallbeteiligten Fahrzeugs gesamtschuldnerisch für einen Schadensersatzanspruch haften. Die Verletzungen des Klägers seien beim Betrieb eines Fahrzeugs verursacht worden. Es läge keine höhere Gewalt nach § 7 StVG vor. Allerdings würde vorliegend die Gefährdungshaftung des Pkw gegenüber dem Mitverschulden des Klägers nach §§ 9 StVG, 254 BGB zurücktreten. Die Haftungsabwägung würde sich an den zu § 17 Abs. 1 entwickelten Rechtsgrundsätzen orientieren. Dazu seien alle unstreitigen oder erwiesenen Faktoren einzubeziehen, die zur Entstehung des Schadens beigetragen und einem der Beteiligten zuzurechnen seien (BGH, Urteil vom 21.11.2006 – VI ZR 115/05 -). Diese Abwägung könne auch zum vollständigen Ausschluss einer Einstandsverpflichtung führen, wenn das Verschulden des Geschädigten derart überwiege, dass die vom Schädiger ausgehende Ursache völlig zurücktrete (OLG Saarbrücken, Urteil vom 13.02.2014 – 4 U 59/13 -). Davon sei hier auszugehen.
Das OLG ging davon aus, dass es sich für den Kläger um einen typischen Auffahrunfall handele, der dem Anschein nach dadurch verursacht worden sei, dass er zu dicht aufgefahren sei oder unaufmerksam war; in beiden Fällen hätte er grob gegen seien Verkehrspflichten verstoßen. Gemäß § 4 Abs. 1 S. 1 StVO müsse der Abstand zu einem vorausfahrenden Fahrzeug idR. so groß sein, dass auch hinter dem (gefahrlos) gehalten werden kann, wenn dieses plötzlich abgebremst wird. Grundlos dürfe der Vorausfahrende nach § 4 Abs. 1 S. 2 StVO nicht stark abbremsen, doch sei hier das starke Abbremsen durch die vorausgegangene Kollision mit dem weiteren Radfahrer ein zwingender Grund gewesen. Weiterhin berücksichtigte das OLG, dass sich der Kläger auf einer sportlich ambitionierten Zeitfahrt befunden habe, was offenbar Einfluss auf seinen Fahrstil gehabt und die Unfallgefahr erhöht habe. Ohne Bemühen um schnelles Vorankommen habe im Bereich einer Geschwindigkeitsbegrenzung keine Veranlassung zum Überholen [Anm.: Nach dem Beschluss befand sich die Geschwindigkeitsbegrenzung erst im weiteren Verlauf der Straße, nicht an der Unfallstelle] und – wohl in Vorbereitung des Überholmanövers- Unterschreitens des gebotenen Sicherheitsabstandes bestanden.
Es sei nicht erwiesen, dass der Beklagte nach links abbiegen wollte. Insoweit habe der Beklagte seine vorherige Angabe zulässig glaubhaft korrigiert (was vom OLF näher dargelegt wurde). Letztlich käme es für die Beurteilung der Kollision als typischen Auffahrunfall auch nicht darauf an, ob der Beklagte nach links abbiegen wollte. Der Kläger sei nicht auf den Pkw aufgefahren, da dieser plötzlich und unangekündigt nach links habe abbiegen wollen, sondern da der Pkw infolge der Kollision stark abgebremst worden sei. Plötzliche Ereignisse wie ein Unfall oder drohende Gefahren seien typischerweise Anlass für ein abruptes Abbremsen des Vorausfahrenden, weshalb gerade die Abstandsregeln gelten würden. Halte sich ein Verkehrsteilnehmer nicht an diese und kann er deshalb nicht mehr rechtzeitig reagieren, sei er als alleiniger Unfallverursacher des Auffahrunfalls anzusehen.
Ebenso unerheblich sei der Umstand, dass der Kläger nach seiner Sicht den eigenen Überholvorgang bereits eingeleitet habe. Auch dies würde nicht die Unterschreitung des Sicherheitsabstandes rechtfertigen, solange sich das überholende Fahrzeug noch hinter dem zu überholenden Fahrzeug auf dem rechten Fahrstreifenbefände. Nach den eigenen Angaben des Klägers sei er noch nicht auf die linke Fahrspur ausgeschert gewesen, sondern nur Richtung Mittellinie gefahren. Auch dass er „instinktiv“ nach dem Abbremsen nach rechts ausgewichen sei, spreche gegen ein bereits eingeleitetes Überholmanöver.
