Freitag, 2. Juni 2023

Haftung bei Unfall eines Businsassen durch starkes Abbremsen (Notbremsung)

An einer Kreuzung hielt der Linienbus an einer Ampel mit Rotlicht. Nachdem die Ampel auf Grün umsprang, fuhr der Bus in den Kreuzungsbereich hinein um dort nach links abzubiegen. Die Klägerin, die kurz nach dem Kreuzung an der Haltestelle aussteigen wollte (und bereits das Haltesignal betätigt hatte) stand auf und positionieret sich am Ausgang, mit einer Hand sich an der Haltestange haltend, in der anderen Hand einen Regenschirm und die Handtasche haltend. Nach einem kurzen Stopp im Kreuzungsbereich, um Gegenverkehr durchfahren zu lassen, fuhr er wieder an; eine im Kreuzungsbereich anwesende Fußgängerin wollte im Bereich der Fußgängerfurt (bei Grünlicht für Fußgänger) die Straße überqueren, in die der Bus im Begriff war einzufahren. Nachdem der Busfahrer (der Beklagte zu 1.) die Fußgängerin wahrnahm, nahm er bei einem Abstand von nur noch 1 m eine Notbremsung vor, erfasste die Fußgängerin aber gleichwohl, die deshalb stürzte (aber unverletzt blieb). Infolge der Notbremsung konnte sich die Klägerin nicht mehr an der Haltestange ausreichend festhalten und stürzte. Sie machte Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche geltend. Das Landgericht wies die Klage mit der Begründung ab, die Klägerin hätte bis zum Halt an der Haltestelle sitzen bleiben können und dann zügig den Bus verlassen können; in diesem Fall wäre es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht zu einer Schädigung gekommen. In der von der Klägerin eingelegten Berufung machte sie nur noch 50% als Haftungsanteil der Beklagten geltend. Das Oberlandesgericht (OLG) stellte dem Grunde nach eine Haftung der Beklagten zu 50% fest und verwies den Rechtsstreit zur Höhe an das Landgericht zurück.

Das OLG verwies darauf, dass die Beklagten die Gefährdungshaftung gem. §§ 7, 8a, 18 StVG treffe. Eine die Haftung nach § 7 StVG ausschließende höhere Gewalt wurde vom OLG nicht erörtert, da diese ersichtlich nicht vorliegen konnte. Stattdessen nahm das OLG sogar (zutreffend) eine durch einen Verkehrsverstoß des Busfahrers leicht gesteigerte Betriebsgefahr beim Abbiegen an. Zwar bedeute das für den Beklagten zu 1. (Busfahrer) gültige Licht der Ampel nach § 37 Abs. 2 S. 3 Nr. 1, S. 2 StVO, dass er nach den Regeln des § 9 StVO abbiegen dürfe. Allerdings habe derjenige, der nach § 9 StVO abbiegen wolle, u.a. auf Fußgänger zu achten und ggf. zu warten, § 9 Abs. 3 S. 3 StVO. Hier habe der Beklagte zu 1. die Fußgängerin übersehen, was zu der Notbremsung führte. Der Verkehrsverstoß sei in die Haftungsabwägung mit einzubeziehen, auch wenn nicht die Klägerin der Grund für die Notbremsung war. Der Bremsvorgang sei kein normaler Bremsvorgang im fließenden Straßenverkehr gewesen, sondern eben als Notbremsung, der eine Verletzung der Pflicht aus § 9 Abs. 3 StVO zugrunde liegt.

Allerdings läge auch ein Mitverschulden der Klägerin vor, §§ 9 StVG, 254 BGB. Der Fahrgast von Straßenbahnen und Bussen sie verpflichtet, sich im Fahrzeug einen festen Halt zu verschaffen, § 4 Abs. 3 S. 5 BefBedV. Ein Beweis des ersten Anscheins läge aber dafür nur vor, wenn keine außergewöhnlichen Fahrereignisse vorlägen (OLG Celle, Urteil vom 02.05.2019 - 14 U 183/18 -), welches hier infolge der Notbremsung vorläge. Jeder Fahrgast sei aber selbst dafür verantwortlich. Dass er durch typische und zu erwartende Bewegungen des Busses nicht zu Fall käme (KG, Urteil vom 07.05.2012 - 22 U 251/11 -). Das erfordere, gerade bei älteren Fahrgästen, ein Festhalten mit beiden Händen an der Haltestange (OLG Düsseldorf, Urteil vom 10.05.2015 - 1 U 71/14 -). Dem sei die Klägerin nicht nachgekommen. Das Festhalten mit nur einer Hand genüge schon bei ruckartigen Fahrt- oder Bremsbewegungen nicht, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.  Zudem habe die Klägerin ihren sicheren Sitzplatz im unmittelbarer Nähe zum Ausgang trotz ausgelösten Haltesignals verlassen.

