Mittwoch, 5. Februar 2025

Überholer stößt mit zu schnell fahrenden Gegenverkehr zusammen

Nach der Überzeugung des Senats, die er in seinem Hinweisbeschluss nach § 522 ZPO näher darlegte, war die vom Kläger gegen das landgerichtliche Urteil eingelegte Berufung in der Sache unbegründet. Er habe mit seinem Pkw einen in seiner Fahrtrichtung fahrenden Lkw beschleunigend von 88 auf 96 km/h überholt und sei dabei mit einem entgegenkommenden Pkw, der die hier zulässige Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h (§ 3 Abs. 3 Nr. 2 lit. c) StVO um 12 km/h überschritten habe, kollidiert. Dieser Unfall sei für die beklagte entgegenkommende Fahrerin (Beklagte zu 2) unabwendbar gewesen, § 17 Abs. 3 StVG, unabhängig von der Geschwindigkeitsüberschreitung um 12 km/h. Aber auch im Übrigen hätte der Kläger einen kausalen schuldhaften Verursachungsbeitrag der Beklagten zu 2 nicht bewiesen und träte hier die Betriebsgefahr von deren Pkw vollständig hinter dem schuldhaften Verkehrsverstoß des Klägers und der von seinem Fahrzeug ausgehenden Betriebsgefahr zurück.

So damit, ob eine Geschwindigkeitsüberschreitung nicht alleine deshalb der Fahrerin des entgegenkommenden Fahrzeugs zugerechnet werden könne, da das Fahrzeug bei Einhaltung der vorgeschriebenen Geschwindigkeit erst später an die Unfallstelle gelangt wäre. Das verneinte er mit Hinweis darauf, dass erforderlich sei, dass sich in dem Unfall eine auf das zu schnelle Fahren zurückzuführende Gefahrenlage aktualisiere. Damit sei der erforderliche rechtliche Ursachenzusammenhang zwischen Geschwindigkeitsüberschreitung und Unfall zu bejahen, wenn bei Einhaltung der zulässigen Geschwindigkeit zum Zeitpunkt des Eintritts der kritischen Verkehrssituation der Unfall zwar nicht räumlich, aber zeitlich vermeidbar gewesen wäre. Das wäre der Fall, gelänge dem Fahrer bei einer verkehrsordnungsgemäßen Fahrweise zwar nicht das Anhalten des Fahrzeugs vor der späteren Unfallstelle, aber hätte er zumindest den Wagen so stark abbremsen können, dass dem Verletzten Zeit zum rechtzeitigen Verlassen des Gefahrenbereichs verblieben wäre. Das aber würde auch gelten, wenn es dabei nur zu einer deutlichen Abmilderung des Unfallverlaufs und der erlittenen Verletzungen käme (BGH, Urteil vom 06.09.2017 – 7 U 18/27 -).

Hierzu setzte sich der Senat mit der kritischen Verkehrslage auseinander. Diese beginne mit dem Zeitpunkt, wenn die erkennbare Situation konkreten Anhalt dafür biete, dass eine Gefahrensituation unmittelbar bevorstünde. Für einen vorfahrtsberechtigten Fahrzeugführer würde dies in Bezug auf seinen Vorrang nicht bei abstrakten Gefahren bestehen, sondern erst bei erkennbaren Umständen für eine  bevorstehende Vorfahrtverletzung, wofür es neben der Fahrweise des Wartepflichtigen auf alle Umstände ankäme, die sich auf seine Fahrweise auswirken könnten, also auch die Fahrweise des Wartepflichtigen selbst. Gäbe der Vorfahrtsberechtigte dem Wartepflichtigen durch einen Verkehrsverstoß Veranlassung die Wartepflicht (insbesondere wegen Fehleinschätzung des Verkehrslage) zu verletzen, so könne die kritische Verkehrslage bereits vor der eigentlichen Vorfahrtverletzung eintreten (BGH, Urteil vom 22.11.2016 – VI ZR 533/15 -).

Daraus würde sich hier erschließen, dass die Unfall für die Beklagte zu 2 weder räumlich noch zeitlich vermeidbar war noch sich die Personen- und Sachschäden erheblich anders dargestellt hätten.