Die Berufung wurde nach dem Hinweisbeschluss zurückgenommen.
OLG Schleswig, Urteil vom
27.04.2023 - 7 U 214/22 -
Aus den Gründen:
Tenor
I. Der Kläger wird gemäß § 522
Abs. 2 ZPO darauf hingewiesen, dass die Berufung gegen das angefochtene
Urteil offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg bietet, die Rechtssache keine
grundsätzliche Bedeutung hat, die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung
einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts
durch Urteil nicht erfordert und eine mündliche Verhandlung nicht geboten ist.
Der Senat beabsichtigt deshalb, die Berufung aus den nachfolgenden Gründen ohne
mündliche Verhandlung durch einstimmigen Beschluss zurückzuweisen.
II. Es besteht Gelegenheit zur Stellungnahme binnen 3 Wochen, sofern die Berufung nicht aus Kostengründen innerhalb der genannten Frist zurückgenommen werden sollte.
III. Der Senat beabsichtigt, den Streitwert für den zweiten Rechtszug auf 10.000,00 € festzusetzen.
Gründe
I.
Die Parteien
streiten um Schadensersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall.
Der Kläger nahm
am 13.09.2020 mit seinem Rennrad an einer in der Art eines Zeitfahrens
ausgestalteten Ausfahrt seines Radsportvereins teil, bei dem die Teilnehmer im
Abstand von 30 bis 60 Sekunden von S. aus losfuhren. Der Kläger startete um
kurz vor 11:00 Uhr. Die Strecke verlief über öffentliche Straßen, die nicht für
den übrigen Verkehr gesperrt worden waren. Vor dem Kläger war der Zeuge B.
gestartet. Gegen 11:03 Uhr erreichte der Kläger St., wo er auf der S.-straße
annähernd zum Zeugen B. aufschloss.
Der Beklagte zu
1) befuhr zu diesem Zeitpunkt mit seinem bei der Beklagten zu 2)
haftpflichtversicherten Fahrzeug Opel Astra die S.-straße in St. in gleicher
Richtung wie die Radfahrer (d.h. Richtung L.) mit einer Geschwindigkeit von ca.
30 km/h. Im weiteren Verlauf der S.-straße wird die zulässige
Höchstgeschwindigkeit auf 30 km/h begrenzt. Streitig ist, ob der Beklagte zu 1)
beabsichtigte, auf eine linksseitig gelegene Sportplatzanlage abzubiegen.
Der Zeuge B.
setzte zum Überholen des Fahrzeugs des Beklagten zu 1) an. Der Kläger, der
ebenfalls beabsichtigte, den PKW zu überholen, befand sich zu diesem Zeitpunkt
noch einige Meter dahinter. Kurz vor Beendigung seines Überholvorgangs
kollidierte der Zeuge B. aus unklaren Gründen mit seinem Rennrad mit der linken
vorderen Ecke des Beklagtenfahrzeugs und stürzte. Der Beklagte zu 1) bremste
daraufhin stark ab. Der Kläger bremste ebenfalls und wich nach rechts aus,
konnte jedoch eine Kollision mit dem rechten Heck des PKW nicht mehr
verhindern. Auch er stürzte und zog sich erhebliche Verletzungen zu.
Der Kläger
behauptet, der Beklagte zu 1) sei über eine längere Strecke sehr langsam
gefahren. Er habe nach links zu den Sportplätzen abbiegen wollen, dies aber
nicht angezeigt. Zu der Kollision mit dem Zeugen B. sei es gekommen, als der
Beklagte zu 1) sein Fahrzeug unvermittelt nach links gelenkt habe, während der
Zeuge sich im Überholvorgang etwa auf Höhe der B-Säule des Fahrzeugs befunden
habe.
Der Kläger ist
der Auffassung, der Beklagte zu 1) habe den Unfall wegen eines Verstoßes gegen
§ 9 StVO allein verschuldet.
Der Kläger
macht ein Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 5.000.00 € sowie Schadensersatz
wegen seiner Schäden an Fahrrad und Kleidung und wegen seines
Haushaltsführungsschadens - zusammen 5.005,00 € - geltend.
