Sonntag, 5. Mai 2019

Filesharing: Familie und prozessuale Darlegungslast


Die beklagten Eheleute des Ausgangsverfahrens (und Beschwerdeführer) wandten sich mit ihrer Verfassungsbeschwerde gegen die Entscheidung des BGH vom 30.03.2017 - I ZR 19/16 - und deren Vorentscheidungen, in denen es um die Geltendmachung urheberrechtlicher Ansprüche wegen unerlaubten Zugänglichmachens eines Musikalbums im Internet ging und die Beschwerdeführer zur Zahlung von Schadensersatz an die klagende Tonträgerherstellerin verurteilt wurde, da über deren Internetanschluss mittels Filesharing-Software auf einer Internet-Tauschbörse zum Herunterladen angeboten wurde. Begründet wurden die Verurteilung der Beschwerdeführer durch das Landgericht damit, diese hätten die Vermutung ihre Urheberschaft als Anschlussinhaber des Internetanschlusses entkräften und damit im Rahmen ihrer sekundären Darlegungslast darlegen und beweisen müssen,  ob und inwieweit andere Personen zu ihrem Internetanschluss Zugang gehabt hätten und als Täter in Betracht kämen. Ihre als Zeugen benannten Kinder hätten von den diesen zustehenden Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht, weshalb es bei der Vermutung der Täterschaft verbliebe. Das OLG verwies darauf, es wäre von den Beschwerdeführern im Einzelnen im Rahmen der sekundären Darlegungslast zu erklären gewesen, wie es zu den Rechtsverletzungen aus der Familie heraus gekommen sei. Der BGH sah in der Entscheidung des OLG keinen Rechtsfehler.

  
Von den Beschwerdeführern wurde im Rahmen der Verfassungsbeschwerde eine Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 6 Abs. 1 GG, wonach Ehe und Familie unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stehen, geltend gemacht, da der BGH keinen schonenden Ausgleich zwischen den betroffenen Grundrechte im Sinne einer praktischen Konkordanz vorgenommen habe.
  
Das BVerfG verwies darauf, dass bei Auslegung und Anwendung des Urheberrechts die vom Gesetz vorgesehene Interessensabwägung zwischen dem Eigentumsschutz der Tonträgerhersteller und den damit konkurrierenden Grundrechtspositionen nachzuvollziehen seien und unverhältnismäßige Grundrechtsbeschränkungen zu vermeiden seien. Sollten bei der Auslegung und Anwendung von einfachrechtlichen Normen mehrere Deutungen möglich sein, so verdiene jene den Vorzug, die den Wertentscheidungen der Verfassung entspräche und die Grundrechte der Beteiligten möglichst weitgehend in praktischer Konkordanz zur Geltung brächte. Die Schwelle zu einem ein Eingreifen des Verfassungsgerichts zwingenden Verfassungsverstoß sei erst erreicht, wenn die Auslegung der Zivilgerichte Fehler erkennen lasse, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung der Grundrechte beruhen würden und auch in ihrer materiellen Bedeutung für den Einzelfall von einigem Gewicht seien.

Richtig sei zwar, dass die Entscheidungen die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht aus Art. 6 Abs. 1 GG beeinträchtige. Denn damit seien Bestimmungen unvereinbar, welche die Familie schädigen. Der Schutzbereich umfasse auch das Verhältnis zwischen Eltern und volljährigen Kindern. Diese Umstände müssten bei der Auslegung und Anwendung einfachen Rechts Berücksichtigung finden.
  
Allerdings würde Art. 6 Abs. 1 der Annahme einer zivilprozessualen Obliegenheit nicht entgegenstehen, derzufolge die Beschwerdeführer zur Entkräftung der Vermutung ihrer Täterschaft als Anschlussinhaber ihre Kenntnisse über die Umstände einer eventuellen Verletzungshandlung mitzuteilen haben, mithin also auch aufdecken müssen, welches ihrer Kinder die Verletzungshandlung begangen habe, sofern sie davon Kenntnis erlangt haben. Hier käme dem Schutz des Art. 14 GG (Eigentum) des Rechtsinhabers bei Abwägung der widerstreitenden Grundrechtsgüter ein erhebliches Gewicht zu. Die Abwägung im Ausgangsverfahren trage dem Erfordernis der praktischen Konkordanz ausreichend Rechnung und sei bei der Auslegung von § 138 ZPO (Erklärungspflicht über Tatsachen) hinreichend beachtet worden.

Zwar sei auch im Zivilrechtsstreit niemand zur Selbstbezichtigung verpflichtet und fände die Wahrheitspflicht einer Partei dort ihre Grenze, so sie gezwungen würde, eine strafbare Handlung zu offenbaren bzw. Umstände zu offenbaren, die ihr zur Unehre gereichen. Dies dürfte auch dann gelten, wenn nahe Angehörige betroffen seien. In diesen Fällen könne aber der im Hinblick darauf nicht weiter verpflichteten Partei das Risiko einer für sie ungünstigen Tatsachenwürdigung auferlegt werden, da ein weitergehender verfassungsrechtlicher Schutz nicht geboten sei.