Die kritische Verkehrssituation habe sich für die Beklagte erst dargestellt, als die Beklagte zu 2das überholende Klägerfahrzeug erstmals gesehen habe.  Außer durch ein hochrisikoreiches und nicht zumutbares Ausweichen in den Straßengraben sei der Unfall weder räumlich noch zeitlich vermeidbar gewesen. Nach dem Gutachten wer die Beklagte zu 2 zwar bei Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit noch vor dem vorliegenden konkreten Unfallort zum Stehen gekommen, der Zusammenstoß hätte sich allerdings an einer „unerheblich anderen Stelle“, rund 8 m weiter nördlich in Fahrtrichtung des Klägers / gegen die Fahrtrichtung der Beklagten zu 2 mit einer zeitlichen Verzögerung von nur 0,3 Sekunden ereignet.  Der Unfall wäre damit weder zeitlich und örtlich zu vermeiden gewesen und zudem wäre der Kläger auch in diesem Fall mit dem überholten Lkw kollidiert, die Personen- und Sachschäden hätten sich auch nur unwesentlich anders dargestellt.

Die Berufung wurde nach dem Hinweisbeschluss zurückgenommen.

OLG Hamm, Hinweisbeschluss vom 05.08.2024 - I-7 U 57/24 -


Aus den Gründen:

Tenor

Der Senat beabsichtigt, die Berufung des Klägers auf seine Kosten gemäß § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO zurückzuweisen.

Es wird dem Kläger Gelegenheit gegeben, binnen drei Wochen nach Zugang dieses Beschlusses Stellung zu nehmen.

Gründe

I.

Der Senat ist einstimmig davon überzeugt, dass die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat. Zutreffend hat das Landgericht die Klage abgewiesen.

Die Einwendungen des Klägers, bezüglich derer zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Berufungsbegründungsschrift (Bl. 37 ff. der zweitinstanzlichen elektronischen Gerichtsakte, im Folgenden: eGA II-37 ff.) verwiesen wird, greifen nicht durch.

Ansprüche des Klägers aus § 7 Abs. 1, § 18 Abs. 1 StVG, § 823 Abs. 1 BGB in Verbindung mit § 115 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VVG scheiden aus.

Der Senat ist gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO an die Feststellungen des Landgerichts gebunden. Auch der Senat ist nach § 286 ZPO davon überzeugt, dass nicht die Beklagte zu 2, sondern der Kläger unter Verstoß gegen § 5 Abs. 2 Satz 1 StVO überholt und den Unfall allein verursacht hat, der für die Beklagte zu 2 unabwendbar war.

1. Nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO hat das Berufungsgericht seiner Verhandlung und Entscheidung die vom Gericht des ersten Rechtszuges festgestellten Tatsachen zugrunde zu legen, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten. Konkrete Anhaltspunkte, die die in dieser Bestimmung angeordnete Bindung des Berufungsgerichts an die erstinstanzlichen Feststellungen entfallen lassen, können sich insbesondere aus Verfahrensfehlern ergeben, die dem erstinstanzlichen Gericht bei der Feststellung des Sachverhalts unterlaufen sind. Ein solcher Verfahrensfehler liegt namentlich vor, wenn die Beweiswürdigung in dem erstinstanzlichen Urteil den Anforderungen nicht genügt, die von der Rechtsprechung zu § 286 Abs. 1 ZPO entwickelt worden sind. Dies ist der Fall, wenn die Beweiswürdigung unvollständig oder in sich widersprüchlich ist, oder wenn sie gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstößt. Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der erstinstanzlichen Feststellungen können sich ferner aus der Möglichkeit unterschiedlicher Wertung ergeben, insbesondere daraus, dass das Berufungsgericht das Ergebnis einer erstinstanzlichen Beweisaufnahme anders würdigt als das Gericht der Vorinstanz. Dann aber hat es in eine erneute Beweisaufnahme einzutreten (BGH Urt. v. 23.6.2020 - VI ZR 435/19, VersR 2021, 1497 Rn. 18 m. w. N.; vgl. auch BGH Urt. v. 16.11.2021 - VI ZR 100/20, r+s 2022, 48 Rn. 15 f.; Senat Beschl. v. 7.1.2021 - 7 U 53/20, BeckRS 2021, 2530 = juris Rn. 21).