Mit dem Kammergericht (KG, Beschluss vom 29.06.2010 - 12 U 30/10 -) würde das Eigenverschulden des Fahrgastes, der sich nicht ordnungsgemäß festhalte, eine Gefährdungshaftung aus einfacher Betriebsgefahr des Busses vollkommen verdrängen. Das Eigenverschulden könne sich bei Vorliegen besonderer Umstände verringern. Es sei (so hier) eine Haftungsquotelung von 50 : 50 bei einer kausalen Notbremsung des Busfahrers anzunehmen.

Schleswig-Holsteinisches OLG, Urteil vom 25.04.2023 - 7 U 125/22 -


Aus den Gründen:

Tenor

1. Auf die Berufung der Klägerin wird das am 17. Juni 2022 verkündete Urteil des Einzelrichters der 9. Zivilkammer des Landgerichts Lübeck geändert und wie folgt neu gefasst:

Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner dem Grunde nach verpflichtet sind, der Klägerin aus dem Unfallereignis vom 17.11.2020 Kreuzung L…/S… in L sämtliche materiellen Schäden nach einer Quote von 50 % und sämtliche immateriellen Schäden unter Berücksichtigung einer Mitverschuldensquote von 50 % zu ersetzen, soweit der Anspruch nicht auf Dritte übergeht oder übergegangen ist.

2. Im Übrigen wird das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zur Entscheidung über Höhe und die Kosten, auch des Berufungsverfahrens, an das Landgericht Lübeck zurückverwiesen.

3. Gerichtliche Gebühren und Auslagen, die durch das aufgehobene Urteil verursacht worden sind, werden nicht erhoben. Im Übrigen bleibt die Kostenentscheidung dem Schlussurteil vorbehalten.

4. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

I.

Die Parteien streiten um Ansprüche aus einem Verkehrsunfall, der sich am 17. November 2020 in L ereignet hat.

Die zum Unfallzeitpunkt 82 Jahre alte Klägerin fuhr gegen 17:40 Uhr als Passagierin eines Linienbusses der Beklagten zu 2) zu ihrer Wohnung in der Senioreneinrichtung H.-R.. Der Beklagte zu 1), der seit 30 Jahren als Busfahrer arbeitet, lenkte den Bus. Die Klägerin saß auf einem Zweier-Sitzplatz direkt an einem der Ausgänge und beabsichtigte, an der nächsten Haltestelle auszusteigen und betätigte deshalb von ihrem Sitzplatz aus das Haltesignal. Neben ihr befanden sich lediglich fünf weitere Fahrgäste im Bus. Bei Regen und Dunkelheit näherte sich der Beklagte zu 1) mit dem Bus dem Kreuzungsbereich L-straße/S./E.-straße/ NH-straße und wollte an der Kreuzung von der L.-straße kommend nach links in die Straße S.-berg abbiegen, wo sich dann alsbald hinter dem Kreuzungsbereich die Haltestelle befindet, an der die Klägerin aussteigen wollte. Der Linienbus hielt zunächst wegen Rotlichts an der Kreuzung. Als das Licht auf Grün umsprang, fuhr der Linienbus in den Kreuzungsbereich ein. Die Klägerin stand auf und positionierte sich am Ausgang. Sie sicherte sich mit einer Hand an der Haltestange ab, während sie in der anderen Hand einen Regenschirm und ihre Handtasche festhielt.

Im Kreuzungsbereich musste der Beklagte zu 1) den Linienbus zunächst nochmal kurz anhalten, da er vorfahrtsberechtigten Verkehr durchlassen musste. Die im Kreuzungsbereich anwesende Fußgängerin K. wollte die Straße S.-berg aus Richtung E.-straße im Bereich einer Fußgängerfurt bei für sie zeigendem Grünlicht für Fußgänger überqueren. Der Beklagte zu 1) nahm die Fußgängerin K. zunächst nicht wahr und fuhr wieder an, um den Linksabbiegevorgang in die Straße S.-berg zu vollenden. Nachdem der Beklagte zu 1) die Fußgängerin jedoch wahrgenommen hatte, nahm er eine scharfe Notbremsung vor, als sie sich nur etwa einen Meter vor dem Linienbus befand. Trotz der Notbremsung erfasste er die Fußgängerin K. mit dem Bus und brachte diese zu Fall, allerdings offenbar ohne dass sie Verletzungen davontrug.

