Die Klägerin, deren Geschäftsführer aus einer Garagenausfahrt rückwärts auf die verkehrsberuhigte Straße auffuhr und dort mit dem vorbeifahrenden Beklagtenfahrzeug kollidierte, machte Schadensersatzansprüche gegen die Beklagten geltend. Nach Behauptung der Klägerin sei das Beklagtenfahrzeug mit überhöhter Geschwindigkeit in ihr Fahrzeug hineingefahren, nach Vortrag der Beklagten habe das Beklagtenfahrzeug zunächst gestanden, es sei (da eine Personen im anderen Fahrzeug gesehen wurde, die beabsichtigte aus der Grundstück rückwärts herauszufahren) gehupt worden und langsam wieder angefahren worden; das klägerische Fahrzeug sei dann in das Beklagtenfahrzeug hineingefahren.
Das Amtsgericht (AG) wies die Klage ab. Auf der Berufung wurde ihr zu einem geringen Teil stattgegeben. Richtig sei das Amtsgericht davon ausgegangen, dass beide Parteien grundsätzlich nach §§ 7, 17, 18 StVG für den Unfall einzustehen hätten, da beide Fahrzeuge im Betrieb waren und der Unfall auch nicht auf höhere Gewalt zurückzuführen sei, ferner der Unfall auch für beide Parteien kein unabwendbares Ereignis iSv. § 17 Abs. 3 StVG darstelle.
Zu Lasten der Klägerin sei zudem ein Sorgfaltsverstoß beim Rückwärtsfahren einzustellen. Das Berufungsreicht ließ offen, ob dies unmittelbar aus § 9 Abs. 5 StVO (beim Rückwärtsfahren ist eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer auszuschließen) abgeleitet werden könne, da es sich um eine verkehrsberuhigten Bereich handele (§ 42 StVO, Zeichen 325.1/325.2), oder in einem solchen ähnlich wie auf einem Parkplatz entsprechendes aus dem Rücksichtnahmegebot des § 1 Abs. 2 StVO abzuleiten wäre. Auch im Anwendungsbereich des § 1 Abs. 2 StVO greife ein Anscheinsbeweis für ein Verschulden des Rückwärtsfahrenden (BGH, Urteil vom 11..10.2016 - VI ZR 66/16 -). Ferner sei zu Lasten der Klägerin ein Verstoß gegen die Sorgfaltspflicht aus § 10 StVO (der aus einem Grundstück Herausfahrende hat sich so zu verhalten hat, dass er andere Verkehrsteilnehmer nicht gefährdet) zu berücksichtigen.
Ein Überschreiten der zulässigen Geschwindigkeit in einem verkehrsberuhigten Bereich durch das Beklagtenfahrzeug sie nicht festzustellen. Nicht berücksichtigt habe das AG allerdings, dass der Fahrer des Beklagtenfahrzeugs die Gefahr erkannt habe: Das mit einer Person besetzte Fahrzeug und dass dieses über kurz oder lang rückwärts ausfahren würde. Deshalb sei auch gehupt worden. Allerdings hätte in dieser Situation das Klägerfahrzeug weiter beobachtet werden müssen, um bei dessen Zurücksetzen sofort anhalten zu können. Die Beobachtung wurde beim Losfahren unterlassen, weshalb es auch vorkollisionär nicht zum Stillstand des Beklagtenfahrzeugs gekommen sei.
Damit sei ein Zurücktretend er Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs hinter dem Verschulden der Klägerseite ausgeschlossen. Dahinstehen könne, ob - wie auf Parkplätzen- im verkehrsberuhigten Bereich die Betriebsgefahr regelmäßig nicht zurücktrete, da Sorgfaltspflichten stärker einander angenähert seien,, indem Kraftfahrer jederzeit auf bevorrechtigten Fußgängerverkehr Rücksicht zu nehmen hätten, was nur bei Einhaltung der Schrittgeschwindigkeit und ständiger Bremsbereitschaft möglich sei. Der festgestellte leichte Sorgfaltsverstoß führe zu einer unfallursächlichen Erhöhung der allgemeinen Betriebsgefahr und rechtfertige eine Mithaftung von 20% (§ 17 Abs. 1 StVG).