Die nach § 286 ZPO erforderliche Überzeugung des Gerichts erfordert keine absolute oder unumstößliche Gewissheit und keine "an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit", sondern nur einen für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit, der Zweifeln Schweigen gebietet (BGH Beschl. v. 18.1.2012 - IV ZR 116/11, VersR 2012, 849 Rn. 9; siehe auch BGH Urt. v. 12.12.2023 - VI ZR 76/23, r+s 2024, 170 Rn. 15).

2. Gemessen daran steht für den Senat völlig außer Zweifel, dass der Kläger den Lkw überholte, obwohl er zum Zeitpunkt des Entschlusses zum Überholen keine ausreichende Sichtmöglichkeit hatte, jedenfalls aber die Beklagte zu 2 nicht wahrnahm (Sachverständigengutachtens vom 31.05.2023 Seite 22, eGA I-171, und Anlage B71 (eGA I-384) und deshalb den Überholvorgang pflichtwidrig entgegen § 5 Abs. 2 Satz 1 StVO, wonach er zum Ausschluss jeder Behinderung des Gegenverkehrs verpflichtet war, nicht zurückstellte. Zudem hat der Kläger zum Reaktionszeitpunkt (offenbar in der trügerischen Hoffnung, den Überholvorgang noch abschließen zu können) weiter beschleunigt statt zu bremsen (Sachverständigengutachtens vom 31.05.2023 Seite 22, eGA I-171). Damit hat er den Unfall sowie seine Folgen verursacht; der Unfall war für ihn nicht unabwendbar im Sinne des § 17 Abs. 3 StVG.

Dass der Kläger den Lkw überholte und nicht etwa die Beklagte zu 2, ergibt sich zunächst schon allein aus der eindeutigen Spurenlage (dazu unter a). Diese wird durch eine Betrachtung der gefahrenen Geschwindigkeit zusätzlich bestätigt (dazu unter b). Die Aussage der Zeugen steht dem nicht entgegen (dazu unter c und d). Konkrete Angaben des Klägers liegen nicht vor (dazu unter e). Vielmehr stützen die Angaben der Beklagten zu 2 diese Feststellung (dazu unter f).

a) Zunächst steht aufgrund der Spurenlage auf der Fahrbahn, an den beteiligten Fahrzeugen sowie am Lkw völlig außer Zweifel, dass der klägerische Pkw den Lkw überholte, mit der linken vorderen Front zunächst mit der linken vorderen Front des Beklagtenfahrzeugs kollidierte, sich gegen den Uhrzeigersinn drehte und mit dem hinteren rechten Seitenteil mit dem Lkw kollidierte, bevor er entgegen der Fahrtrichtung im Graben zum Stehen kam.

Die Kollisionsstellung der Fahrzeuge zueinander ist - entgegen dem Berufungsvorbringen - vom Gerichtssachverständigen anhand der Überdeckung der frontalen Schadensbilder überzeugend festgestellt (Sachverständigengutachten vom 31.05.2023 Seite 10 Abs. 6 f., eGA I-159, und Anlage A38, eGA I-284, sowie Ergänzungsgutachten vom 10.10.2023 Seite 3 Abs. 1, eGA I-465). Diese Feststellung entspricht dem Ergebnis des vorgerichtlichen Gutachtens (E.-Gutachten vom 27.09.2022 Seite 9, eGA I-66) und der jahrelangen Erfahrung des Senats als Fachsenat.