Mit der Anwendung dieser Grundsätze im Rahmen der sekundären Darlegungslast trage der BGH der Tatsache Rechnung, dass der Rechteinhaber zur Durchsetzung seiner Rechte in Filesharing-Verfahren regelmäßig keine Möglichkeit habe, zu Umständen aus dem ihrem Einblick vollkommen entzogenen Bereich der Internetnutzung durch den Anschlussinhaber vorzutragen oder Beweis zu führen. Damit würden zu seinen Gunsten in Ansehung des unter Art. 14 GG fallenden Leistungsschutzrechts deren Interesse an einer effektiven Durchsetzung des Urheberrechts gegenüber unberechtigten Verwertungshandlungen geschützt. Die Beeinträchtigung der familiären Beziehung würde sich demgegenüber in Grenzen halten, da ein Vortrag der Eltern zur Täterschaft ihrer Kinder gerade nicht erzwingbar sei; die Eltern würden insoweit nur das Risiko einer für sie ungünstigen Tatsachenwürdigung tragen. Die sekundäre Darlegungslast würde im übrigen auch nicht weiter reichen als die tatsächlichen Kenntnisse der  Beschwerdeführer (wo es vorliegend keiner Entscheidung bedürfe, ob sie eine Nachfrage- und Nachforschungsobliegenheit hätten und dies offen bliebe).


BVerfG, Beschluss vom 18.03.2019 - 1 BvR 2556/17 -

Donnerstag, 2. Mai 2019

Meinungsfreiheit: Schranken zur Annahme von Schmähkritik im Rahmen (kommunal-) politischer Auseinandersetzung


Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) musste sich mit einer Verfassungsbeschwerde gegen ein Urteil des OLG Karlsruhe auseinandersetzen, nach welchem dem dortigen Beklagten und jetzigen Beschwerdeführer (BF) unter Abänderung der landgerichtlichen Entscheidung untersagt wurde, bestimmte Äußerungen (nachfolgend unterstrichen) zu tätigen. Die Verfassungsbeschwerde führte zur Aufhebung des Urteils und zur erneuten Entscheidung an das OLG zurückverwiesen. Kläger und Beklagter des Ausgangsverfahrens waren Fraktionsvorsitzende unterschiedlicher Fraktionen eines Gemeinderates. Der Kläger sprach sich für die Verwirklichung eines Bauvorhabens durch den gleichen Bauträger für ein weiteres, umstrittenes Bauprojekt anlässlich der Eröffnung eines Bauprojekts dieses Bauträgers aus. Auf eine Anfrage eines anderen Bewerbers bei dem BF (Beklagten), unter welchen Bedingungen er auch mit einer Genehmigung er für ein von ihm geplantes Objekt rechnen könne, antwortete der BF per Mail (abschriftlich den anderen Fraktionen und dem Oberbürgermeister zugesandt), dieser möge sich an eine bestimmte Person wenden, die sich dann „nach Erfüllung bestimmter Voraussetzungen bestimmt auch ohne jegliche Einschränkung für Ihr Bauvorhaben einsetzen und sich über alle Bedenken von Fachleuten und Gremien hinwegsetzen (wird), Ihnen alle mögliche Befreiungen zu gestehen“ würde, unabhängig von städtebaulichen Belangen. Er solle die „brutalstmögliche Ausdehnung“ seines Projekts in Bezug auf Grenzabstände, GFZ und GRZ beantragen und auf das Bauvorhaben des anderen Bauträgers verweisen.  Weiter hieß es. „Unter welchen Bedingungen diese Zustimmung zu erhalten ist müssen Sie natürlich mit ihm selbst ausloten.“ Die Fraktion des benannten Ansprechpartners würde dann sicherlich zustimmen.


Das OLG vertrat die Ansicht, ein Anspruch auf Unterlassung der Äußerungen bestehe, da diese dahingehend auszulegen seien, der Kläger sei bestechlich. Einer Abwägung der einschlägigen Grundrechte (wie vom Landgericht vorgenommen) im Hinblick auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Klägers auf der einen Seite und der Meinungsfreiheit auf Seiten des BF bedürfe es daher nicht.

Dem folgte das BVerfG nicht und sah den BF in seinem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG (Meinungsfreiheit) verletzt an. Dabei wies es darauf hin, dass dieses Grundrecht zwar Werturteile als auch Tatsachenbehauptungen schütze, allerdings nicht vorbehaltlos. Nach Art 5 Abs. 2 GG finde es seine Schranken in allgemeinen Gesetzen (so § 823 Abs. 1 BGB , § 1004 Abs. 1 S. 2 BGB analog), doch erfordere eine gerichtliche Untersagung einer grundsätzlich nach Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG geschützten Meinungsäußerung eine Abwägung mit dem betroffenen allgemeinen Persönlichkeitsrecht (BVerfGE 99, 185, 196f sowie BVerfGE 114, 339, 348). Zu berücksichtigen sei dabei insbesondere, dass nach Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG nicht nur sachlich-differenzierte Äußerungen geschützt würden, sondern auch pointiert, polemisch und überspitzte Kritik geschützt würde, weshalb die Grenze zulässiger Meinungsäußerung nicht bereits da läge, wo eine polemische Zuspitzung für die Äußerung sachlicher Kritik nicht erforderlich wäre (BVerfGE 82, 272, 283f und BVerfGE 85, 1, 16).