Durch die plötzliche Notbremsung stürzte die Klägerin, der es nicht gelang, sich an der Haltestange festhalten. Sie ging mit dem Kopf in Fahrtrichtung voran und ohne wahrnehmbare Sicherungs- und Abwehrbewegungen direkt zu Boden, wo sie nach kurzer Rutschbewegung in Fahrtrichtung liegen blieb. Die Klägerin wurde mit dem Rettungswagen in das UKSH gebracht, wo sie bis zum 2. Dezember 2020 stationär behandelt wurde. Gemäß vorläufigem Arztbrief vom 1. Dezember 2020 wurden bei ihr eine mediale Schenkelhalsfraktur links (Klassifikation nach Garden: Typ 3), eine Humeruskopfmehrfragmentfraktur links, eine instabile BWK-4-Fraktur sowie eine traumatische Eröffnung der Bursa olecrani links diagnostiziert. Im Rahmen des Krankenhausaufenthalts erfolgten am 18. November 2020 Operationen an Ellenbogen, Schulter und Hüfte. Am 19. November 2020 wurde die Brustwirbelkörperfraktur intern fixiert. Unstreitig folgten weitere Krankenhausaufenthalte der Klägerin, und zwar vom 2. bis 14. Dezember 2020 im Krankenhaus D. in L. sowie erneut vom 19. Januar bis zum 16. Februar 2021 im D.- Krankenhaus. Die Beklagten sehen den Krankenhausaufenthalt im Dezember 2020 nur noch zum Teil und den weiteren Krankenhausaufenthalt im Januar/Februar 2021 gar nicht mehr als unfallbedingt an. Die Klägerin ist mittlerweile von einer Wohnung in der Seniorenresidenz auf die dortige Pflegestation verlegt worden. Inzwischen ist sie mit Pflegegrad III in der Pflegeabteilung untergebracht.

Die Klägerin hat behauptet, die Verlegung in die Pflegeabteilung sei unfallbedingt notwendig geworden. Sie habe neben den diagnostizierten Schäden auch Dauerschäden erlitten. Vor dem Unfall habe sie viele ehrenamtliche Tätigkeiten ausgeführt und sei immer mindestens 20 Jahre jünger geschätzt worden. Inzwischen sei dies anders, sie können nicht mehr ordentlich gehen und sei auf den Rollstuhl angewiesen.

Das Landgericht hat nach Anhörung der Klägerin sowie des Beklagten zu 1) und Beweisaufnahme (Inaugenscheinnahme von angefertigten Videoaufnahmen, Beiziehung der Ermittlungsakte) die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, der Klägerin sei ein solch erhebliches Mitverschulden anzulasten, dass eine mögliche Haftung der Beklagten hinter ihrem eigenen Verursachungsbeitrag zurücktreten würde. Die Klägerin habe sich sehenden Auges ohne sachlichen Grund selbst in Gefahr begeben, indem sie während der Fahrt und noch vor Einfahrt des Busses in die Kreuzung von ihrem Sitz aufgestanden und sich nur mit einer Hand an der Haltestange festgehalten habe. Den Insassen von Bussen obliege es in Eigenverantwortung, Gefahren für Leib und Leben abzuwehren. Es wäre der Klägerin hier auch leicht möglich gewesen, die Gefahrenlage abzuwenden. Sie hätte bis zum Stillstand des Linienbusses an der Haltestelle auf ihrem Sitzplatz verweilen können. Da nur fünf weitere Fahrgäste im Bus befindlich waren, hätte sie den Bus an der Haltestelle zügig und rechtzeitig verlassen können, selbst wenn sie bis zum Halt des Linienbusses auf ihrem Sitzplatz verblieben wäre. Für den Fall, dass die Klägerin auf ihrem Sitzplatz geblieben wäre, wäre mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keine Verletzung bei ihr eingetreten.

Gegen dieses Urteil wendet sich die Klägerin mit der Berufung, mit der sie ihre Ansprüche - insoweit abweichend vom ersten Rechtszug nur noch auf der Grundlage einer Haftung der Beklagten von 50 % - weiter verfolgt. Zur Begründung führt sie im Wesentlichen aus, dass ihre Haftung im Rahmen des § 254 BGB hier nicht überwiege. Die Obliegenheit, sich selbst einen sicheren Halt zu verschaffen, betreffe die eigene Absicherung gegenüber verkehrstypischen Fahrbedingungen, nicht aber gegenüber nicht verkehrsgerechtem Verhalten des Fahrzeugführers. Dann müsse eine Abwägung zwischen den Verschuldensanteilen des Geschädigten und denjenigen des Fahrzeugführers bzw. Fahrzeughalters vorgenommen werden. Zulasten des Beklagten zu 1) streite hier die Betriebsgefahr des Omnibusses. Diese trete nicht zurück, weil der Beklagte zu 1) grob fahrlässig und schuldhaft einen Verkehrsunfall verursacht habe. Der starke und abrupte Bremsvorgang sei nur deshalb erforderlich gewesen, um einen Zusammenstoß mit der Fußgängerin zu vermeiden, die der Beklagte zu 1) übersehen habe. Die Klägerin habe auch nicht bis zum Erreichen der Haltestelle auf ihrem Sitzplatz sitzen bleiben können, da an der von ihr gewünschten Haltestelle Fahrer oft ohne Halt weiterfahren, selbst wenn das Haltesignal betätigt werde. Es sei daher erforderlich, dass die Fahrgäste sich im Bus regen, damit der Fahrer den Haltewunsch nicht übersehe. Es bestehe keine generelle Pflicht zum beidhändigen Festhalten und ein solches Festhalten sei bei verkehrsgerechtem Verhalten auch nicht erforderlich.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Landgerichts teilweise zu ändern und

1. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an sie 72,88 € € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz auf einen Betrag von 9,39 € € seit dem 30.03.2021, auf einen Betrag von 12,50 € € seit dem 26.06.2021, auf einen Betrag von 2,85 € € seit dem 21.07.2021 sowie auf weitere 48,14 € € seit dem 17.12.2021 zu zahlen;

2. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an sie unter Berücksichtigung einer Mitverschuldensquote in Höhe von 50 % ein angemessenes Schmerzensgeld, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz auf den zuerkannten Betrag seit Rechtshängigkeit zu zahlen;

3. festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, ihr sämtliche materiellen und immateriellen Schäden, soweit sie nach dem 17.11.2020 aus dem Unfallereignis vom 17.11.2020 Kreuzung L.-straße/ S.-berg in L. künftig entstehen, unter Berücksichtigung einer Mitverschuldensquote von 50 % zu ersetzen, soweit der Anspruch nicht auf Dritte übergeht oder übergegangen ist und soweit der Anspruch nicht bereits durch den Antrag zu 1) abgegolten ist;

4. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an sie weitere vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 958,19 € € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen;

hilfsweise,

das angefochtene Urteil aufzuheben und zur erneuten Verhandlung an das Landgericht zurückzuverweisen;

weiter hilfsweise,

die Revision zuzulassen.

Die Beklagten beantragen,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Senat hat die Klägerin im Termin am 6. Dezember 2022 ergänzend angehört und die Videoaufnahmen der im Bus befindlichen Überwachungskameras von dem Unfall mehrfach in Augenschein genommen. Die vom Senat angeregte vergleichsweise Einigung - auch zur Höhe - in Form eines Abfindungsvergleichs ist nicht zustande gekommen.

II.

Die Berufung der Klägerin hat Erfolg, soweit sie eine Feststellung der Haftung der Beklagten dem Grunde nach zu 50 % begehrt. Insoweit liegen die Voraussetzungen für ein Grundurteil nach § 304 ZPO vor. Im Übrigen ist die Sache auf den Hilfsantrag der Klägerin zur Entscheidung über die Höhe und die Kosten an das Landgericht zurückzuverweisen.

Das angefochtene Urteil weist Rechtsfehler auf, die zugrunde zu legenden Tatsachen rechtfertigen teilweise eine andere Entscheidung (§ 513 Abs. 1 ZPO). Das Landgericht hat das Verschulden des Beklagten zu 1) nicht ausreichend und den Mitverursachungsbeitrag der Klägerin am Unfall zu hoch bewertet. Die Klage ist dem Grunde nach zu 50 % gerechtfertigt und in diesem Umfang war dem Feststellungsantrag stattzugeben (dazu unter 1). Wegen des streitigen Vortrags zur Schadenshöhe und wegen der Kosten ist die Sache gem. § 538 Abs. 2 Nr. 4 ZPO auf den Hilfsantrag der Klägerin an das Landgericht zurückzuverweisen (dazu unter 2).