Der Kläger hat erstinstanzlich beantragt,
1. die Beklagten als Gesamtschuldner zu
verurteilen, an ihn ein angemessenes Schmerzensgeld zzgl. Zinsen in Höhe von 5
%-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz der EZB seit Rechtshängigkeit zu
zahlen,
2. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn Schadensersatz in Höhe von 5.005,00 € zzgl. Zinsen in Höhe von 5 %-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz der EZB seit dem 05.12.2020 zu zahlen sowie
3. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 1.054,10 € zzgl. Zinsen in Höhe von 5 %-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz der EZB seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
Die Beklagten haben beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagten
haben zunächst vortragen lassen, der Beklagte zu 1) habe nach links auf die
Zufahrt zu der Sportanlage abbiegen wollen und sich dabei verkehrsordnungsgemäß
verhalten. In der mündlichen Verhandlung hat der Beklagte zu 1) demgegenüber
vorgetragen, er habe geradeaus fahren wollen zu seiner Wohnanschrift, die sich
am Ende der Hauptstraße kurz vor dem Ortsausgang von St. auf der rechten Seite
befinde. Der Zeuge B. sei beim Überholen gegen den PKW gestoßen. Die Beklagte
zu 2) hat sich diesem Vortrag angeschlossen.
Die Beklagten
sind der Auffassung, es greife ein Anscheinsbeweis gegen den Kläger als
Auffahrenden. Der Kläger habe entweder den erforderlichen Sicherheitsabstand
nicht eingehalten oder er sei unaufmerksam gewesen.
Das Landgericht
hat die Klage abgewiesen und im Wesentlichen ausgeführt:
Die Klage sei
unbegründet, weil ein Anscheinsbeweis gegen den Kläger spreche. In der Abwägung
der Verursachungsbeiträge könne die Betriebsgefahr des Kraftfahrzeugs
zurücktreten, wenn der andere Unfallbeteiligte als alleiniger Unfallverursacher
anzusehen sei. Der Kläger sei unstreitig auf das Heck Beklagtenfahrzeugs
aufgefahren. Bei einem Auffahrunfall könne der Anschein gegen den auffahrenden
Hintermann sprechen, dass dieser entweder unaufmerksam gewesen sei (§ 1
Abs. 1 StVO) oder aber nicht den erforderlichen Sicherheitsabstand
eingehalten habe (§ 4 Abs. 1 StVO). Dieser Anschein sei vorliegend
nicht erschüttert. Der vom Kläger behauptete Abbiegevorgang des Beklagten zu 1)
unter Verstoß gegen § 9 StVO sei weder unstreitig, noch erwiesen. Das
Vorbringen des Beklagten zu 1) in der mündlichen Verhandlung sei nicht
präkludiert. Ein Unfallrekonstruktionsgutachten sei nicht beantragt worden,
zudem fehlten hierfür konkrete Anknüpfungstatsachen. Selbst wenn man jedoch
unterstelle, der Beklagte zu 1) habe abbiegen wollen und zudem nicht geblinkt,
liege noch kein atypischer Geschehensablauf vor, der der Anwendung des
Anscheinsbeweises entgegenstehe. Denn für den Kläger habe sich das
Unfallgeschehen nicht im Zuge eines eigenen Überholvorganges zugetragen.
Vielmehr habe der Kläger auf eine sich vor ihm abspielende Verkehrssituation
nicht mehr angemessen reagieren können. Das Bremsen des Beklagten zu 1) sei als
Gefahrenbremsung nicht ohne zwingenden Grund im Sinne des § 4 Abs. 1
Satz 2 StVO erfolgt. Der Kläger habe sich zu diesem Zeitpunkt dem PKW
bereits soweit angenähert, dass er entgegen § 4 Abs. 1 Satz 1
StVO nicht mehr in der Lage gewesen sei, erforderlichenfalls dahinter
anzuhalten. Insoweit liege eine typische Situation vor, in der der
Anscheinsbeweis greife. Es bleibe deshalb hier bei dem Grundsatz, dass der
Auffahrende zu 100 % hafte. Insoweit sei unerheblich, ob der Beklagte zu 1) in
Bezug auf den Zeugen B. einen Fahrfehler begangen habe, denn die Abstandsregeln
sollten gerade davor schützen, dass nachfolgender Verkehr in eine Unfallstelle
hineinfährt und die Unfallfolgen noch verschlimmert.
Mit seiner
Berufung verfolgt der Kläger sein ursprüngliches Klagebegehren weiter. Das
Landgericht habe fehlerhaft einen klägerischen Anspruch verneint. Der Kläger
sei nicht alleiniger Unfallverursacher und die Betriebsgefahr des vom Beklagten
zu 1) geführten Fahrzeugs trete nicht vollständig zurück. Der Beklagte zu 1)
habe seine Geschwindigkeit derartig reduziert, dass der Kläger die Kollision
nicht mehr habe verhindern können. Der Beklagte zu 1) habe einen Abbiegevorgang
eingeleitet, ohne diesen anzukündigen. Er hätte die Radfahrer vorher wahrnehmen
können und müssen. Das Vorbringen der Beklagten sei widersprüchlich und
unglaubhaft. Letztlich sei der gegen den Auffahrenden sprechende
Anscheinsbeweis vorliegend durchbrochen.