Nur bei einer Formalbeleidigung oder sogen. Schmähkritik würde die Meinungsfreiheit hinter dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht zurücktreten (BVerfGE 82, 43, 51; BVerfGE 90, 241, 248; BVerfGE 93, 266, 294). Allerdings seien an die Annahme des Vorliegens einer Formalbeleidigung bzw. Schmähkritik strenge Anforderungen zu stellen, da sie die jeweilige Meinungsäußerung aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit unabhängig von einer Abwägung mit dem Persönlichkeitsrecht ausschließen würden. Stünde die Äußerung in einem Kontext einer Sachauseinandersetzung könne nicht mehr von einer Schmähung ausgegangen werden. Die Qualifikation als Schmähung verlange daher regelmäßig die Berücksichtigung von Anlass und Kontext der Äußerung. Davon könne nur dann abgesehen werden, wenn die die Äußerung einer derartigen diffamierenden Gehalt habe, dass sie in jedem denkbaren Zusammenhang nur noch als Herabsetzung des Betroffenen aufgefasst werden müsse. Dies sei möglicherweis bei Verwendung von besonders schwerwiegenden Schimpfwörtern (etwa aus der Fäkalsprache) der Fall. Bi einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage liege Schmähkritik nur ausnahmsweise vor, sie bleibe bliebe grundsätzlich auf die Privatfehde beschränkt (BVerfGE 7, 198, 212; BVerfGE 93, 266, 294).

Wenn ein Gericht fälschlich eine Äußerung als Formalbeleidigung oder Schmähung betrachte, weshalb es eine notwendige Abwägung unter Berücksichtigung aller Umstände unterlässt, so läge darin ein verfassungsrechtlich erheblicher Fehler, der zur Aufhebung der Entscheidung führe, wenn diese darauf beruhe.

Nach diesen Grundsätzen sah das BVerfG die Entscheidung des OLG als fehlerhaft an. Es habe die Voraussetzungen für ein Unterlassen einer Abwägung verkannt. Vom OLG sei alleine deshalb ein Sachbezug negiert worden, da die Vorwürfe gegen den Kläger mit den Genehmigungsvoraussetzungen von Bauvorhaben nichts zu tun hätten. Es habe dabei verkannt, dass sich der Kläger für die Genehmigung eines bestimmten umstrittenen Bauvorhabens öffentlich eingesetzt ausgesprochen habe und als Mitglied des Gemeinderates aktiv an der Baupolitik mitwirke. Hintergrund sei, was vom OLG im Tatbestand des Urteils auch aufgenommen worden sei, die Behandlung des Bauvorhabens im Gemeinderat gewesen.  Die Äußerung des BF auf eine Anfrage eines konkurrierenden Bauträgers habe damit ersichtlich nicht im Zusammenhang mit einer persönlichen, sondern politischen Auseinandersetzung zwischen dem BF und dem Kläger gestanden; das OLG habe verkannt, dass der sachliche Bezug einer Äußerung nicht mit deren Anlass zusammenfallen müsse.  Es dürfte zur Eigenart politischer, insbesondere parteipolitischer Auseinandersetzungen gehören, dass konkrete Vorgänge zum Anlass einer allgemeineren politischen Auseinandersetzung genommen würden, wie es vorliegend geschehen sei .

Auch habe das OLG den weiteren Inhalt der Mail nicht berücksichtigt. Die Wortwahl der weiteren Äußerungen („brutalstmögliche Ausdehnung“) würde den Ausführungen einen spöttisch-satirischen Charakter verleihen und verdeutlichen, dass die Äußerungen auf eine (wenn auch polemische) Kritik am politischen Gegner und dessen Baupolitik zielen würden. Damit sei der Bezug zur allgemeinen baupolitischen Auseinandersetzung verstärkt worden und würde dagegensprechen, in den Äußerungen nur eine bei dieser Gelegenheit gegen den Kläger als solchen gerichtete Diffamierung als „bestechliche Person“ zu sehen.  

Mit der Zurückverweisung wurde das OLG angehalten, die bisher unterlassene Abwägung vorzunehmen.

BVerfG, Beschluss vom 19.02.2019 - 1 BvR 1954/17 -

Montag, 29. April 2019

Zeitlicher Rahmen zur Geltendmachung von Nachzahlungszinsen auf nachträglich festgesetzte Einkommensteuer


Die Eheleute wurden in 1995 bis 1997 und 1999 zusammen zur Einkommensteuer (ESt) veranlagt. Mit Bescheiden vom 19.07.2010 erließ das Finanzamt (FA) geänderte ESt-Bescheide für die benannten Streitjahre, gegen die die Eheleute Einspruch einlegten, der vom FA am 06.06.2011 zurückgewiesen wurde (ohne dass dieser Bescheid mit der Klage von den Eheleuten angefochten worden wäre). Am 10.02.2012 setzte das FA mit besonderen Bescheiden die auf die Nachzahlungsbeträge der ESt-Bescheide vom 19.07.2010 anfallenden Nachzahlungszinsen fest. Die dagegen von den Eheleuten eingelegten Einsprüche wurden vom FA zurückgewiesen. Die Klage zum Finanzgericht (FG) war erfolgreich. Die gegen das Urteil vom beklagten FA eingelegte Revision wurde vom BFH zurückgewiesen.


Der BFH verwies darauf, dass die Festsetzungsfrist für Zinsen 1 Jahr betrage, § 239 Abs. 1 S. 2 AO. Ihr Lauf beginne mit den näher in § 239 Abs. 1 S. 2 AO benannten Umständen; in Fällen des § 233a AO beginne der Lauf mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuer festgesetzt, aufgehoben, geändert oder nach § 129 AO berichtigt worden sei, § 239 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 AO. Da hier der Fall der Änderung mit Bescheid vom 19.07.2010 vorliegt, habe mithin die Frist mit Ablauf des 31.12.2010 zu laufen begonnen und habe mit dem 31.12.2011 geendet, mithin vor Bekanntgabe des besonderen Bescheides.

Entgegen der Auffassung des FA habe das FG auch richtig entschieden, dass die Frist für die Festsetzung der Zinsen nicht nach § 171 Abs. 10 S. 1 AO bis zum Erlass der der Zinsbescheide über den 31.12.2011 hinaus gehemmt war. Die für einen Folgebescheid geltende Ablaufhemmung des § 170 Abs. 10 S. 1 AO würde bei der Festsetzung von Steuernachforderungs- und -erstattungszinsen nach § 233a AO grundsätzlich durch die spezielleren Regelungen in § 239 Abs. 1 AO verdrängt werden.

Auch wenn sich § 171 Abs. 10 S. 1 AO auf sogen. Folgebescheide bezöge und die Zinsbescheide hier Folgebescheide der ESt-Bescheide seien, bestünde vorliegend der Unterschied darin, dass es bei der Zinsfestsetzung (anders als bei den für § 171 Abs. 10 S. 1 SO typischen Folgebescheiden) lediglich zu einer punktuellen Ablaufhemmung („soweit“, § 171 Abs. 10 S. 1 AO) für die Zinsfestsetzung nicht kommen könne, da die Bindungswirkung des ESt-Bescheides in seiner Funktion als Grundlagenbescheid nicht einzelne Besteuergrundlagen des Zinsbescheides (Folgebescheid) beträfe, sondern sämtliche. Da der Zinsbescheid vollständig von den Feststellungen im Steuerbescheid abhängig sei, käme eine Teilverjährung von Zinsen solange nicht in Betracht, solange die Steuerfestsetzung nicht zulässigerweise geändert werden könne.

Der Gesetzgeber habe zudem mit den Regelungen in § 239 AO für Nachzahlungszinsen ein abgestimmtes und in sich geschlossenes System geschaffen, welche leer laufen würde, wenn die generelle Norm des § 171 Abs. 10 AO zur Anwendung kommen würde, da dies hier faktisch dazu führen würde, dass die kurze einjährige Festsetzungsfrist des § 239 Abs. 1 S. 1 AO keinen Geltungsbereich mehr hätte sondern auf mindestens zwei Jahre ausgedehnt wäre. Die Motive des Gesetzgebers für die längere Auswertungsfrist des § 171 Abs. 10 AO ließen sich nicht auf das Verhältnis zwischen Steuer- und Zinsbescheid übertragen, da die Interessenslage (Berücksichtigung von möglichen vielseitigen Umständen [z.B. viele Grundlagenbescheide] längere Bearbeitungszeiten erforderlich sein könnten, was aber bei einer reiner (im Zweifel automatisierten) Zinsberechnung nicht der Falls sei. Damit könne bei der Berechnung der Frist für die Ablaufhemmung zur Festsetzung der Zinsen nur dann von der mindestens zweijährigen Frist des § 171 Abs. 10 S. 1 AO ausgegangen werden, wenn nicht (wie hier) Grundlage ein Einkommensteuerbescheid ist, sondern ein (gesonderter) Zinsgrundlagenbescheid.

Auch die Einsprüche gegen die Steuerfestsetzungen würden nicht zu einer anderen Betrachtung führen, da die durch die Einsprüche bewirkte Ablaufhemmung nach § 239 Abs. 1 S. 3 AO bereits durch die in Rechtskraft erwachsene Einspruchsentscheidung des FA geendet hatte, bevor die reguläre Festsetzungsfrist des § 239 Abs. 1 S. 1 AO abgelaufen sei.

BFH, Urteil vom 16.01.2019 - X R 30/17 -

Sonntag, 28. April 2019

Bau-/Werkvertrag: Vorschussanspruch zur Mängelbeseitigung ohne vorherige Abnahme


Die Wohnungseigentümergemeinschaft (WEG) hatte bereits 2009 ein selbständiges Beweisverfahren gegen die beklagte Bauträgerin (von der sukzessive Eigentumswohnungen seit 2005 in dem 1904 errichteten und sanierten Gebäude Objekt verkauft wurden) wegen Mängeln am Gemeinschaftseigentum eingeleitet und forderte mit Schreiben ihrer Verwaltung vom 14.04.2011 die Beklagte zur Behebung der insoweit festgestellten Mängel auf. Mit Schreiben vom 06.07.2011 mahnte sie eine zügigere Tätigkeit an. 2013 erhob die WEG sodann Klage auf Zahlung eines Kostenvorschusses zur Beseitigung der im selbständigen Beweisverfahren durch den dort beauftragten Sachverständigen Mängel. Das Landgericht gab der Klage unter Abweisung der Klage für einzelne Mängel, statt. Gegen dieses Urteil legte die Beklagte Berufung ein.  Dabei machte sie u.a geltend, dass die Klägerin mangels Abnahme ihrer Leistungen nicht berechtigt sei, einen Kostenvorschuss zu fordern. Ferner machte sie geltend, zu bestimmten Arbeiten (so insbesondere zur Isolierung des Kellers im Altbestand) nicht verpflichtet zu sein.  

Die Berufung der Beklagten blieb im wesentlichen erfolglos. Insbesondere bejahte das Kammergericht (KG) als Berufungsgericht einen Anspruch auf Kostenvorschuss zur Beseitigung der festgestellten Mängel gem. §§ 634 Nr. 2, 637 Abs. 3 BGB.