1. Die Beklagten trifft hier eine Gefährdungshaftung aus §§ 7, 8a, 18 StVG. Diese Betriebsgefahr ist im vorliegenden Fall durch einen Verkehrsverstoß gesteigert worden, denn der Beklagte zu 1) hat beim Abbiegen zugleich gegen § 37 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1, Satz 2 i. V. m. § 9 Abs. 3 StVO verstoßen. Die Voraussetzungen für ein Zurücktreten der Betriebsgefahr wegen unzureichender Eigensicherung des Fahrgastes liegen nicht vor (vgl. hierzu auch OLG Hamm, Urt. Vom 29.04.2022, Az. 11 U 198/21, juris n. w. N.).

Gemäß § 37 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1, Satz 2 StVO bedeutet zwar das hier für den Beklagten zu 1) gültige grüne Ampellicht an der Kreuzung, dass er nach den Regeln des § 9 StVO abbiegen darf. Nach § 9 Abs. 3 StVO muss jedoch, wer abbiegen will, u. a. auf zu Fuß Gehende besondere Rücksicht nehmen; wenn nötig, ist zu warten.

Der Beklagte zu 1) hat beim Linksabbiegen unstreitig die Zeugin K. übersehen und musste infolgedessen eine scharfe Notbremsung vornehmen. Dieser Verkehrsverstoß ist in die Haftungsabwägung einzubeziehen, obwohl es nicht die geschädigte Klägerin war, deretwegen die Notbremsung vollzogen wurde. Das Bremsen stellt sich nicht als normaler Bremsvorgang im fließenden Straßenverkehr dar, sondern als Notbremsung, die gleichwohl eine Kollision mit der Fußgängerin nicht zu verhindern vermochte. Der plötzliche und scharfe Bremsvorgang des Busses war auf dem Video gut zu beobachten.

Die Klägerin hat sich ein Mitverschulden gemäß § 9 StVG, § 254 BGB anrechnen zu lassen. Gemäß § 4 Abs. 3 Satz 5 der Verordnung über die Allgemeinen Beförderungsbedingungen für den Straßenbahn- und Busverkehr sowie den Linienverkehr mit Kraftfahrzeugen vom 27. 2. 1970 (BGBl. I S. 230) in der Fassung vom 21.5.2015 (BGBl. I S. 782, spätere Änderungen des Gesetzes erfolgten nach dem Unfallereignis) ist jeder Fahrgast verpflichtet, sich im Fahrzeug stets einen festen Halt zu verschaffen. Zwar streitet hier zu Lasten der Klägerin nicht der Beweis des ersten Anscheins eines Verschuldens. Denn ein solcher Anscheinsbeweis greift bei Stürzen in Bussen und Straßenbahnen nur dann ein, wenn keine außergewöhnlichen Fahrereignisse vorliegen (vgl. OLG Celle, Urteil vom 02.05.2019 - 14 U 183/18, BeckRS 2019, 14377, Rn. 9+10; OLG Frankfurt a.M., Beschluss vom 16. 7. 2012 - 3 U 293/11, NZV 2013, 77). Hier liegt indes ein außergewöhnliches Fahrereignis vor, weil der Linienbus einen Unfall verursacht hat.

Gleichwohl trägt die Klägerin hier ein erhebliches Mitverschulden. Jeder Fahrgast ist grundsätzlich selbst dafür verantwortlich, dass er durch typische oder zu erwartende Bewegungen eines Busses nicht zu Fall kommt (vgl. KG, Urteil vom 7. 5. 2012 - 22 U 251/11, NZV 2013, 78). Hierfür ist es gerade beim fortgeschrittenen Alter eines Fahrgastes erforderlich, sich mit beiden Händen an der Haltestange festzuhalten (vgl. OLG Düsseldorf Urt. v. 10.2.2015 – 1 U 71/14, BeckRS 2015, 122527 Rn. 48). Dieser Obliegenheit ist die Klägerin unstreitig nicht nachgekommen, weil sie sich an der Haltestange nur mit einem einhändigen Griff gesichert hatte. Dies genügt nicht, um auch bei ruckartigen Fahrt- oder Bremsbewegungen nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Damit ist jederzeit zu rechnen. Insbesondere im Stadtverkehr muss ein Fahrgast mit plötzlichen Bremsmanövern jederzeit rechnen und das bei der Wahl der Sicherheitsvorkehrungen berücksichtigen (vgl. BeckOGK/Ballhausen, 1.9.2022, HPflG § 12 Rn. 43). Trotz ausgelöstem Haltesignal hatte die Klägerin außerdem ihren sicheren Sitzplatz, der in unmittelbarer Nähe zum hinteren Ausgang lag, vorzeitig verlassen und war schon aufgestanden, bevor der Bus die Haltestelle erreicht hatte.

Der Senat schließt sich im Übrigen den Ausführungen des Kammergerichts (Beschluss vom 29. 6. 2010 - 12 U 30/10, NZV 2011, 197, 199) zu den Grundsätzen der Abwägung beiderseitiger Verursachungs- und Verschuldensanteile beim Sturz von Fahrgästen nach §§ 7, 9, 18 StVG, § 254 BGB an:

Hiernach verdrängt das Eigenverschulden des Fahrgastes, der sich nicht ordnungsgemäß festgehalten hat, die Gefährdungshaftung aus einfacher Betriebsgefahr vollständig. Bei Vorliegen besonderer Umstände kann sich das Eigenverschulden des Fahrgastes jedoch verringern. Eine Schadensteilung 50 : 50 kommt dagegen in Betracht, wenn der Busfahrer schuldhaft eine Notbremsung vorgenommen hat.

So liegt der Fall hier. Eine Mithaftung der Klägerin von 50 % ist in Anbetracht der vorgenommenen schuldhaften Notbremsung angemessen und wird von der Klägerin selbst jedenfalls im Berufungsrechtszug nicht mehr in Abrede gestellt.

Da der Rechtsstreit dem Grunde nach zur Entscheidung reif ist, hat der Senat ein Grund- und Teilurteil erlassen. Die Klage der Klägerin ist begründet, soweit sie dem Grunde nach die Beklagten auf gesamtschuldnerische Haftung in Höhe von 50 % ihrer Schäden in Anspruch nimmt und eine entsprechende Feststellung begehrt. Dem trägt der Tenor Rechnung.

2. Zur Höhe ist der Rechtsstreit noch nicht entscheidungsreif. Die Beklagten bestreiten - zumindest teilweise - die von der Klägerin geltend gemachten Schäden und die von ihr behaupteten Dauerfolgen. Hierüber wird ggf. Beweis zu erheben sein. Die Klägerin bestreitet, einen Schlaganfall erlitten zu haben. Da das Landgericht sich mit dem Rechtsstreit zur Höhe noch nicht befasst hat, war das angefochtene Urteil auf die Berufung und den Antrag der Klägerin gemäß § 538 Abs. 2 Nr. 4 ZPO teilweise aufzuheben und zur neuen Verhandlung und Entscheidung über die Höhe der geltend gemachten Ansprüche an das Landgericht zurückzuverweisen.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 21 GKG hinsichtlich der Niederschlagung der Gerichtskosten und Auslagen im ersten Rechtszug. Im Übrigen bleibt die Kostenentscheidung dem Schlussurteil vorbehalten.

4. Vorläufige Vollstreckbarkeit des Grundurteils

Auch wenn das Urteil selbst keinen vollstreckungsfähigen Inhalt im eigentlichen Sinn hat, denn das angefochtene Urteil tritt bereits mit der Verkündung des aufhebenden Urteils außer Kraft (§ 717 Abs. 1 ZPO), ist die Entscheidung für vorläufig vollstreckbar zu erklären, da gemäß §§ 775 Nr. 1 und 776 ZPO das Vollstreckungsorgan die Vollstreckung aus dem erstinstanzlichen Urteil erst einstellen und bereits getroffene Vollstreckungsmaßregeln erst aufheben darf, wenn eine vollstreckbare Ausfertigung vorgelegt wird. Der Senat folgt dieser Auffassung (vgl. OLG München, Urteil vom 18. September 2002 - 27 U 1011/01 -, NZM 2002, 1032; Zöller-Heßler, ZPO, 34. Aufl. § 538 Rn. 59 m. w. N.).

Gründe für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.


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