Der Kläger beantragt,
unter Abänderung des am 18.11.2022
verkündeten und am 22.11.2022 zugestellten Urteils des Landgerichts Lübeck (3 O
42/22)
1. die Beklagten als Gesamtschuldner zu
verurteilen, an ihn ein angemessenes Schmerzensgeld zzgl. Zinsen in Höhe von 5
%-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz der EZB seit Rechtshängigkeit zu
zahlen,
2. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn Schadensersatz in Höhe von 5.005,00 € zzgl. Zinsen in Höhe von 5 %-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz der EZB seit dem 05.12.2020 zu zahlen sowie
3. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 1.054,10 € zzgl. Zinsen in Höhe von 5 %-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz der EZB seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
Die Beklagten beantragen,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagten
verteidigen das angefochtene Urteil und erläutern die Umstände, die zu dem
unterschiedlichen Vorbringen geführt haben.
Wegen des
weiteren Vorbringens der Parteien wird auf die im Berufungsrechtszug
gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.
II.
Gemäß
§ 513 ZPO kann eine Berufung nur auf eine Rechtsverletzung oder darauf
gestützt werden, dass die gemäß § 529 ZPO zu berücksichtigenden
Feststellungen ein anderes als das landgerichtliche Ergebnis rechtfertigen.
Beides liegt für die Berufung der Beklagten nicht vor.
Das Landgericht
hat die Klage zu Recht und mit zutreffender Begründung abgewiesen.
Im Grundsatz
haften zwar der Beklagte zu 1) gemäß §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG
als Halter und Fahrer sowie die Beklagte zu 2) gemäß § 115 Abs. 1
Nr. 1 VVG als Haftpflichtversicherer eines unfallbeteiligten
Kraftfahrzeugs gesamtschuldnerisch auf Schadensersatz. Die Verletzungen des
Klägers sind beim Betrieb des von dem Beklagten zu 1) geführten Pkw entstanden
worden und das Unfallereignis wurde auch nicht im Sinne des § 7
Abs. 2 StVG durch höhere Gewalt verursacht. Die Gefährdungshaftung (und
damit die Betriebsgefahr des Kraftfahrzeugs) tritt jedoch vorliegend gegenüber
dem Mitverschulden des Klägers vollständig zurück. Gemäß § 9 StVG findet
die Vorschrift des § 254 BGB Anwendung, wenn bei der Entstehung des
Schadens ein Verschulden des Verletzten mitgewirkt hat. Hierbei folgt die
Haftungsabwägung den zu § 17 Abs. 1 StVG entwickelten
Rechtsgrundsätzen. Bei der Abwägung der beiderseitigen Verursachungsbeiträge
sind alle - aber auch nur die unstreitigen oder erwiesenen - Faktoren einzubeziehen,
die eingetreten sind, zur Entstehung des Schadens beigetragen haben und einem
der Beteiligten zuzurechnen sind (BGH NJW 2007, 506 f. Rn. 15). Nur vermutete
Tatbeiträge oder die bloße Möglichkeit einer Schadensverursachung auf Grund
geschaffener Gefährdungslage haben deswegen außer Betracht zu bleiben. Hierbei
kann die Abwägung zum vollständigen Ausschluss des Ersatzanspruchs führen, wenn
das Verschulden des Geschädigten – wie hier – derart überwiegt, dass die vom
Schädiger ausgehende Ursache völlig zurücktritt (OLG Saarbrücken, Urteil vom
13. 2.2014, 4 U 59/13, Juris Rn. 24 - 26).
Für den Kläger
handelt es sich um einen typischen Auffahrunfall, den er dem Anschein nach
dadurch verursacht hat, dass er entweder zu dicht aufgefahren ist oder
unaufmerksam war und hierdurch grob gegen seine Verkehrspflichten verstoßen
hat. Er befand sich unstreitig in einigem Abstand hinter dem Fahrzeug des
Beklagten zu 1), als dieses stark abgebremst wurde. Gemäß § 4 Abs. 1
S. 1 StVO muss der Abstand zu einem vorausfahrenden Fahrzeug in der Regel
so groß sein, dass auch dann hinter diesem gehalten werden kann, wenn es
plötzlich gebremst wird. Zwar darf ein Vorausfahrender gemäß § 4
Abs. 1 S. 2 StVO nicht ohne zwingenden Grund stark bremsen,
allerdings war das starke Abbremsen des Beklagten zu 1) durch die
vorausgegangene Kollision mit dem weiteren Radfahrer, dem Zeugen B., im Sinne
eines zwingenden Grundes veranlasst. Zu berücksichtigen ist auch, dass sich der
Kläger auf einer sportlich ambitionierten Zeitfahrt befand, was offenbar
Einfluss auf seinen Fahrstil gehabt und die Gefahr eines Unfalls erhöht hat.
Ohne das Bemühen um schnelles Vorankommen hätte nämlich gar kein Anlass
bestanden, das Beklagtenfahrzeug im Bereich einer Geschwindigkeitsbeschränkung
auf 30 km/h überholen zu wollen und - offenbar in Vorbereitung des
Überholmanövers - den gebotenen Sicherheitsabstand zu unterschreiten.
Es ist weder
unstreitig noch erwiesen, dass der Beklagte zu 1) nach links abbiegen wollte.
Sein korrigierendes Vorbringen zur Sache in der mündlichen Verhandlung vom
19.10.2022 ist berücksichtigungsfähig und nicht von vornherein unglaubhaft. Die
Wohnanschrift des Beklagten zu 1) liegt tatsächlich nur ca. 200 - 300 m hinter
der Unfallstelle, so dass sein Vorbringen, er habe dorthin fahren wollen,
plausibel erscheint. Das Landgericht hat den klägerseits zum Unfallhergang
benannten Zeugen B. vernommen, ohne dass es danach die Überzeugung von einem
Abbiegemanöver des Beklagten zu 1) zu gewinnen vermochte. Weiteren Beweis hat
der Kläger - auch im Berufungsrechtszug - nicht angetreten. Unabhängig davon
wäre die Einholung eines Unfallrekonstruktionsgutachtens als ungeeignet
abzulehnen, weil es an jeglichen objektiven Anknüpfungstatsachen fehlt. Ein
etwaiges Abbiegen des Beklagten zu 1) kann deshalb im Rahmen der Abwägung der
Verursachungsbeiträge nicht berücksichtigt werden.
Unabhängig
davon käme es für die Beurteilung der Kollision zwischen dem Kläger und dem
Fahrzeug des Beklagten zu 1) als - typischer - Auffahrunfall auch nicht darauf
an, ob der Beklagte zu 1) nach links abbiegen wollte. Denn unstreitig ist der
Kläger nicht auf den PKW aufgefahren, weil dieser plötzlich und unangekündigt
einen Abbiegevorgang eingeleitet hat, sondern weil er nach der Kollision mit
dem Zeugen B. stark abgebremst wurde. Plötzliche Ereignisse wie ein Unfall oder
drohende Gefahr sind typischerweise Anlass für abruptes Bremsen des
vorausfahrenden Fahrzeugs, weshalb gerade die Abstandsregeln gelten. Hält sich
ein nachfolgender Verkehrsteilnehmer nicht daran und kann er deshalb auf ein
derartiges Ereignis nicht mehr rechtzeitig reagieren, ist er als alleiniger
Unfallverursacher des Auffahrunfalls anzusehen. So liegt es hier.
Ob der Kläger
seinen eigenen Überholvorgang (aus seiner Sicht) bereits eingeleitet hatte, ist
für die Beurteilung der Verursachung ebenfalls unerheblich. Denn ein
(beabsichtigtes) Überholen rechtfertigt keine Unterschreitung des
Sicherheitsabstandes, solange sich das überholende Fahrzeug noch hinter dem zu
überholenden Fahrzeug auf dem rechten Fahrstreifen befindet. Nach seinem
eigenen Vorbringen war der Kläger jedenfalls noch nicht auf den linken (Gegen-)
Fahrstreifen ausgeschert, sondern erst „in Richtung Mittellinie“ gefahren. Der
Umstand, dass er infolge des Abbremsens des Beklagtenfahrzeugs „instinktiv“
versuchte nach rechts auszuweichen und sodann mit der rechten hinteren Ecke des
PKW kollidierte, spricht ebenfalls gegen ein bereits eingeleitetes Überholmanöver.
Nach allem ist
der gegen den Kläger streitende Anscheinsbeweis nicht erschüttert und tritt die
einfache Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs hinter dem groben Verschulden
des Klägers vollständig zurück.
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