Die Klägerin sei aktivlegitimiert. Zwar würde der Anspruch rechtlich den einzelnen Erwerbern zustehen, die die Verträge mit der Beklagten geschlossen hätten. Allerdings sei die Klägerin von den Erwerbern zur Geltendmachung im eigenen Namen ermächtigt worden (sogen. Ansichziehen derartiger Ansprüche betreffend dem Gemeinschaftseigentum qua Beschluss der Eigentümergemeinschaft).

Es sei der Beklagten auch eine ausreichende Frist zur Nacherfüllung gesetzt worden. Sollte die Werkleistung nicht abgenommen worden sein, könne sich die Pflicht zur Setzung der Nacherfüllungsfrist nicht aus § 637 Abs. 1 BGB herleiten lassen, da diese Rechte dem Besteller nach §§ 734 Nr. 2, 637 Abs. 1 BGB erst nach Abnahme  zustünden. Der Besteller könne zwar die in § 634 Nr. 2 bis 4 BGB aufgeführten Mängelrechte auch ohne vorherige Abnahme geltend machen, was aber erfordere, dass der Erfüllungsanspruch erloschen sei und sich der Vertrag in einem Abrechnungsverhältnis befände. Dazu käme es, wenn der Besteller vom Vertrag zurücktritt, die Vergütung mindere, Schadensersatz statt der Leistung geltend mache oder einen Vorschussanspruch begehre und zugleich die Leistung des Unternehmers ernsthaft und endgültig ablehne (BGH, Urteil vom  19.01.2017 - VII ZR 103/15 -). Damit aber setze die Berechtigung des Bestellers, das Vertragsverhältnis in en Abwicklungsverhältnis umzuwandeln, im Regelfall eine vorherige Nachfristsetzung voraus, die sich nicht aus den jeweiligen Vorschriften für die Rechtsfolgen ableiten ließe. Allerdings sei der Besteller aus den allgemeinen Regeln des Schuldrechts zu dieser vorbereitenden Nachfristsetzung befugt (BGH, Urteil vom 19.01.2017 - VII ZR 193/15 -), die alleine die Fälligkeit der Werkleistung voraussetzen (§ 281 Abs. 1 BGB bzw. § 323 Abs. 1 BGB). Daraus würde folgen, dass die entscheidende Hürde für die Geltendmachung von Sekundärrechten wegen Mängeln (mithin nicht: Mängelrechten) nicht die Abnahme, sondern die Fälligkeit der Werkleistung sei. Die dafür erforderliche Nacherfüllungsfrist sei ausreichend gesetzt worden.

Zunächst setzt sich das KG damit auseinander, dass wohl schon nach dem eigenen Vertragswerk der Beklagten die Abnahme als erfolgt anzusehen sei, auch wenn diese Regelung unwirksam sein dürfte, da sich die Beklagte als Verwenderin dieser Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) nicht auf deren Unwirksamkeit berufen könne (Anmerkung: Dies gilt nach der herrschenden Meinung aber nur, wenn auch der Vertragspartner die Regelung gegen sich gelten lässt). Aber auch für den Fall der Annahme einer Unwirksamkeit der vertraglichen Regelung und davon ausgehend, dass damit keine Abnahme vorläge, würde der Anspruch auf Kostenvorschuss hier bestehen.

Könne der Besteller nicht mehr die (Nach-) Erfüllung des Vertrages verlangen, würde dies den Vertrag in ein Abrechnungsverhältnis überleiten. Die Entstehung des Abrechnungsverhältnisses ohne Abnahme erfordere, dass der Besteller dem Unternehmer wirksam eine Nacherfüllungsfrist zur Beseitigung der Mängel gesetzt habe, was möglich sei, wenn nach den allgemeinen Regeln des Schuldrechts die Werkleistung fällig geworden sei (§§ 281 Abs.1 BGB bzw. § 325 Abs. 1 BGB). Danach müsse eine Erklärung abgegeben werden, die rechtsgestaltend das Erfüllungsstadium des Vertrages beende. Wenn der Besteller nach Fristablauf Rücktritt oder Minderung erkläre oder verlange er Schadensersatz statt der Leistung, käme dieser Erklärung rechtsgestaltende Wirkung zu mit der Folge, dass das Erfüllungsstadium des Vertrages ende.

Das Vorschussverlangen habe aber keine rechtsgestaltende Wirkung; es käme auch nicht § 281 Abs. 1 BGB zur Anwendung. Es sei also, um die Wirkung herbeizuführen, bei dem Vorschussverlangen zu erklären, die Leistung des Unternehmers abzulehnen. Da aber die Erklärung nicht Voraussetzung sei, überhaupt Sekundärrechte geltend zu machen (die Hürde dafür sei die Fälligkeit), sondern es sich nur um eine spezielle Voraussetzung für den Vorschussanspruch handele, könne die Erklärung auch konkludent abgegeben werden.

Diese zumindest konkludente Erklärung, keinesfalls mehr mit der Klägerin zusammenarbeiten zu wollen, läge hier vor. Das Landgericht sei davon ausgegangen, dass die Erklärung in dem erstinstanzlichen Vorbringen läge. Die Partei müsse ihr eigenes Vorbringen nicht kritischer Hinterfragen als das (erstinstanzliche) Gericht. Selbst wenn das Landgericht zu Unrecht davon ausgegangen sei, die Klägerin habe die Leistungen der Beklagten endgültig abgelehnt, hätte dies die Klägerin im Berufungsrechtszug nachholen können, was jedenfalls erfolgt sei.

KG, Urteil vom 19.02.2019 - 21 U 40/18 -

Donnerstag, 25. April 2019

Steuerrecht: Prozessuale Pflichten des Steuerpflichtigen bei Zeugen im Ausland


Das Finanzgericht (FG) hatte die vom Beschwerdeführer (BF) benannten Zeugen A., B. und C. nicht von Amts wegen geladen, mit denen der BF beweisen wollte, dass er über ein bestimmtes Konto bei einer Schweizer Bank nicht habe verfügen dürfen. Das Unterlassen sah der BFH allerdings nicht als Verstoß des FG gegen das in § 76 Abs. 1 FGO statuierte Sachaufklärungsprinzip an.

Das FG har gemäß § 76 Abs. 1 FGO den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen, wobei es sich um den Ausfluss der in der dem Steuerprozess immanenten Offizialmaxime handelt, welches zwingend auch dazu führt, wie vom BFH festgehalten, dass dabei die erforderlichen Beweise (§ 81 Abs. 1 S. 2 FGO) zu erheben seien. Die Offizialmaxime bedingt auch, dass das Gericht nicht an Vorbringen und Beweisanträge der Parteien gebunden ist (§ 76 Abs. 1 S. 5 FGO), was aber, so der BFH, nur dann gelte, wenn das FG von sich aus auch Beweise erheben könne, die von den Verfahrensbeteiligten nicht angeboten worden seien (BFH, Beschlüsse vom 22.06.2016 - III B 134/15 – und vom 14.03.2018 - IV B 46/17 -).  Nicht erforderlich sei, auch fernliegenden Erwägungen nachzugehen. Auch sei die Sachaufklärungspflicht grundsätzlich von einer Mitwirkungsverpflichtung der Beteiligten gem. § 76 Abs. 1 FGO unabhängig. §§ 76 Abs. 1 S. 4 FGO iVm. 90 Abs. 2 AO sähen vor, dass ein im Ausland ansässiger Zeuge, der auch zu einem „ausländischen Sachverhalt“ aussagen soll, grundsätzlich von den Verfahrensbeteiligten zu stellen sei und nicht vom FG zu laden sei. Insoweit besteht mithin nach der Rechtslage, wie vom BFH festgehalten, eine Mitwirkungspflicht der Beteiligten und mithin insbesondere desjenigen, der sich auf den oder die Zeugen zu seinen Gunsten beruft. Mit einer Rüge einer unterlassenen Sachaufklärung, wie sie hier vom BF in seiner Nichtzulassungsbeschwerde zum BFH nach Abweisung seiner Klage durch das FG geltend gemacht wurde, müsse daher dargelegt werden, dass der Mitwirkungsverpflichtung, den Zeugen zu stellen, entsprochen worden sei. Käme nämlich der Beteiligte dieser erhöhten Mitwirkungspflicht aus § 90 Abs. 2 AO nicht nach, dürfe das FG ohne Berücksichtigung des Auslandszeugen den Sachverhalt nach eigner Überzeugung würdigen.

Zu den Zeugen B. und C. sei das FG schon deshalb nicht zu einer weiteren Sachaufklärung von Amts wegen verpflichtet gewesen, da diese nach eigenen Angaben des BF verstorben seien. Darüber hinaus habe der BFH auch nicht vorgetragen, dass er Bemühungen entfaltet habe, seiner Mitwirkungspflicht aus § 90 Abs. 2 AO bei der Beschaffung von sonstigen Beweismitteln in diesem Zusammenhang zu genügen. Auch zu dem Zeugen A. (dem ehemaligen schweizerischen Bankbetreuer) hätte dieser zu einem Sachverhalt angehört werden sollen, der sich im Ausland (Schweiz) zugetragen habe (nämlich zu der Behauptung, der BF habe über das in der Schweiz auf seinem Namen lautende Koto nicht verfügen können); auch insoweit habe er nicht dargelegt, sich bemüht zu haben, seiner Mitwirkungspflicht zu entsprechen, um den Zeugen in der mündlichen Verhandlung zu stellen. Hier ist auch die Beweisvorsorgeverpflichtung des Beteiligten gem. § 90 Abs. 2 S. 4 AO zu berücksichtigen.

Anmerkung: Das Verfahren unterscheidet sich hier grundlegend von einem Prozess im Rahmen der ordentlichen Gerichtsbarkeit (Zivilgericht), da in dem zivilrechtlichen Verfahren auch ein ausländischer Zeuge selbst dann vom Gericht zu laden ist, wenn es sich um einen Auslandssachverhalt handelt. Erscheint dieser Zeuge nicht, kann zwar - da sich die Prozesshoheit der deutschen Gerichte nicht auf das Ausland bezieht – kein Ordnungsgeld festgesetzt werden, ist aber gleichwohl durch das Gericht der Versuch einer Vernehmung im Ausland (vor einem dortigen Gericht bei entsprechenden Übereinkommen, ansonsten durch ein deutsches Konsulat) zu versuchen und letztlich noch der Versuch zu unternehmen, eine schriftliche Zeugenaussage zu erreichen.