Die Beschädigung des klägerischen Fahrzeugs an der rechten hinteren Seite spricht - neben den Ergebnissen der erfolgten Testreihen (Sachverständigengutachten vom 31.05.2023 Seite 12 f., eGA I-161 f., und Anlage A43-A53, eGA I-300-330, sowie Ergänzungsgutachten vom 10.10.2023 Seite 4 Abs. 1, eGA I-466) - entgegen dem Berufungsvorbringen eindeutig für eine Rotation des klägerischen Fahrzeugs gegen den Uhrzeigersinn (Sachverständigengutachten vom 31.05.2023 Seite 14 Abs. 3 ff., eGA I-163, Anlage A57, eGA I-342, und Anlage A21, eGA I-234, und Anlage A58-A62, eGA I-345-357, sowie Ergänzungsgutachten vom 10.10.2023 Seite 3 Abs. 4, eGA I-465). Diese Feststellung entspricht dem Ergebnis des vorgerichtlichen Gutachtens (E.-Gutachten vom 27.09.2022 Seite 4, eGA I-61) und der jahrelangen Erfahrung des Senats als Fachsenat. Wäre das Fahrzeug des Klägers entsprechend dem Berufungsvorbringen einfach nur - was auch energetisch nicht passt (Sachverständigengutachten vom 31.05.2023 Seite 11 f., eGA I-160 f.) - rückwärts geschoben worden, gäbe es diese Spurzeichnung nicht.

Dem entsprechen auch die eindeutigen Abriebspuren auf der Straße. Nach der Kollision wurde das klägerische Fahrzeug zunächst nach rechts versetzt, was die hakenförmige Reifenabriebspur zeichnete, bevor es sich drehte und der linke Vorderreifen eine gradlinige Auslaufspur bis zur Endstellung zeichnete (Sachverständigengutachten vom 31.05.2023 Seite 11 Abs. 2, eGA I-160, und Anlage A39 [im Gutachten als Anlage A39 bezeichnet, in der Dokumentation als Anlage A37 ausgewiesen], eGA I-287, sowie Ergänzungsgutachten vom 10.10.2023 Seite 3 Abs. 3, eGA I-465). Diese Feststellung entspricht dem Ergebnis des vorgerichtlichen Gutachtens (E.-Gutachten vom 27.09.2022 Seite 2 f., eGA I-59 f.) und der jahrelangen Erfahrung des Senats als Fachsenat.

Dazu passt schließlich, dass auch das Beklagtenfahrzeug entsprechende Spuren auf der Fahrbahn zeichnete (Sachverständigengutachten vom 31.05.2023 Seite 12 Abs. 2, eGA I-161, und Seite 14 Abs. 1, eGA I-163, und Anlage A42, eGA I-297).

b) Dieses Ergebnis wird bei Betrachtung der gefahrenen Geschwindigkeiten bestätigt.

Entgegen dem Berufungsvorbringen ist die Geschwindigkeitsauswertung anhand der Airbagdaten nicht ungenügend; vielmehr hätte - von den zutreffenden fachlichen Kenntnissen des Gerichtssachverständigen und seines Büros konnte sich der Senat bereits in einer Vielzahl von Fällen überzeugen - in diesen Fragen ausweislich den Ausführungen des Sachverständigen eine anderweitige Berechnung der gefahrenen Geschwindigkeiten keine genaueren Ergebnisse hervorgebracht (Sachverständigengutachten vom 31.05.2023 Seite 17 letzter Abs. eGA I-166, sowie Ergänzungsgutachten vom 10.10.2023 Seite 5 Abs. 1, eGA I-467).

Das klägerische Fahrzeug wurde - wie dies bei einem Überholvorgang eines Lkw üblich ist - zunächst (über den Reaktionszeitpunkt hinaus bis zur Einleitung des Bremsvorgangs) von 88 km/h auf 96 km/h beschleunigt (Sachverständigengutachten vom 31.05.2023 Seite 16 letzter Abs., eGA I-165, und Anlage A67, eGA I-372), während das Beklagtenfahrzeug bis zum Reaktionszeitpunkt konstant mit 112 km/h fuhr (Sachverständigengutachten vom 31.05.2023 Seite 15 Abs. 8 f., eGA I-164, und Anlage A65-A66, eGA I-366-369).

Aufgrund dieser hinreichend eindeutig festgestellten Ausgangsgeschwindigkeiten sowie der ebenfalls festgestellten Kollisionsgeschwindigkeiten erklärt sich unweigerlich, dass das Beklagtenfahrzeug nicht nur gegen den Uhrzeigersinn gedreht, sondern vor allem entsprechend dem Spurenbild auf der Fahrbahn leicht gegen die Fahrtrichtung seitlich in den Graben zurückgestoßen wurde (Sachverständigengutachten vom 31.05.2023 Seite 16 Abs. 3, eGA I-165), während das klägerische Fahrzeug nicht nur gegen den Uhrzeigersinn gedreht wurde, sondern sich entsprechend dem Spurenbild auf der Fahrbahn in Fahrtrichtung seitlich in den Graben hinein fortbewegte (Sachverständigengutachten vom 31.05.2023 Seite 17 Abs. 1, eGA I-166). Diese Feststellung entspricht dem Ergebnis des vorgerichtlichen Gutachtens (E.-Gutachten vom 27.09.2022 Seite 5 ff., eGA I-62 ff.) und der jahrelangen Erfahrung des Senats als Fachsenat.

c) Die Aussage des Zeugen I. (Protokoll vom 04.04.2024 Seite 3 ff., eGA I-521 ff.) war entsprechend den Ausführungen des Landgerichts auch nach Vorhalt der Angaben im Ermittlungsverfahren unergiebig und steht den Feststellungen des Landgerichts nicht entgegen.

d) Die Aussage des Zeugen R. (Protokoll vom 04.04.2024 Seite 5 ff., eGA I-523 ff.) steht entsprechend den Ausführungen des Landgerichts den Feststellungen trotz ihrer Konstanz seit der ersten polizeilichen Befragung ebenfalls nicht entgegen. Es ist aussagepsychologisch hinreichend geklärt und dem Senat aufgrund seiner langjährigen Erfahrung (insbesondere auch mit Unfallgeschehen) hinreichend bekannt, dass es in Überforderungssituationen wie der vorliegenden selbst im Falle hinreichender Wahrnehmungsmöglichkeit von Tatsachen aufgrund verschiedenster Ursachen zu einer fehlerhaften Wahrnehmung oder selbst bei richtiger Wahrnehmung zur Speicherung falscher Tatsachen kommen kann. So muss der Fall hier angesichts der völlig eindeutigen technischen Betrachtung liegen. Darüber hinaus bestehen an den Angaben des Zeugen auch sonst Zweifel, wenn er ausführt, dass er dem vermeintlich schwarzen Auto in einem Abstand von nur zwei bis drei Metern gefolgt ist (Protokoll vom 04.04.2024 Seite 6 Abs. 2, eGA I-524) sowie sich nach dessen Ausscheren wiederum nur zwei bis drei Meter hinter dem Lkw befunden haben will (Protokoll vom 04.04.2024 Seite 6 Abs. 8, eGA I-524) und gleichwohl - ohne in den Unfall verwickelt zu sein - langsam habe anhalten können (Protokoll vom 04.04.2024 Seite 5 letzter Abs., eGA I-523).

e) Entsprechendes gilt für den Kläger selbst, der sich ausweislich seiner mittelbaren Ersteinlassung (vgl. allgemeiner Bericht vom 20.10.2022 Seite 1 f., Bl. 194 f. der Beiakte StA Münster 71 Js 4828/22 = Bl. 284 f. der elektronischen Beiakte) an nichts erinnern konnte, was den Unfallhergang anging, sich aber gleichwohl ganz sicher war, dass er Richtung F. fuhr, also nicht überholt zu haben. Anders als die Klägerin, die sich plausibel dahin eingelassen hat, sie sei unmittelbar vor dem Unfall noch zu Hause in T. gewesen und habe sich auf dem Weg zum (..)arzt nach O., also in entgegengesetzter Fahrtrichtung zum überholten Lkw, befunden (Schriftsatz vom 15.05.2022 Seite 1 ff., Bl. 101 ff. der Beiakte StA Münster 71 Js 4828/22 = Bl. 187 ff. der elektronischen Beiakte), hat der Kläger keinerlei Indizien vorgetragen, die seine Behauptung belegen, geschweige denn beweisen (vgl. dazu BGH Urt. v. 12.12.2023 - VI ZR 76/23, r+s 2024, 170 Rn. 16 m. w. N.). Gleichwohl dürfte vorliegend im Hinblick auf die Einlassung des Zeugen R. und die anfänglichen Feststellungen der Polizei nicht von einer Behauptung des Klägers "ins Blaue hinein" oder gar von einem bewusst wahrheitswidrigen Vortrag des Klägers auszugehen sein, solange deutlich wird, dass er seinen Vortrag allein darauf stützt (vgl. hierzu OLG Hamm Urt. v. 2.9.2016 - 9 U 14/16, NJW-RR 2017, 281 = juris Rn. 34).