LG Saarbrücken, Urteil vom
20.01.2023 - 13 S 60/22 -
Aus den Gründen:
Tenor
1. Auf die Berufung der Klägerin wird das
Urteil des Amtsgerichts Homburg vom 16.5.2022 - 4 C 224/20 (10) - unter
Zurückweisung der Berufung im Übrigen abgeändert. Die Beklagten werden
verurteilt, an die Klägerin 785,71 € sowie vorgerichtliche Anwaltskosten von
124 € jeweils nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem
Basiszinssatz seit dem 01.4.2020 zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage
abgewiesen.
2. Die Kosten des Rechtsstreits tragen
die Klägerin zu 82% und die Beklagten gesamtschuldnerisch zu 18%.
3. Das Berufungsurteil ist vorläufig
vollstreckbar.
4. Die Revision
wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
Die Klägerin
begehrt Schadenersatz im Zusammenhang mit einem Verkehrsunfallereignis, das
sich am 10.3.2010 im ..., einer verkehrsberuhigten Straße, in ... ereignet hat.
Zu dem Unfall kam es, als der Geschäftsführer der Klägerin mit dem Fahrzeug der
Klägerin (Mercedes E 320 CDI, ...) aus der Garageneinfahrt seines Wohnhauses
(Nr. 11) auf den ... rückwärts ausfuhr und mit dem dort vorbeifahrenden
Beklagtenfahrzeug (Peugeot 206, ...) zusammenstieß.
Der Kläger
beziffert seinen Sachschaden mit (3.196,27 € Nettoreparaturkosten + 707,28 €
Sachverständigenkosten + 237 € Nutzungsausfall 3 Tage + 25 € Kostenpauschale =)
4.165,55 €, den er nebst Zinsen und vorgerichtlichen Kosten mit der Behauptung
geltend macht, der Erstbeklagte sei mit überhöhter Geschwindigkeit in sein
bereits stehendes Kfz hineingefahren.
Die Beklagten
sind dem entgegengetreten und haben vorgetragen, der Erstbeklagte habe zunächst
auf dem ... gestanden und kurz gehupt, weil er gemerkt hatte, dass in dem
bereits sichtbaren Fahrzeug der Klägerin jemand sitze, der beabsichtige
rückwärts aus dem Grundstück herauszufahren. Anschließend sei er mit geringer
Geschwindigkeit losgefahren, als das Klägerfahrzeug - ohne dass der
Erstbeklagte dies noch sah - rückwärts aus der Einfahrt in das
Beklagtenfahrzeug hineingefahren sei. Der Erstbeklagte habe bis zum Anstoß etwa
10-15 m in sehr langsamer Fahrt zurückgelegt. Nutzungsausfallentschädigung sei,
so die Beklagten, bei fiktiver Abrechnung nicht geschuldet und überdies, da es
sich um ein gewerbliches Fahrzeug handele, nicht ersatzfähig.
Das
Amtsgericht, auf dessen Ausführungen ergänzend Bezug genommen wird, hat die
Klage nach Beweiserhebung abgewiesen. Dem gegen den Geschäftsführer der
Klägerin bestehenden Anscheinsbeweis eines Verstoßes gegen §§ 10, 9
Abs. 5 StVO stehe kein Verkehrsverstoß des Erstbeklagten gegenüber, weil
diesem nur eine Geschwindigkeit von 9,6 km/h und damit annähernde
Schrittgeschwindigkeit nachgewiesen werden könne, weshalb die Betriebsgefahr
des Beklagtenfahrzeuges zurücktrete.
Mit ihrer
Berufung verfolgt die Klägerin ihren Klageantrag weiter. Sie meint, das
Erstgericht habe verkannt, dass der Erstbeklagte den Ausfahrvorgang ihres
Geschäftsführers frühzeitig hätte erkennen und durch Abbremsen einen
Zusammenstoß vermeiden müssen. Die Beklagten verteidigen die angefochtene
Entscheidung.
II.
Die Berufung
ist zulässig erhoben. Sie hat auch in der Sache einen geringen Teilerfolg.
1. Das
Erstgericht ist zunächst davon ausgegangen, dass sowohl die Kläger- als auch
die Beklagtenseite grundsätzlich für die Folgen des streitgegenständlichen
Unfallgeschehens gem. §§ 7, 17, 18 Straßenverkehrsgesetz (StVG) i.V.m.