BFH, Beschluss vom 13.02.2019 - VIII B 83/18 -

Montag, 15. April 2019

Nachträgliche Beteiligung des Betriebsrates bei Einstellung unwirksam


Der Betriebsrat beantragte die Aufhebung der Einstellung eines Arbeitsnehmers durch die Arbeitgeberin gem. § 101 BetrVG. Er wurde über die beabsichtigte Einstellung  lediglich nach § 105 BetrVG informiert, doch wurde keine nicht vor der Einstellung seine Zustimmung nach § 99 Abs. 1 BetrVG eingeholt. Im Anschluss an den Gütetermin vor dem Arbeitsgericht unterrichte die Arbeitgeberin den Betriebsrat gem. § 99 Abs. 1 BetrVG  („Vorsorgliche Anhörung zur Einstellung gem. § 991 Abs. 1 BetrVG“) und teilte darin mit, dass sie  beabsichtige, die näher benannte Person „rückwirkend zum 01.10.2015“ als Branch Manager in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis einzustellen. Dem stimmte der Betriebsrat mit Schreiben vom 25.02.2016 nicht zu. U.a. wurde geltend gemacht, die nachträgliche Unterrichtung zu einer bereits erfolgten Maßnahme sei nach § 99 BetrVG nicht zulässig. Das Arbeitsgericht gab dem Antrag statt; auf die Beschwerde der Arbeitgeberin wurde der Beschluss des Arbeitsgerichts aufgehoben und der Antrag des Betriebsrates abgewiesen. Der Betriebsrat erhob dagegen Rechtsbeschwerde, aufgrund der das BAG den dem Antrag des Betriebsrates stattgebenden Beschluss des Arbeitsgerichts wieder herstellte.

Nach § 101 S. 1 BetrVG könne der Betriebsrat beim Arbeitsgericht beantragen, dem Arbeitgeber aufzugeben eine personelle Maßnahme iSv. § 99 Abs. 1 S. 1 BetrVG aufzuheben, wenn diese vom Arbeitgeber ohne Zustimmung des Betriebsrates durchgeführt worden sei. Damit könne der Arbeitgeber (bei Existenz eines Betriebsrates in Unternehmen mit mehr als 20 Arbeitnehmern) vor jeder Einstellung den Betriebsrat informieren und dessen Zustimmung einholen oder deren rechtskräftige Ersetzung nach § 99 Abs. 4 BetrVG oder als vorläufige personelle Maßnahme unter den Voraussetzungen des § 100 BetrVG vornehmen (BAG, Beschluss vom 30.09.2014 - 1 ABR 32/13 -).

Die Voraussetzungen für eine notwendige Zustimmung des Betriebsrates wurden vom BAG (wie auch von den Vorinstanzen) bejaht. Das Landesarbeitsgericht habe fehlerhaft angenommen, dass eine nachträgliche Zustimmung deshalb vorläge, da der Betriebsrat seine Verweigerung im Rahmen der nachträglichen Anhörung nicht in beachtlicher Weise begründet habe.

Zwar sei richtig, dass eine Zustimmung durch den Betriebsrat auch dann als erteilt gelte, wenn diese seine Verweigerung nicht unter Angabe beachtlicher Gründe iSv. § 99 Abs. 3 S. 1 BetrVG erklären würde. Allerdings lägen die Voraussetzungen für eine derartige Zustimmungsfiktion hier nicht vor. Erforderlich wäre, dass der Betriebsrat nicht frist- oder formgerecht seine Verweigerung erkläre, wenn eine ordnungsgemäße Unterrichtung durch den Arbeitgeber vorläge. § 99 Abs. 1 S. 1 BetrVG sähe eine Unterrichtung und Zustimmung vor der geplanten Einstellung vor.  Zur Wahrung des Mitbestimmungsrechts sei es grundsätzlich erforderlich, dass die Benachrichtigung zu einer Zeit erfolge, zu der noch keine abschließende und endgültige Entscheidung getroffen sei oder jedenfalls eine solche noch ohne Schwierigkeiten zu beseitigen sei. Eine wie hier erst nach Aufnahme der Beschäftigung im Betrieb erfolgte Unterrichtung des Betriebsrates sei deshalb nicht frist- und ordnungsgemäß iSv. § 99 Abs. 1 BetrVG und könne bereits deshalb auch keine Zustimmungsfiktion nach § 99 Abs. 1 BetrVG bewirken. Es sei hier auch kein auch währen des Laufs des eingeleiteten gerichtlichen Verfahrens möglicher neuer Besetzungsvorgang nach § 99 Abs. 1 BetrVG eingeleitet worden, was nur dann anzunehmen sei, wenn der Arbeitgeber von seiner ursprünglichen Maßnahme Abstand nähme und eine eigenständige neue Ersatzmaßnahme eingeleitet hätte, was ausweislich des Schreibens vom 22.02.2016 nicht der Fall gewesen sei.

BAG, Beschluss vom 21.11.2018 - 7 ABR 16/17 -

Samstag, 13. April 2019

Kfz-Haftpflichtversicherung: Direktanspruch aus § 115 VVG versus Haftungsprivilegierung nach SGB VII


Der Antragsteller, begehrte für die Klage gegen den Haftpflichtversicherer des Fahrzeuges seines Arbeitsgebers Prozesskostenhilfe nach einem Verkehrsunfall, bei dem er als Beifahrer des bei diesem versicherten Fahrzeuges verletzt wurde. Sein Antrag wurde vom Landgericht ebenso zurückgewiesen, wie seine dagegen beim OLG Celle eingelegte Beschwerde. Sowohl das Landgericht wie auch das Oberlandesgericht gingen davon, aus, dass die Voraussetzung, dass die Klage hinreichend Aussicht auf Erfolg haben müsse, nicht vorläge (§ 114 Abs. 1 ZPO).