f) Von der Richtigkeit der Angaben der Beklagten zu 2 zum Ursprung und Ziel ihrer Fahrt hat sich das Landgericht hingegen aufgrund der nach § 141 ZPO durchgeführten persönlichen Anhörung (Protokoll vom 04.04.2024 Seite 1 f., eGA I-519 f.) überzeugt gezeigt und dies treffend in die Überzeugungsbildung nach § 286 ZPO einfließen lassen (vgl. dazu nur BGH Beschl. v. 25.10.2022 - VI ZR 382/21, BeckRS 2022, 35153 Rn. 13, 15; BGH Urt. v. 26.2.2009 - I ZR 155/07, BeckRS 2009, 9695 Rn. 8; Senat Urt. v. 21.6.2024 - 7 U 154/23, GRUR-RS 2024, 16856 = juris Rn. 38 f.).

3. Der Unfall war für die Beklagte zu 2 auch trotz ihrer Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h (§ 3 Abs. 3 Nr. 2 lit. c Satz 1 StVO) um allenfalls feststellbare 12 km/h unabwendbar (§ 17 Abs. 3 Satz 1 StVG); jedenfalls hätte der Kläger einen kausalen (schuldhaften) Verursachungsbeitrag der Beklagte zu 2, der in eine Abwägung nach § 17 Abs. 2 StVG einzustellen sein könnte, nicht bewiesen und träte die Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs vollständig hinter dem schuldhaften Verkehrsverstoß des Klägers und der Betriebsgefahr des Klägerfahrzeugs zurück.

a) Ein späterer Unfall kann einer Geschwindigkeitsüberschreitung nicht allein schon deshalb zugerechnet werden, weil das Fahrzeug bei Einhaltung der vorgeschriebenen Geschwindigkeit erst später an die Unfallstelle gelangt wäre, vielmehr muss sich in dem Unfall gerade die auf das zu schnelle Fahren zurückzuführende erhöhte Gefahrenlage aktualisieren. Der rechtliche Ursachenzusammenhang zwischen Geschwindigkeitsüberschreitung und Unfall ist zu bejahen, wenn bei Einhaltung der zulässigen Geschwindigkeit zum Zeitpunkt des Eintritts der kritischen Verkehrssituation der Unfall vermeidbar gewesen wäre. Vermeidbarkeit ist auch bei geringfügigen Geschwindigkeitsüberschreitungen dann anzunehmen, wenn der Unfall bei Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit zwar nicht räumlich, wohl aber zeitlich vermeidbar gewesen wäre. Dies ist der Fall, wenn es dem Fahrer bei einer verkehrsordnungsgemäßen Fahrweise zwar nicht gelungen wäre, das Fahrzeug noch vor der späteren Unfallstelle zum Stehen zu bringen, wenn er den PKW aber so stark hätte abbremsen können, dass dem Verletzten Zeit geblieben wäre, den Gefahrenbereich noch rechtzeitig zu verlassen. Entsprechendes gilt auch dann, wenn es dabei zumindest zu einer deutlichen Abmilderung des Unfallverlaufes und der erlittenen Verletzungen gekommen wäre (BGH Urt. v. 26.4.2005 - VI ZR 228/03, r+s 2005, 477 = juris Rn. 22 m. w. N.; siehe dazu zuletzt auch Senat Urt. v. 6.9.2019 - 7 U 18/17, BeckRS 2019, 51958 = juris Rn. 42).

Die kritische Verkehrslage beginnt für einen Verkehrsteilnehmer dann, wenn die ihm erkennbare Verkehrssituation konkreten Anhalt dafür bietet, dass eine Gefahrensituation unmittelbar entstehen kann. Für einen vorfahrtsberechtigten Verkehrsteilnehmer ist dies in Bezug auf seinen Vorrang zwar nicht bereits der Fall, wenn nur die abstrakte, stets gegebene Gefahr eines Fehlverhaltens anderer besteht, vielmehr müssen erkennbare Umstände eine bevorstehende Verletzung seines Vorrechts nahelegen. Von Bedeutung sind hierbei neben der Fahrweise des Wartepflichtigen alle Umstände, die sich auf dessen Fahrweise auswirken können, also auch die Fahrweise des Bevorrechtigten selbst. Gibt er dem Wartepflichtigen durch einen Verkehrsverstoß Anlass, die Wartepflicht - namentlich infolge einer Fehleinschätzung der Verkehrslage - zu verletzen, so kann die kritische Verkehrslage bereits vor der eigentlichen Vorfahrtsverletzung eintreten (BGH Urt. v. 25.3.2003 - VI ZR 161/02, r+s 2003, 256 = juris Rn. 12 m. w. N.; siehe dazu zuletzt auch BGH Urt. v. 22.11.2016 - VI ZR 533/15, r+s 2017, 95 Rn. 17 m. w. N.; Senat Urt. v. 9.5.2023 - 7 U 17/23, r+s 2023, 1020 = juris Rn. 26).

b) Gemessen daran war der Unfall für die Beklagte zu 2 zum Zeitpunkt des Eintritts der kritischen Verkehrssituation weder räumlich noch zeitlich vermeidbar noch hätten sich die Personen- und Sachschäden erheblich anders dargestellt.

aa) Die kritische Verkehrssituation trat hier erst ein, als die Beklagte zu 2 den Kläger erstmals als überholendes Fahrzeug wahrnehmen konnte.

bb) Zu diesen Zeitpunkt war der Zusammenstoß für die Beklagte zu 2 aber ohne ein hochrisikoreiches und nicht zumutbares Ausweichen in den Straßengraben weder räumlich noch zeitlich vermeidbar.

Zwar wäre die Beklagte zu 2 bei Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit ausweislich des Sachverständigengutachtens vom 31.05.2023 (Seite 20, eGA I-169) und seiner Anlage B1 (eGA II-46) vor dem stattgehabten Unfallort zum Stehen gekommen, der Zusammenstoß hätte jedoch an unerheblich anderer Stelle - nämlich nur rund acht Meter weiter nördlich in Fahrtrichtung des Klägers / gegen die Fahrtrichtung der Beklagten zu 2 mit einer zeitlichen Verzögerung von unerheblichen 0,3 Sekunden stattgefunden. Er war damit also weder räumlich noch zeitlich vermeidbar; auch wäre der Kläger weiterhin mit dem überholten Lkw kollidiert.

cc) Die Personen- und Sachschäden hätten sich nicht erheblich anders dargestellt. Dabei ist aufgrund des Sachverständigengutachtens vom 31.05.2023 (Seite 20, eGA I-169) und seiner Anlage B1 (eGA II-46) von einer nur geringfügigen Verringerung der Kollisionsgeschwindigkeit des Klägers von 92 km/h auf 82 km/h sowie der Beklagten zu 2 von 60 km/h auf 33 km/h und der addierten Kollisionsgeschwindigkeit von 152 km/h (laut Gutachten rund 150 km/h - im Hinblick auf Berufungsrüge errechnet aus der Summe von 92 km/h und 60 km/h) auf 115 km/h (im Hinblick auf Berufungsrüge errechnet aus der Summe von 82 km/h und 33 km/h) auszugehen. Aufgrund dieser Werte ist auch der Senat entsprechend den Ausführungen des Sachverständigen (Sachverständigengutachten vom 31.05.2023 Seite 21, eGA I-170) nach § 286 ZPO davon überzeugt, dass es bei fiktivem Verlauf des Unfallgeschehens gleichfalls zu starken Verformungen und Verletzungen beider Fahrzeuge und Parteien gekommen wäre, und damit an die entsprechenden Feststellungen des Landgerichts nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO gebunden.

II.

Die Sache hat keine grundsätzliche Bedeutung. Ferner erfordern weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Senats. Die maßgebenden Fragen sind solche des Einzelfalles.

Von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung verspricht sich der Senat angesichts dessen, dass es keiner weiteren Beweisaufnahme bedarf, keine neuen Erkenntnisse. Auch ansonsten erscheint eine mündliche Verhandlung nach einstimmigem Votum des Senats nicht geboten.

Der Senat beabsichtigt deshalb, die Berufung gemäß § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO durch einstimmigen Beschluss zurückzuweisen.


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