§ 115 Versicherungsvertragsgesetz (VVG) einzustehen haben, weil die
Unfallschäden jeweils bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeuges entstanden sind,
der Unfall nicht auf höhere Gewalt zurückzuführen ist und für keinen der
beteiligten Fahrer ein unabwendbares Ereignis i.S.d. § 17 Abs. 3 StVG
darstellt. Dies ist zutreffend und wird mit der Berufung auch nicht
angegriffen.
2.
Soweit das Erstgericht einen Verstoß des Geschäftsführers der Klägerin gegen
das Sorgfaltsgebot beim Rückwärtsfahren in die nach § 17 Abs. 1, 2
StVG vorzunehmende Abwägung der wechselseitigen Verursachungs- und
Verschuldensanteile eingestellt hat, begegnet dies im Ergebnis keinen Bedenken.
Dabei kann hier dahingestellt bleiben, ob, wie es das Erstgericht angenommen
hat, § 9 Abs. 5 Straßenverkehrsordnung (StVO) unmittelbar zur
Anwendung kommt, oder ob sich in einem, wie hier, verkehrsberuhigten Bereich
i.S.d. § 42 StVO Zeichen 325.1/325.2 ein entsprechender Verstoß aus dem
allgemeinen Rücksichtnahmegebot des § 1 Abs. 2 StVO ableiten lässt,
das etwa auf Parkplätzen, die ähnlich wie ein verkehrsberuhigter Bereich nicht
dem fließenden Verkehr gewidmet sind, heranzuziehen ist (vgl. dazu etwa König
in Hentschel u.a., Straßenverkehrsrecht 46. Aufl., § 42 StVO Rn. 181
m.w.N.). Denn auch soweit ein Verstoß gegen § 1 Abs. 2 StVO betroffen
ist, gilt hier ein Anscheinsbeweis für ein Verschulden des Rückwärtsfahrenden,
wenn - wie hier - feststeht, dass das rückwärtsfahrende Fahrzeug im
Kollisionszeitpunkt in Bewegung war (vgl. BGH, Urteil vom 11.10.2016 - VI ZR
66/16, VersR 2017, 186 m.w.N.). Ferner hat das Erstgericht daneben auf
Klägerseite einen Verstoß gegen die in § 10 StVO festgehaltene
Sorgfaltspflicht beim Ausfahren aus einem Grundstück in die Abwägung gestellt.
Dies dürfte vor dem Hintergrund der neueren Rechtsprechung des BGH, wonach der
Schutzzweck der Vorschrift nicht allein dem fließenden Verkehr, sondern allen
Verkehrsteilnehmern dient, zutreffen. Die Berufung greift dies auch nicht an.
3.
Soweit das Erstgericht angenommen hat, dem Erstbeklagten sei allenfalls ein
geringfügiger unfallursächlicher Verkehrsverstoß nachzuweisen, begegnet dies
ebenfalls keinen Bedenken. Die beweissicher nachvollziehbare Kollisionsgeschwindigkeit
bewegt sich jedenfalls in einem Bereich, der ein Überschreiten der im
verkehrsberuhigten Bereich geltenden Schrittgeschwindigkeit, deren Obergrenze
teils bis 7 km/h, teils darüber hinaus bis 10 bzw. 15 km/h gezogen wird (s. den
Überblick bei König a.a.O. m.w.N.) nicht, allenfalls geringfügig überschreitet.
Soweit die Berufung meint, der Erstbeklagte habe das ausfahrende Fahrzeug
frühzeitig erkennen und durch frühzeitiges Abbremsen den Unfall verhindern
können, ist zu berücksichtigen, dass der Sachverständige in seinem
Ergänzungsgutachten und in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer ausgeführt
hat, bei Einhaltung der Schrittgeschwindigkeit (gemeint ist 4-7 km/h) sei der
Unfall bei Zugrundelegung einer bestimmten Annäherung des Beklagtenfahrzeuges
(GA 109, Bl. 28 Gutachten) für den Erstbeklagten vermeidbar gewesen (GA 132).