Dies wird auf § 104f SGB VII gestützt. Diese Norm enthält eine Haftungsprivilegierung für den Arbeitgeber, demzufolge dieser bei einem Schaden des Arbeitnehmers nur haftet, wenn er vorsätzlich gehandelt hat oder es sich um einen sogen. Wegeunfall iSv. § 8 SGB VII handelt, § 104 Abs. 1 SGB VII. Die Haftungsprivilegierung wirke für den Direktanspruch gem. § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG akzessorisch.  Damit könne der Versicherer dem Antragsteller auch die Ausschlusstatbestände des SGB VII entgegenhalten, die dem unmittelbar haftenden Versicherten oder Mitversicherten zustehen würden, auch wenn dieser ohne das Haftungsprivileg als Fahrzeughalter aus Gefährdungshaftung einstandspflichtig wäre.

Die Voraussetzungen für den Haftungsausschluss gem. § 104 SGB VII lägen vor.

So habe sich bei dem Verkehrsunfall bei dem der Antragsteller verletzt wurde, um einen nicht vorsätzlich verursachten Betriebswegeunfall gehandelt, also nicht um einen Wegeunfall iSv. § 8 Abs. 2 Nr. 1 - 4 SGB VII. Als betriebliche Tätigkeit sei grundsätzlich jede gegen Arbeitsunfall (im Rahmen der gesetzlichen Unfallversicherung) versicherte Tätigkeit zu verstehen. Entscheidend dabei sei, ob die Tätigkeit betriebsbezogen gewesen sei, die dem unmittelbaren Schädiger (hier zunächst der Fahrer des Fahrzeuges) von oder für den Betrieb übertragen worden sei oder von diesem im im Betriebsinteresse ausgeführt worden sei. Bei dieser Beurteilung sei nicht entscheidend, ob der Schädiger selbst Betriebsangehöriger war, da der Begriff der betrieblichen Tätigkeit weit auszulegen sei. Erforderlich sei eine unmittelbare mit dem Zweck der betrieblichen Beschäftigung zusammenhängende und dem Betrieb dienliche Tätigkeit, wobei der Schaden in Ausführung der betrieblichen Tätigkeit und lediglich bei Belegenheit einer solchen entstanden sein müsse. Dies sei vorliegend zu bejahen. Die Fahrt erfolgte auf Anordnung des Arbeitgebers zu einem Kundenbesuch und das Fahrzeug, geführt von einem Arbeitskollegen des Antragstellers, sei von dem Arbeitgeber zur Verfügung gestellt worden. Private Zwecke hätten darüber hinaus für die Fahrt nicht vorgelegen.

Auch läge kein Wegeunfall vor. Insoweit sei eine Angrenzung vorzunehmen. Es sei zu prüfen, ob nach dem Sinn und Zweck der §§ 104f SGB VII eine Haftungsbeschränkung geboten sei, da sich aufgrund der betrieblichen Gefahrengemeinschaft ein betriebsbezogenes Risiko verwirklicht habe, von dem der Arbeitgeber grundsätzlich freigestellt sein soll. Maßgeblich sei das Verhältnis des Geschädigten zum Schädiger; insoweit müsse sich im Unfall das betriebliche Verhältnis zwischen Schädiger und Geschädigten manifestiert haben. Damit scheide eine Haftungsprivilegierung dann aus, wenn der Unfall in keinem oder einem nur losen Zusammenhang mit dem Betrieb und der Tätigkeit des Antragstellers gestanden hätte. Es sei von einem Unfall auf einem Betriebsweg nur dann auszugehen, wenn die gemeinsame Fahrt selbst als Teil des innerbetrieblichen Organisations- und Funktionsbereichs erscheine (BGH, Urteil vom 01.12.2003 - VI ZR 349/02 -). Im Gegensatz dazu sei der Weg nach und von der Tätigkeit (Weg zum Arbeitsplatz) ein unter § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII fallender Wegeunfall und kein Betriebsweg iSv. § 8 Abs. 1 SGB VII, wenn er nicht vom Arbeitgeber (z.B. durch Sammeltransporte) organisiert würde.

Vorliegend habe es sich um eine Betriebsfahrt gehandelt. An die Voraussetzungen einer solchen würden keine übersteigerten Voraussetzungen verlangt. Ausreichend sei die Zurverfügungstellung eines betriebseigenen Fahrzeuges als Teil der betrieblichen Organisatin. Die Kriterien, die einen Betriebswegeunfall begründen bzw. einen Wegeunfall ausschließen, seien schon nach den Vorgaben des Antragstellers erfüllt: Die Fahrt habe auf Anordnung des Arbeitsgebers mit mehreren Personen gemeinsam in einem vom Arbeitgeber zur Verfügung gestellten Fahrzeug stattgefunden, um im Betriebsinteresse einen Kunden aufzusuchen, ohne dass die Fahrt zu privaten Zwecken unterbrochen worden sei oder aus sonstigen Gründen das Gepräge einer Arbeits- und Betriebsfahrt verloren habe.

OLG Celle, Beschluss vom 25.09.2018 - 14 W 34/18 -