Die Antragstellerin beantragte vergeblich Prozesskostenhilfe für eine Klage auf immateriellen Schadensersatz bzw. Schmerzensgeld wegen Verstoßes gegen Datenschutzbestimmungen. Wie schon das Landgericht wies auch das OLG das Begehren zurück.
Dabei ging es nicht darum, ob von der Antragstellerin im Rahmen des § 114 ZPO substantiiert ein Verstoß gegen Datenschutzbestimmungen durch den Antragsgegner dargelegt wurden. Entscheidend war gewesen, dass die Antragstellerin nach Überzeugung des LG und des OLG keinen Sachverhalt vorgetragen hatte, der den Anspruch begründen könnte. Zu dem in Art. 82 DSGVO normierten Anspruch müsse dargelegt werden, dass der Antragstellerin durch die Rechtsgutverletzung ein Schaden materieller oder immaterieller Art entstanden sei. Es ginge nicht (wie im Beschluss des BVerfG vom 14.01.2021 – 1 BvR 2853/19 -) um die Feststellung einer Erheblichkeitsschwelle für einen Anspruch, sondern unabhängig von dieser darum, ob überhaupt ein solcher entstanden sein könnte (haftungsausfüllende Kausalität).
Art. 82 Abs. 1 DSGVO lautet:
„Jede Person, der wegen eines Verstoßes gegen diese Verordnung ein materieller oder immaterieller Schaden entstanden ist, hat Anspruch auf Schadenersatz gegen den Verantwortlichen oder gegen den Auftragsverarbeiter.“
Hanseatisches OLG Bremen,
Beschluss vom 16.07.2021 - 1 W 18/21 -
Aus den Gründen:
A. Hanseatisches OLG Bremen, Beschluss vom 16.07.2021 - 1 W 18/21 -
Tenor
Die sofortige
Beschwerde der Antragstellerin vom 29.03.2021 gegen den Beschluss des
Landgerichts Bremen vom 22.02.2021 wird zurückgewiesen.
Gründe
I.
Mit ihrer
sofortigen Beschwerde vom 29.03.2021 wendet sich die Antragstellerin gegen den
Beschluss des Landgerichts vom 22.02.2021, mit dem das Landgericht den Antrag
der Antragstellerin vom 28.08.2019 auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für
die Geltendmachung immateriellen Schadensersatzes bzw. Schmerzensgeldes
zurückgewiesen hat. Das Landgericht hat der sofortigen Beschwerde der
Antragstellerin mit Beschluss vom 23.04.2021 nicht abgeholfen.
II.
Die sofortige
Beschwerde der Antragstellerin vom 29.03.2021 gegen den Beschluss des
Landgerichts vom 22.02.2021 war aus den zutreffenden Gründen der angegriffenen
Entscheidung sowie des Nichtabhilfebeschlusses vom 23.04.2021 zurückzuweisen.
Der Antragstellerin war die begehrte Prozesskostenhilfe zu versagen, da sie
weiterhin keinen Sachverhalt vorgetragen hat, aufgrund dessen sich das
Vorliegen hinreichender Erfolgsaussichten für die Rechtsverfolgung der
Antragstellerin als Voraussetzung für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe
nach § 114 ZPO ergeben würde. Die Antragstellerin verkennt, dass nach
Art. 82 der Datenschutz-Grundverordnung (Verordnung (EU) 2016/679 vom
27.04.2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung
personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der
Richtlinie 95/46/EG, nachfolgend: DSGVO) ein Anspruch auf Schadensersatz
voraussetzt, dass einer natürlichen Person wegen eines Verstoßes gegen diese
Verordnung ein materieller oder immaterieller Schaden entstanden ist. Dem
Vorbringen der Antragstellerin ist lediglich ein Vortrag zu einem geltend
gemachten Verstoß gegen die Bestimmungen der DSGVO zu entnehmen, dagegen fehlt
es an jeglichem Vorbringen zu einem der Antragstellerin hierdurch entstandenen
immateriellen Schaden. Einer Vorlage an den Europäischen Gerichtshof bedurfte
es bereits im Hinblick auf den eindeutigen Wortlaut des Art. 82 DSGVO
nicht: Anders als in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom
14.01.2021 (siehe BVerfG, Beschluss vom 14.1.2021 – 1 BvR 2853/19, juris Rn.
21, NJW 2021, 1005) liegt den vorstehenden Erwägungen nicht die Annahme einer
Erheblichkeitsschwelle für den Schadensbegriff des Art. 82 DSGVO zugrunde,
sondern es fehlt bereits an jeglichem Vorbringen zu einem der Antragstellerin
durch die geltend gemachte Rechtsverletzung entstandenen Schaden. Im Übrigen
ist Art. 267 Abs. 3 AEUV eine Vorlagepflicht der einzelstaatlichen
Gerichte nur in solchen Verfahren zu entnehmen, in denen die Entscheidungen
dieser Gerichte selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts
angefochten werden können. Im vorliegenden Verfahren über die Bewilligung von
Prozesskostenhilfe gilt aber ebenso wie im Verhältnis zwischen Verfahren des
einstweiligen Rechtsschutzes und den Hauptsacheverfahren, dass keine
Vorlagepflicht besteht, wenn die zu erlassende Entscheidung das Gericht, dem
der Rechtsstreit danach in einem Hauptsacheverfahren vorgelegt wird, nicht
bindet und den Parteien eine erneute Überprüfung der zunächst nur vorläufig
entschiedenen Frage offensteht (siehe BVerfG, Beschluss vom 19.10.2006 – 2 BvR
2023/06, juris Rn. 13, EuR 2006, 814).
Informativ werden auch die Gründe des Bundesverfassungsgerichts mitgeteilt, mit denen dieses der Verfassungsbeschwerde gegen ein den Schadensersatzanspruch ablehnendes Urteil eines Amtsgerichts stattgab und sich dabei im Hinblick auf die Erheblichkeitsschwelle darauf bezog, dass der Geldentschädigungsanspruch bei Verstoß gegen die DSGVO in der Rechtsprechung des EuGH noch nicht abschließend geklärt sei und sich dies auch nicht unmittelbar aus der DSGVO bestimmen ließe.
1. Das Urteil
des Amtsgerichts Goslar vom 27. September 2019 - 28 C 7/19 - verletzt den
Beschwerdeführer in seinem grundrechtsgleichen Recht aus Artikel 101
Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes. Das Urteil wird aufgehoben. Die
Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht Goslar
zurückverwiesen. Damit wird der Beschluss des Amtsgerichts Goslar vom 11.
November 2019 - 28 C 7/19 - gegenstandslos.
2. Das Land
Niedersachsen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe
Die
Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die teilweise Abweisung einer
zivilrechtlichen Klage und betrifft die Vorlagepflicht an den Gerichtshof der
Europäischen Union nach Art. 267 Abs. 3 AEUV.
I.
1. Der
als Rechtsanwalt tätige Beschwerdeführer erhielt am 7. Dezember 2018 eine
Werbe-Email des Beklagten des Ausgangsverfahrens an seine berufliche
Email-Adresse. Zwischen den Parteien blieb streitig, ob der Beschwerdeführer zuvor
eine Bestellung bei dem Beklagten des Ausgangsverfahrens aufgegeben und dabei
in die Übersendung von Werbe-Emails eingewilligt hatte. Mit Schreiben vom
gleichen Tag mahnte der Beschwerdeführer den Beklagten des Ausgangsverfahrens
ab.
Mit Klage vom
7. Januar 2019 beantragte der Beschwerdeführer erstens, den Beklagten des
Ausgangsverfahrens zu verurteilen, es zu unterlassen, zu Werbezwecken mit ihm
per Email Kontakt aufzunehmen oder aufnehmen zu lassen, ohne dass seine
ausdrückliche Einwilligung vorliege, zweitens Auskunft über die ihn
betreffenden gespeicherten Daten zu erteilen, drittens festzustellen, dass die
geltend gemachten Ansprüche aus vorsätzlicher unerlaubter Handlung stammten,
sowie viertens die Beklagte zur Zahlung eines Schmerzensgeldes zu verurteilen,
dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt werde, das aber den Betrag
von 500 Euro nicht unterschreiten solle. Das zu zahlende Schmerzensgeld
begründete der Beschwerdeführer mit Verweis auf Art. 82 Abs. 1
Datenschutz-Grundverordnung (Verordnung [EU] 2016/679 des Europäischen
Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei
der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur
Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG, ABl. L 119 vom 4. Mai 2016; im Folgenden:
DSGVO), der für schuldhafte Verstöße gegen Vorschriften der
Datenschutz-Grundverordnung ein angemessenes Schmerzensgeld vorsehe. Vorliegend
sei seine Email-Adresse im Sinne des Art. 6 DSGVO datenschutzwidrig, weil
ohne Einwilligung verwendet worden.
2. Durch
das angegriffene Urteil vom 27. September 2019 gab das Amtsgericht der Klage
hinsichtlich des geltend gemachten Unterlassungs- und des Auskunftsanspruchs
statt. Im Übrigen wies es die Klage ab. Ob die Rechtsprechung des
Bundesgerichtshofs zu nicht vom Unionsrecht beeinflussten Fällen, wonach eine
Geldentschädigung wegen Persönlichkeitsrechtsverletzung einen schwerwiegenden
Eingriff erfordere, der nicht in anderer Weise befriedigend ausgeglichen werden
könne, auch für den hier geltend gemachten und auf Art. 82 DSGVO
gestützten Anspruch gelte, erscheine zwar mit Blick auf Satz 3 des
Erwägungsgrundes 146 der DSGVO fraglich. Im Streitfall sei jedoch ein Schaden
nicht ersichtlich. Es habe sich lediglich um eine einzige Werbe-Email gehandelt,
die nicht zur Unzeit versandt worden sei, die aufgrund ihres äußeren
Erscheinungsbildes deutlich gezeigt habe, dass es sich um Werbung handele, und
die ein längeres Befassen mit ihr nicht notwendig gemacht habe.
3. Nach
Zurückweisung einer Anhörungsrüge rügt der Beschwerdeführer mit der
Verfassungsbeschwerde eine Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2
GG.
4. Die
Akten des Ausgangsverfahrens lagen vor. Das Bundesverfassungsgericht hat dem
Niedersächsischen Justizministerium sowie dem Beklagten des Ausgangsverfahrens
Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.
II.
Die Kammer
nimmt die zulässige Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr
statt, weil dies zur Durchsetzung des als verletzt gerügten Rechts des
Beschwerdeführers auf den gesetzlichen Richter gemäß Art. 101 Abs. 1
Satz 2 GG angezeigt ist, § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG. Diese
Entscheidung kann von der Kammer getroffen werden, weil die maßgeblichen
verfassungsrechtlichen Fragen durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden
sind und die Verfassungsbeschwerde danach offensichtlich begründet ist,
§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG.
1. Das
Amtsgericht hat das Recht des Beschwerdeführers auf den gesetzlichen Richter
verletzt, indem es aufgrund der teilweisen Klageabweisung, der dadurch für den
Beschwerdeführer nicht erreichten Berufungsbeschwer (§ 511 Abs. 2
Nr. 1 ZPO) und der nicht zugelassenen Berufung letztinstanzlich tätig
geworden ist und entgegen Art. 267 Abs. 3 AEUV von einem
Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union abgesehen
hat.
a) Der
Gerichtshof der Europäischen Union ist gesetzlicher Richter im Sinne des
Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG (vgl. BVerfGE 73, 339 <366>; 82,
159 <192>; 126, 286 <315>; 128, 157 <186 f.>; 129, 78
<105>; 135, 155 <230 f. Rn. 177>). Unter den Voraussetzungen des
Art. 267 Abs. 3 AEUV sind die nationalen Gerichte von Amts wegen
gehalten, den Gerichtshof anzurufen (vgl. BVerfGE 82, 159 <192 f.>; 128,
157 <187>; 129, 78 <105>). Es kann einen Entzug des gesetzlichen
Richters darstellen, wenn ein nationales Gericht seiner Pflicht zur Anrufung
des Gerichtshofs im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267
Abs. 3 AEUV nicht nachkommt (vgl. BVerfGE 73, 339 <366 f.>; 82, 159
<192 ff.>; 135, 155 <230 f. Rn.177>; stRspr).
Nach der
Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH, Urteil vom 6.
Oktober 1982, C.I.L.F.I.T., C-283/81, EU:C:1982:335, Rn. 21; Urteil vom 15.
September 2005, C-495/03, EU:C:2005:552, Rn. 33; Urteil vom 6. Dezember 2005,
C-461/03, EU:C:2005:742, Rn. 16; stRspr) muss ein nationales letztinstanzliches
Gericht seiner Vorlagepflicht nachkommen, wenn sich in einem bei ihm
schwebenden Verfahren eine Frage des Unionsrechts stellt, es sei denn, das
Gericht hat festgestellt, dass die gestellte Frage nicht entscheidungserheblich
ist, dass die betreffende unionsrechtliche Bestimmung bereits Gegenstand einer
Auslegung durch den Gerichtshof war (acte éclairé) oder dass die richtige
Anwendung des Unionsrechts derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen
Zweifel keinerlei Raum bleibt (acte clair) (vgl. auch BVerfGE 82, 159
<193>; 128, 157 <187>; 129, 78 <105 f.>; 140, 317 <376 Rn.
125>; 147, 364 <378 f. Rn. 37>). Davon darf das innerstaatliche
Gericht aber nur ausgehen, wenn es überzeugt ist, dass auch für die Gerichte
der übrigen Mitgliedstaaten und für den Gerichtshof der Europäischen Union die
gleiche Gewissheit bestünde. Nur dann darf das Gericht von einer Vorlage
absehen und die Frage in eigener Verantwortung lösen (vgl. EuGH, Urteil vom 6.
Oktober 1982, C.I.L.F.I.T., C-283/81, EU:C:1982:335, Rn. 16).
Diese
Grundsätze gelten auch für die unionsrechtliche Zuständigkeitsvorschrift des
Art. 267 Abs. 3 AEUV. Daher stellt nicht jede Verletzung der
unionsrechtlichen Vorlagepflicht zugleich einen Verstoß gegen Art. 101
Abs. 1 Satz 2 GG dar (vgl. BVerfGE 126, 286 <315>; 147, 364
<380 Rn. 40>). Das Bundesverfassungsgericht überprüft nur, ob die
Auslegung und Anwendung der Zuständigkeitsregel des Art. 267 Abs. 3
AEUV bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht
mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist (vgl. BVerfGE 126,
286 <315 f.>; 128, 157 <187>; 129, 78 <106>). Durch die
zurückgenommene verfassungsrechtliche Prüfung behalten die Fachgerichte bei der
Auslegung und Anwendung von Unionsrecht einen Spielraum eigener Einschätzung
und Beurteilung, der demjenigen bei der Handhabung einfachrechtlicher
Bestimmungen der deutschen Rechtsordnung entspricht. Das
Bundesverfassungsgericht wacht allein über die Einhaltung der Grenzen dieses
Spielraums (vgl. BVerfGE 126, 286 <316>). Ein "oberstes
Vorlagenkontrollgericht" ist es nicht (vgl. BVerfGE 126, 286 <316>;
135, 155 <231 f. Rn. 180>; 147, 364 <379 f. Rn. 39>; BVerfGK 13,
506 <512>; 14, 230 <233>; 16, 328 <336>; BVerfG, Beschluss
der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 9. November 1987 - 2 BvR 808/82 -, NJW
1988, S. 1456 [1457]).
Die
Vorlagepflicht nach Art. 267 AEUV zur Klärung der Auslegung
unionsrechtlicher Vorschriften wird in verfassungswidriger Weise gehandhabt,
wenn ein letztinstanzliches Gericht eine Vorlage trotz der - seiner Auffassung
nach bestehenden - Entscheidungserheblichkeit der unionsrechtlichen Frage
überhaupt nicht in Erwägung zieht, obwohl es selbst Zweifel hinsichtlich der
richtigen Beantwortung der Frage hat (grundsätzliche Verkennung der
Vorlagepflicht; vgl. BVerfGE 82, 159 <195 f.>; 126, 286 <316 f.>;
128, 157 <187 f.>; 129, 78 <106 f.>; 135, 155 <232 Rn. 181>;
147, 364 <380 Rn. 41>).
Gleiches gilt
in den Fällen, in denen das letztinstanzliche Gericht in seiner Entscheidung
bewusst von der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu entscheidungserheblichen
Fragen abweicht und gleichwohl nicht oder nicht neuerlich vorlegt (bewusstes
Abweichen von der Rechtsprechung des Gerichtshofs ohne Vorlagebereitschaft;
vgl. BVerfGE 75, 223 <245>; 82, 159 <195>; 126, 286 <316 f.>;
128, 157 <187 f.>; 129, 78 <106 f.>; 135, 155 <232 Rn. 182>;
147, 364 <381 Rn. 42>).
Liegt zu einer
entscheidungserheblichen Frage des Unionsrechts einschlägige Rechtsprechung des
Gerichtshofs der Europäischen Union noch nicht vor oder hat er die
entscheidungserhebliche Frage möglicherweise noch nicht erschöpfend beantwortet
oder erscheint eine Fortentwicklung der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht
nur als entfernte Möglichkeit (Unvollständigkeit der Rechtsprechung), so wird Art. 101
Abs. 1 Satz 2 GG verletzt, wenn das letztinstanzliche
Hauptsachegericht den ihm in solchen Fällen notwendig zukommenden
Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschritten hat (vgl. BVerfGE 82,
159 <195 f.>; 126, 286 <316 f.>; 128, 157 <187 f.>; 129, 78
<106 f.>; 135, 155 <232 f. Rn. 183>). Dies kann insbesondere dann
der Fall sein, wenn mögliche Gegenauffassungen zu der entscheidungserheblichen
Frage des Unionsrechts gegenüber der vom Gericht vertretenen Meinung eindeutig
vorzuziehen sind (vgl. BVerfGE 82, 159 <195 f.>; BVerfGK 10, 19
<29>). Jedenfalls bei willkürlicher Annahme eines "acte clair"
oder eines "acte éclairé" durch die Fachgerichte ist der
Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschritten (vgl. BVerfGE 135, 155
<232 f. Rn. 183>; 147, 364 <381 Rn. 43>).
In diesem
Zusammenhang ist auch zu prüfen, ob sich das Gericht hinsichtlich des
Unionsrechts ausreichend kundig gemacht hat. Etwaige einschlägige
Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union muss es auswerten und
seine Entscheidung hieran orientieren (vgl. BVerfGE 82, 159 <196>; 128,
157 <189>). Auf dieser Grundlage muss das Fachgericht unter Anwendung und
Auslegung des materiellen Unionsrechts (vgl. BVerfGE 75, 223 <234>; 128,
157 <188>; 129, 78 <107>) die vertretbare Überzeugung bilden, dass
die Rechtslage entweder von vornherein eindeutig ("acte clair") oder
durch Rechtsprechung in einer Weise geklärt ist, die keinen vernünftigen
Zweifel offenlässt ("acte éclairé"; vgl. BVerfGE 129, 78 <107>).
Hat es dies nicht getan, verkennt es regelmäßig die Bedingungen für die
Vorlagepflicht. Zudem hat das Fachgericht Gründe anzugeben, die dem
Bundesverfassungsgericht eine Kontrolle am Maßstab des Art. 101
Abs. 1 Satz 2 GG ermöglichen (vgl. BVerfGE 147, 364 <380 f. Rn.
41>; BVerfGK 8, 401 <405>; 10, 19 <30 f.>; BVerfG, Beschluss der
2. Kammer des Ersten Senats vom 9. Januar 2001 - 1 BvR 1036/99 -, Rn. 21;
Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 20. Februar 2008 - 1 BvR 2722/06
-; Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 25. Februar 2010 - 1 BvR
230/09 -, Rn. 19).
Bei den in der
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts genannten Fallgruppen handelt es
sich um eine nicht abschließende Aufzählung von Beispielen für eine
verfassungsrechtlich erhebliche Verletzung der Vorlagepflicht. Für die Frage
nach einer Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter gemäß
Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG durch Nichtvorlage an den Gerichtshof
der Europäischen Union kommt es im Ausgangspunkt nicht in erster Linie auf die
Vertretbarkeit der fachgerichtlichen Auslegung des für den Streitfall
maßgeblichen materiellen Unionsrechts - hier der DSGVO - an, sondern auf die
Beachtung oder Verkennung der Voraussetzungen der Vorlagepflicht nach der
Vorschrift des Art. 267 Abs. 3 AEUV, die den gesetzlichen Richter im
Streitfall bestimmt (vgl. BVerfGE 128, 157 <188>; BVerfG, Beschluss der
3. Kammer des Ersten Senats vom 25. Februar 2010 - 1 BvR 230/09 -, Rn. 20;
Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 30. August 2010 - 1 BvR 1631/08
-, Rn. 48).
b) Unter
Berücksichtigung dieser Grundsätze hat das Amtsgericht Art. 101
Abs. 1 Satz 2 GG verletzt, indem es von einem
Vorabentscheidungsersuchen wegen der zu klärenden Frage, ob im vom
Beschwerdeführer vorgetragenen Fall der datenschutzwidrigen Verwendung einer
Email-Adresse und der Übersendung einer ungewollten Email an das geschäftliche
Email-Konto des Beschwerdeführers nach Art. 82 Abs. 1 DSGVO ein
Schmerzensgeldanspruch des Beschwerdeführers in Betracht kommt.
aa) Das
Amtsgericht hätte nicht ohne Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der
Europäischen Union entscheiden dürfen, dass sich kein Anspruch des
Beschwerdeführers aus der ohne seine ausdrückliche Einwilligung erfolgten
Übersendung der Email aus Art. 82 DSGVO ergebe, weil ein Schaden nicht
eingetreten sei.
Der im
Ausgangsverfahren zu beurteilende Sachverhalt warf die Frage auf, unter welchen
Voraussetzungen Art. 82 Abs. 1 DSGVO einen Geldentschädigungsanspruch
gewährt und welches Verständnis dieser Vorschrift insbesondere im Hinblick auf
Erwägungsgrund 146 Satz 3 zu geben ist, der eine weite Auslegung des
Schadensbegriffs im Lichte der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen
Union verlangt, die den Zielen der DSGVO in vollem Umfang entspricht. Nach
Art. 82 Abs. 1 DSGVO hat jede Person, der wegen eines Verstoßes gegen
die DSGVO ein materieller oder immaterieller Schaden entstanden ist, Anspruch
auf Schadensersatz gegen den Verantwortlichen, also diejenige natürliche oder
juristische Person, Behörde, Einrichtung oder andere Stelle, die allein oder
gemeinsam mit anderen über die Zwecke und Mittel der Verarbeitung von
personenbezogenen Daten entscheidet (vgl. Art. 4 Nr. 7 DSGVO).
Dieser
Geldentschädigungsanspruch ist in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der
Europäischen Union weder erschöpfend geklärt noch kann er in seinen einzelnen,
für die Beurteilung des im Ausgangsverfahrens vorgetragenen Sachverhalts
notwendigen Voraussetzungen unmittelbar aus der DSGVO bestimmt werden. Auch in
der bislang vorliegenden Literatur, die sich im Hinblick auf Erwägungsgrund 146
wohl für ein weites Verständnis des Schadensbegriffes ausspricht, sind die
Details und der genaue Umfang des Anspruchs noch unklar (vgl. Gola/Piltz, in:
Gola, DSGVO, 2. Aufl., 2018, Art. 82 Rn. 12 f.; Quaas, in: BeckOK
Datenschutzrecht, 34. Ed., 11/2020, Art. 82 Rn. 23 f.; Bergt, in:
Kühling/Buchner, DSGVO BDSG, 3. Aufl., 2020, Art. 82 Rn. 17 f.; Boehm, in:
Simitis/Hornung/Spiecker gen. Döhmann, Datenschutzrecht, 1. Aufl., 2019,
Art. 82 Rn. 11 f.; Frenzel, in: Paal/Pauly, DSGVO BDSG, 2. Aufl., 2018,
Art. 82 Rn. 10). Von einer richtigen Anwendung des Unionsrechts, die
derart offenkundig ist, dass für vernünftige Zweifel kein Raum bliebe (acte
clair), konnte das Amtsgericht ebenfalls nicht ausgehen. Dies gilt umso mehr,
als Art. 82 DSGVO ausdrücklich immaterielle Schäden einbezieht.
bb) Die
angegriffene Entscheidung zeigt, dass das Amtsgericht die Problematik der
Auslegung des Art. 82 Abs. 1 DSGVO durchaus gesehen hat. Es hat
sodann aber verfassungsrechtlich relevant fehlerhaft eine eigene Auslegung des
Unionsrechts vorgenommen, indem es sich für die Ablehnung des Anspruchs auf ein
Merkmal fehlender Erheblichkeit gestützt hat, das so weder unmittelbar in der
DSGVO angelegt ist, noch von der Literatur befürwortet oder vom Gerichtshof der
Europäischen Union verwendet wird.
Gleiches gilt
für den vom Beschwerdeführer mit angegriffenen Beschluss des Amtsgerichts, mit
dem es die erhobene Gehörsrüge des Beschwerdeführers zurückgewiesen hat. Auch
hier rekurriert das Amtsgericht auf das Bestehen eines bislang ungeklärten
Merkmals eines Bagatellverstoßes im Rahmen des Art. 82 Abs. 1 DSGVO.
cc) Die
Antwort auf die Rechtsfrage, wie Art. 82 Abs. 1 DSGVO vor dem
Hintergrund von Erwägungsgrund 146 in Fällen der Übersendung einer Email ohne
Zustimmung auszulegen ist, war für die Entscheidung über den vom
Beschwerdeführer geltend gemachten Zahlungsanspruch entscheidungserheblich.
2. Die
Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2
BVerfGG.
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