Zwar kann das Annäherungsverhalten des Beklagtenfahrzeuges nicht mehr
hinreichend nachgezeichnet werden, so dass nicht ausgeschlossen werden kann,
dass das Beklagtenfahrzeug sich erst beschleunigend bis zur Höhe der
Kollisionsgeschwindigkeit dem späteren Kollisionsort genähert hat, was einem
Vermeidbarkeitsnachweis - wie der Sachverständige in der mündlichen Verhandlung
eingeräumt hat - entgegenstünde. Jedoch ist hier zu berücksichtigen, dass der
Erstbeklagte nach eigener Darstellung bereits die Gefahr erkannt hatte, dass
das mit Person(en) besetzte Klägerfahrzeug - über kurz oder lang - rückwärts
ausfahren würde, weshalb er vorsorglich gehupt hatte. Angesichts der so
erkannten Gefahr hätte es nahegelegen, beim Losfahren das Klägerfahrzeug weiter
zu beobachten, um bei dessen Zurücksetzen notfalls sofort anhalten zu können.
Dies hat der Erstbeklagte nach eigener Darstellung verabsäumt, denn er ist
losgefahren, ohne das Klägerfahrzeug weiter zu beobachten und vorkollisionär
zum Stehen zu kommen.
4. Dies
führt hier insoweit zu einer abweichenden Haftungsverteilung, als die
Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs nicht zurücktritt. Dabei kann
dahinstehen, ob im verkehrsberuhigten Bereich - ähnlich wie auf einem Parkplatz
- die Betriebsgefahr regelmäßig nicht zurücktritt, weil auch hier die
Sorgfaltspflichten stärker einander angenähert sind, indem Kraftfahrer
jederzeit auf den bevorrechtigten Fußgängerverkehr Rücksicht zu nehmen haben (König
a.a.O.), was nur mit der Einhaltung von Schrittgeschwindigkeit und stetiger
Bremsbereitschaft vereinbar ist. Jedenfalls führt der leichte Sorgfaltsverstoß
auf Beklagtenseite zu einer unfallursächlichen Erhöhung der Betriebsgefahr des
Beklagtenfahrzeuges, die jedenfalls angesichts der einander angenäherten
Sorgfaltspflichten im verkehrsberuhigten Bereich nicht zurücktritt und eine
Mithaftung der Beklagten in Höhe von 20% rechtfertigt.
5. Von
den geltend gemachten Schäden ist die Nutzungsausfallentschädigung, wie die
Beklagten mit Recht eingewandt haben, nicht zu ersetzen. Eine
Reparaturdurchführung, die unerlässliche Voraussetzung auch bei fiktiver
Schadensabrechnung ist (statt aller: Geigel/Katzenstein, Der
Haftpflichtprozess, 28. Aufl., Kap. 3 Rn. 181, 182; Freymann/Rüßmann in:
Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl., § 249 BGB
(Stand: 13.10.2022), Rn. 222, jew. m.w.N.), ist bereits nicht dargetan.
6. Vor
diesem Hintergrund beläuft sich der ersatzfähige Schaden der
vorsteuerabzugsberechtigten Klägerin auf unstreitige (3.196,27 €
Nettoreparaturschaden + 707,28 € Sachverständigenkosten + 25 €
Unkostenpauschale =) 3.928,55 €, von dem die Beklagten 20% = 785,71 € zu
ersetzen haben. Hinzu kommen Verzugszinsen (§§ 286 f. BGB) sowie
vorgerichtliche Anwaltskosten, deren Höhe sich auf der Grundlage des
berechtigten Erstattungsbetrages gemäß §§ 2, 13 RVG, Nrn. 2300, 7002, 7008
RVG VV in Höhe einer 1,3-Geschäftsgebühr (vgl. hierzu zuletzt BGH, Urteil vom
27.05.2014 - VI ZR 279/13, NZV 2014, 507 m.w.N.) auf 104 € zzgl. 20,00 €
(Pauschale) = 124 € netto beläuft.
III.
Die
Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über
die vorläufige Vollstreckbarkeit findet ihre Grundlage in §§ 708
Nr. 10, 711, 713 ZPO i.V.m. § 544 Abs. 2 Nr. 1 ZPO. Die
Revision ist nicht zuzulassen. Die Rechtssache erlangt keine grundsätzliche
über den konkreten Einzelfall hinausgehende Bedeutung und die Fortbildung des
Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordert nicht
die Entscheidung des Revisionsgerichts (§ 543 Abs. 2 ZPO).
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen