Die Äste, von denen Nadeln und Zapfen abfallen, ragten von der 40-jährigen Schwarzkiefer seit 20 Jahren auf das Nachbargrundstück der Kläger. Nachdem diese die Äste nicht zurückschnitten, haben die Beklagten dann überhängende Äste selbst abgeschnitten. Die Kläger begehrten gerichtlich eine Unterlassung von Rückschnitt von Ästen oberhalb von 5m. Das Amtsgericht gab der Klage statt. Das Landgericht (LG), welches die Revision zuließ, wies die Berufung zurück. Die Revision führte Zur Aufhebung der Vorentscheidungen und Zurückverweisung an das Landgericht.
Fehlerhaft habe das LG bereits eine Duldungspflicht der Kläger iSv. § 1004 Abs. 2 BGB negiert, da es die Regelung des § 910 BGB für eine Beeinträchtigung durch den Nadel- und Zapfenabfall für nicht anwendbar gehalten habe. Allerdings stelle § 910 BGB eine spezialgesetzliche und abschließende Regelung für die Beseitigung von Überhang dar, die unmittelbare und mittelbare Beeinträchtigungen erfasse (BGH, Urteil vom 14.06.2019 – V ZR 102/18 -).
Das Selbsthilferecht wäre nur ausgeschlossen, wenn es an einer Beeinträchtigung ermangeln würde. Ob eine solche vorliegt sei objektiv festzustellen. Damit sei eine Beeinträchtigung bei einem in 5m Höhe 40cm hierüberragenden Ast zu verneinen (BGH, Urteil vom 14.11.2003 – V ZR 102/03 -). Die darlegungs- und Beweislast, dass von dem Baum keine Beeinträchtigung ausgehen, trage derjenige, auf dessen Grundstück der Baum stünde (BGH aaO.).
Eine Unzumutbarkeit könne nicht mit der Begründung geltend gemacht werden, bei Beseitigung des Überhangs drohe das Absterben des Baumes oder der Verlust seiner Standfestigkeit. Das Selbsthilferecht bestünde ohne Einschränkungen, wenn seine tatsächlichen Voraussetzungen vorlägen. Eingeschränkt würde es nach § 910 Abs. 2 BGB nur insoweit, als das Selbsthilferecht entfällt, wenn die Wurzeln oder Zweige das Nachbargrundstück nicht beeinträchtigen. Verhältnis- und Zumutbarkeitsprüfungen seien nach dem gesetzgeberischen Willen ausgeschlossen.
Das Recht aus § 910 BGB würde nicht durch nachbarschaftsrechtliche Landesregelungen ausgeschlossen, nach denen Ausschlussfristen bestehen (so § 32 NachbG Bln) und bei Nichteinhaltung von Mindestabständen (wie hier nach § 27 NachbG Bln) eine Klage auf Beseitigung nach fünf Jahren ausschließen würden. Nach Art. 124 EGBGB könnten die Regelungen nicht dem Nachbarn (hier beklagten) Rechte nehmen, die das BGB biete. Mithin könne das Landesrecht § 910 BGB nicht einschränken. Das selbsthilferecht des § 910 Abs. 1 S. 2 BGB begründe ein Recht und keinen Anspruch und unterliege daher nicht der Verjährung. Es sei auch nicht verwirkt, wenn kein Vertrauenstatbestand geschaffen worden sei, der Beklagte würde sein Recht nicht mehr geltend machen. Auch aus dem Gedanken des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis ergäben sich keine Einschränkungen; eine daraus abgeleitete Pflicht zur gegenseitigen Rücksichtnahme habe zur Voraussetzung, dass ein über die gesetzliche Regelung hinausgehender billiger Ausgleich der widerstreitenden Interessen dringend geboten erscheine (BGH, Urteil vom 20.09.2019 – V ZR 218/18 -), was dann nicht der Fall sei, wenn der Grundstückseigentümer einen auf seinem Grundstück stehenden Baum nicht – wie geboten – regelmäßig beschneide oder beschneiden ließe mit der Folge, dass dessen Äste auf das Nachbargrundstück hinüberwachsen.
Nur aus naturschutzrechtlichen Gründen könnte käme daher hier eine Beschränkung des Selbsthilferechts in Betracht, was das LG nicht geprüft habe. Von daher sei der Rechtstreit an das LG zurückzuverweisen.
BGH, Urteil vom 11.06.2021 -
V ZR 234/19 -
Aus den Gründen:
Tenor
Auf die
Revision des Beklagten wird das Urteil des Landgerichts Berlin - Zivilkammer 51
- vom 9. September 2019 aufgehoben.
Die Sache wird
zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des
Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts
wegen
Tatbestand
Die Parteien
sind Eigentümer benachbarter Grundstücke in B.
Auf dem
Grundstück der Kläger steht unmittelbar an der gemeinsamen Grenze seit rund 40
Jahren eine inzwischen etwa 15 Meter hohe Schwarzkiefer. Ihre Äste, von denen Nadeln
und Zapfen herabfallen, ragen seit mindestens 20 Jahren auf das Grundstück des
Beklagten hinüber. Nachdem der Beklagte die Kläger erfolglos aufgefordert
hatte, die Äste der Kiefer zurückzuschneiden, schnitt er überhängende Zweige
selbst ab. Mit der Klage verlangen die Kläger von dem Beklagten, es zu
unterlassen, von der Kiefer oberhalb von fünf Meter überhängende Zweige
abzuschneiden.
Das Amtsgericht
hat der Klage stattgegeben. Die Berufung des Beklagten hat das Landgericht
zurückgewiesen. Mit der von dem Landgericht zugelassenen Revision, deren
Zurückweisung die Kläger beantragen, möchte der Beklagte weiterhin die
Klageabweisung erreichen.
Entscheidungsgründe
I.
Nach Ansicht
des Berufungsgerichts steht den Klägern der geltend gemachte Unterlassungsanspruch
aus § 1004 Abs. 1 Satz 2 BGB zu. Das Abschneiden der Zweige
müssten sie weder nach § 910 BGB noch nach § 906 BGB dulden. Die
Vorschrift des § 910 BGB erfasse nur die unmittelbar von den überhängenden
Ästen ausgehende Beeinträchtigung. Der Beklagte berufe sich hingegen auf den
durch den Überwuchs verursachten erhöhten Nadel- und Zapfenbefall des
Grundstücks. Bei solchen mittelbaren Folgen des Überwuchses gelte der Maßstab
des § 906 BGB, der allgemein und abschließend die Zulässigkeit von Immissionen
regele. Danach müsse, damit der Beklagte den Rückschnitt herüberragender Äste
verlangen könne, der Laubabfall wesentlich und nicht ortsüblich sein.
Jedenfalls an letzterem fehle es.
II.
Das hält
rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
1. Mit
der von dem Berufungsgericht gegebenen Begründung kann ein Anspruch der Kläger
gegen den Beklagten auf Unterlassen gemäß § 1004 Abs. 1 Satz 2
BGB nicht bejaht werden.
a)
Rechtsfehlerfrei nimmt das Berufungsgericht allerdings an, dass der Beklagte
als unmittelbarer Handlungsstörer das Eigentum der Kläger an ihrem Grundstück
beeinträchtigt hat, indem er die auf sein Grundstück ragenden Zweige der
Schwarzkiefer abgeschnitten hat; die Wiederholungsgefahr ist indiziert. Dagegen
erhebt die Revision auch keine Einwände.
b) Zu
Unrecht verneint das Berufungsgericht aber eine Duldungspflicht der Kläger im
Sinne von § 1004 Abs. 2 BGB, weil es § 910 BGB für die
Beeinträchtigung durch den Nadel- und Zapfenabfall für nicht anwendbar hält und
stattdessen den Maßstab des § 906 BGB heranzieht. Der Senat hat kurz vor
Verkündung des angefochtenen Urteils entschieden, dass § 910 BGB für die
Beseitigung des Überhangs eine spezialgesetzliche und abschließende Regelung
darstellt, die nicht nur die unmittelbar durch den Überhang hervorgerufene
Beeinträchtigung der Grundstücksnutzung, sondern auch die mittelbare
Beeinträchtigung durch das Abfallen von Laub, Nadeln und Ähnlichem erfasst; der
Maßstab des § 906 BGB gilt hierfür nicht (vgl. Senat, Urteil vom 14. Juni
2019 - V ZR 102/18, ZfIR 2019, 851 Rn. 7 f.). Das Selbsthilferecht ist auch
dann nicht ausgeschlossen, wenn die über das Nachbargrundstück
hinausgewachsenen Äste auf dessen ortsüblicher Nutzung beruhen (Senat, Urteil
vom 14. Juni 2019 - V ZR 102/18, aaO Rn. 8).
2. Das
Berufungsurteil erweist sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig
(§ 561 ZPO).
a) Das
Selbsthilferecht ist, anders als die Revisionserwiderung meint, nicht wegen des
Ablaufs der in § 32 NachbG Bln bestimmten Ausschlussfrist ausgeschlossen.
Nach dieser Vorschrift ist der Anspruch gemäß § 31 NachbG Bln auf
Beseitigung von Anpflanzungen, die - wie hier - die vorgeschriebenen
Mindestabstände zum Nachbargrundstück (vgl. § 27 NachbG BIn) nicht einhalten,
ausgeschlossen, wenn der Nachbar nicht bis zum Ablauf des fünften auf das
Anpflanzen folgenden Kalenderjahres Klage auf Beseitigung erhoben hat. Eine
solche landesgesetzliche Ausschlussfrist kann, wie Art. 124 EGBGB zeigt,
zwar das Grundstückseigentum (hier der Kläger) zu Gunsten des Nachbarn
weitergehenden Beschränkungen unterwerfen, nicht aber umgekehrt dem Nachbarn
(hier dem Beklagten) Rechte nehmen, die sich für ihn aus dem Bürgerlichen
Gesetzbuch ergeben (vgl. Senat, Urteil vom 12. Dezember 2003 - V ZR 98/03, NJW
2004, 1035, 1037). Schon deshalb kann das Recht des Beklagten aus § 910
BGB nicht durch das Landesnachbarrecht eingeschränkt sein. Hinzu kommt, dass
sich das Selbsthilferecht des § 910 BGB in seinen Voraussetzungen und
Rechtsfolgen grundlegend von dem in § 31 NachbG Bln geregelten Anspruch
auf Beseitigung einer Anpflanzung unterscheidet. Zum einen setzt es einen
Überhang, also ein Herüberwachsen der Zweige bzw. Äste des Baumes, und eine
daraus folgende Beeinträchtigung des Nachbargrundstücks voraus, während der
Beseitigungsanspruch aus § 31 NachbG Bln nur voraussetzt, dass der
vorgeschriebene Mindestabstand zur Grundstücksgrenze nicht eingehalten ist. Zum
anderen erschöpft sich die Rechtsfolge des § 910 BGB darin, dem Nachbarn
zu gestatten, die überhängenden Zweige abzuschneiden. Die Beseitigung des
Baumes ist nicht Inhalt des Selbsthilferechts, auch wenn das Abschneiden der
Zweige im Einzelfall mittelbar zum Absterben des Baumes führen kann.
b)
Entgegen der Ansicht der Kläger ist das Selbsthilferecht des Beklagten aus
§ 910 Abs. 1 Satz 2 BGB - das kein Anspruch ist und daher nicht
der Verjährung unterliegt (vgl. Senat, Urteil vom 22. Februar 2019 - V ZR
136/18, MDR 2019, 608 Rn. 14; Staudinger/Roth, BGB [2020], § 910 Rn. 28) -
auch nicht verwirkt. Nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist
für die Annahme der Verwirkung eines Rechts neben dem reinen Zeitablauf
erforderlich, dass der Berechtigte durch sein gesamtes Verhalten bei dem
Verpflichteten das Vertrauen geschaffen hat, er werde sein Recht nicht mehr
geltend machen und dass dieser sich darauf eingerichtet hat; der
Vertrauenstatbestand kann nicht durch bloßen Zeitablauf geschaffen werden (vgl.
Senat, Urteil vom 15. Dezember 2017 - V ZR 275/16, NZM 2018, 909 Rn. 22 mwN).
Ein schutzwürdiges Vertrauen der Kläger darauf, dass der Beklagte sein Recht
aus § 910 BGB nicht geltend machen werde, hat das Berufungsgericht bislang
nicht festgestellt.
III.
Das
Berufungsurteil kann daher keinen Bestand haben; es ist aufzuheben. Der
Rechtsstreit ist an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, da er nicht zur
Endentscheidung reif ist (§ 562 Abs. 1, § 563 Abs. 1
Satz 1, Abs. 3 ZPO). Für das weitere Verfahren weist der Senat auf
Folgendes hin:
1. Das
Berufungsgericht wird nach dem Maßstab des § 910 BGB zu beurteilen haben,
ob die Kläger das Abschneiden der auf das Grundstück des Beklagten
herüberragenden Äste gemäß § 1004 Abs. 2 BGB zu dulden haben.
a) Nach
§ 910 Abs. 1 Satz 2 BGB kann der Eigentümer eines Grundstücks
herüberragende Zweige abschneiden, wenn er dem Besitzer des Nachbargrundstücks
eine angemessene Frist zur Beseitigung bestimmt hat und die Beseitigung nicht
innerhalb der Frist erfolgt. So liegt es hier. Das Berufungsgericht hat
festgestellt, dass die Äste der Schwarzkiefer über die Grenze auf das
Grundstück des Beklagten ragen und dieser mit Schreiben vom 17. Juli 2017 die
Kläger vergeblich aufforderte, die Äste zurückzuschneiden.
b) Das
Selbsthilferecht des Beklagten wäre nach § 910 Abs. 2 BGB nur
ausgeschlossen, wenn der Überhang die Benutzung seines Grundstücks nicht
beeinträchtigte.
aa) Nach
§ 910 Abs. 2 BGB steht dem Grundstückseigentümer das Selbsthilferecht
nach Absatz 1 nicht zu, wenn die herüberragenden Zweige die Benutzung des
Grundstücks nicht beeinträchtigen. In welchen Fällen keine Beeinträchtigung
vorliegt, entscheidet nicht das subjektive Empfinden des
Grundstückseigentümers; maßgebend ist vielmehr die objektive Beeinträchtigung
der Grundstücksbenutzung (Senat, Urteil vom 14. November 2003 - V ZR 102/03,
BGHZ 157, 33, 39; Urteil vom 14. Juni 2019 - V ZR 102/18, ZfIR 2019, 851 Rn.
7). So ist eine objektive Beeinträchtigung der Grundstücksnutzung etwa zu
verneinen bei einem in ca. 5 m Höhe ungefähr 0,4 m herüberragenden Zweig (vgl.
Senat, Urteil vom 14. November 2003 - V ZR 102/03, aaO). Die Darlegungs- und
Beweislast dafür, dass von den herüberragenden Ästen keine Beeinträchtigung
ausgeht, trägt der Nachbar, auf dessen Grundstück der Baum steht (vgl. Senat,
Urteil vom 14. November 2003 - V ZR 102/03, aaO).
bb) Das
Berufungsgericht hat - von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig - keine
Feststellungen dazu getroffen, ob, was die Kläger darzulegen und gegebenenfalls
zu beweisen hätten, die herüberhängenden Äste und Zweige die Nutzung des
Grundstücks des Beklagten nicht beeinträchtigten. In diesem Zusammenhang
obliegt es den Klägern insbesondere, den Vortrag des Beklagten zu widerlegen,
wonach die Menge der ganzjährig herabfallenden Nadeln ein Wachstum anderer
Pflanzen unterhalb der Schwarzkiefer unmöglich macht und die Nadeln den Boden säuern;
zudem fielen sie bis auf die Terrasse und den Wintergarten, wo sie sich an
schwer zugänglichen Stellen sammelten.
2. Die
Entfernung des Überhangs durch den Beklagten ist für die Kläger nicht deshalb
unzumutbar, weil - wie sie geltend machen - bei Beseitigung des Überhangs das
Absterben des Baums oder der Verlust seiner Standfestigkeit droht. Allerdings
ist umstritten, ob solche Risiken das Selbsthilferecht aus § 910 BGB
ausschließen oder jedenfalls einschränken.
a) Nach
verbreiteter Ansicht soll das Selbsthilferecht ausgeschlossen sein, wenn durch
dessen Ausübung der Baum derart geschädigt wird, dass er seine Standfestigkeit
verliert oder abzusterben droht. Dies wird unterschiedlich begründet.
aa)
Teilweise wird davon ausgegangen, dass es an einer Beeinträchtigung i.S.v.
§ 910 Abs. 2 BGB fehlt, wenn die Folgen, die die Beseitigung des
Überhangs für den Baum hat, außer Verhältnis stehen zu den von dem Überhang
ausgehenden Störungen, so dass die Beseitigung des Überhangs für den Nachbarn,
auf dessen Grundstück der Baum steht, unzumutbar sei. Dies sei insbesondere
dann der Fall, wenn die Beseitigung des Überhangs zu einem Absterben des Baumes
oder zu einer erhöhten Risikolage führte, weil die Maßnahme dann auf eine
verbotene Beseitigung des Baumes hinauslaufe (vgl. OLG Saarbrücken, OLGR 2007,
927, 929; OLG Köln, SchAZtg 2011, 246, 250; Lüke in Grziwotz/Lüke/Saller,
Praxishandbuch Nachbarrecht, 3. Aufl., 2. Teil Rn. 388; NK-BGB/Ring, 4. Aufl.,
§ 910 Rn. 44; i. Erg. ebenso LG Hamburg, ZMR 2016, 324, 326).
bb)
Vereinzelt wird angenommen, dass landesrechtliche Vorschriften das zum
Absterben des Baumes führende Abschneiden von Überhang ausschließen, wenn die
dort - wie etwa in § 32 NachbG Bln - vorgesehene Ausschlussfrist für den
Anspruch des Nachbarn auf die Beseitigung des Baumes abgelaufen ist (vgl.
Staudinger/Roth, BGB [2020], § 910 Rn. 35; anders allerdings ebd. Rn. 10
für Wurzeln).
cc)
Schließlich wird der Ausschluss des Selbsthilferechts auf das nachbarliche
Gemeinschaftsverhältnis gestützt (vgl. OLG Brandenburg, NJW 2018, 1975 Rn. 27;
BeckOK BGB/Fritzsche [1.5.2021], § 910 Rn. 10; Staudinger/Thole, BGB
[2019], § 1004 Rn. 117).
b) Nach
anderer Ansicht kann der beeinträchtigte Nachbar das Selbsthilferecht -
vorbehaltlich naturschutzrechtlicher Verbote - auch dann ausüben, wenn die
Beseitigung des Überhangs mit dem Risiko verbunden ist, dass der Baum abstirbt
oder seine Standfestigkeit verliert (vgl. BeckOGK/Vollkommer, BGB [15.2.2021],
§ 910 Rn. 17; RGRK/Augustin, BGB, 12. Aufl., § 910 Rn. 11; Dehner,
Nachbarrecht [September 2013], B § 21 I 2, S. 6 f.).
c) Der
Senat hält die letztgenannte Ansicht für richtig. Das Selbsthilferecht nach
§ 910 Abs. 1 BGB ist - vorbehaltlich naturschutzrechtlicher
Beschränkungen eines Rückschnitts - nicht deshalb ausgeschlossen, weil durch
die Beseitigung des Überhangs das Absterben des Baums oder der Verlust seiner
Standfestigkeit droht.
aa) Das
Selbsthilferecht aus § 910 Abs. 1 BGB besteht im Ausgangspunkt ohne
Einschränkungen, wenn seine tatbestandlichen Voraussetzungen vorliegen.
Beschränkt ist es allein dadurch, dass dem Eigentümer das Recht nach
Abs. 2 nicht zusteht, wenn die Wurzeln oder Zweige die Benutzung seines
Grundstücks nicht beeinträchtigen. Eine Verhältnismäßigkeits- oder
Zumutbarkeitsprüfung, mit der der Ausschluss des Selbsthilferechts teilweise
begründet wird (oben Rn. 19), ist gesetzlich nicht vorgesehen und widerspräche
den Vorstellungen des Gesetzgebers. Dieser hat sich bewusst für eine einfache
und allgemein verständliche Ausgestaltung des Selbsthilferechts entschieden,
die eine rasche Erledigung etwaiger Zwistigkeiten zwischen den Nachbarn
ermöglicht (vgl. Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch,
Bd. III S. 593). Diesem Ziel liefe es zuwider, wenn der durch den Überhang
beeinträchtigte Nachbar von dem Selbsthilferecht nur unter der Voraussetzung
Gebrauch machen dürfte, dass das Abschneiden der Wurzeln oder Zweige die
Standfestigkeit des Baumes nicht gefährdet noch aus sonstigen Gründen zum
Absterben des Baumes führen kann, was sich in vielen Fällen nicht ohne
Hinzuziehung eines sachverständigen oder zumindest sachkundigen Dritten
beurteilen lassen wird. Denn das Selbsthilferecht soll einfach handhabbar und
seine Ausübung nicht mit Haftungsrisiken belastet sein.
Zudem weist
§ 910 BGB die Verantwortung dafür, dass Baumwurzeln oder Zweige nicht über
die Grenzen des Grundstücks hinauswachsen, dem Eigentümer des Grundstücks zu,
auf dem der Baum steht; er ist hierzu im Rahmen der ordnungsgemäßen
Bewirtschaftung seines Grundstücks gehalten (vgl. Senat, Urteil vom 20.
September 2019 - V ZR 218/18, BGHZ 223, 155 Rn. 19 mwN). Kommt er dieser
Verpflichtung nicht nach und lässt er die Zweige des Baumes über die
Grundstücksgrenze wachsen, dann kann er später nicht unter Verweis darauf, dass
der Baum (nunmehr) droht, durch das Abschneiden der Zweige an der
Grundstücksgrenze seine Standfestigkeit zu verlieren oder abzusterben, von
seinem Nachbarn verlangen, das Abschneiden zu unterlassen und die
Beeinträchtigung des Grundstücks hinzunehmen.
bb) Eine
Einschränkung des Selbsthilferechts in diesen Fällen lässt sich auch nicht
damit begründen, dass anderenfalls eine bereits abgelaufene Ausschlussfrist für
einen etwaigen landesrechtlichen Anspruch auf Beseitigung des Baumes umgangen
werden könnte. Derartige Vorschriften in den Nachbargesetzen der Länder regeln
nicht ein Selbsthilferecht des beeinträchtigten Nachbarn in Bezug auf
überhängende Zweige oder eingedrungene Wurzeln, und sie könnten das im
Bürgerlichen Gesetzbuch in § 910 gewährte Selbsthilferecht zudem mangels
Gesetzgebungskompetenz des Landes nicht einschränken (siehe oben Rn. 9).
cc) Auch
aus dem nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis lässt sich eine Einschränkung des
Rechts des beeinträchtigten Nachbarn, überhängende Zweige abzuschneiden, nicht
herleiten. Nach ständiger Rechtsprechung des Senats haben die Rechte und
Pflichten von Grundstücksnachbarn insbesondere durch die Vorschriften der
§§ 905 ff. BGB und die Bestimmungen der Nachbarrechtsgesetze der Länder
eine ins Einzelne gehende Sonderregelung erfahren. Daneben kommt eine
allgemeine Pflicht zur gegenseitigen Rücksichtnahme aus dem Gesichtspunkt des
nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses nur dann zum Tragen, wenn ein über die
gesetzliche Regelung hinausgehender billiger Ausgleich der widerstreitenden
Interessen dringend geboten erscheint (Senat, Urteil vom 20. September 2019 - V
ZR 218/18, BGHZ 223, 155 Rn. 21 mwN). Dies ist, wenn der Grundstückseigentümer
einen auf seinem Grundstück stehenden Baum nicht - wie geboten - regelmäßig
beschneidet oder beschneiden lässt, mit der Folge, dass Äste und Zweige auf das
Nachbargrundstück hinüberwachsen, nicht der Fall. Denn er ist selbst für das
Risiko verantwortlich, welches das Abschneiden der über die Grundstücksgrenze
herüberragenden Äste für die Standfestigkeit seines Baumes hat (siehe oben Rn.
25).
3. Eine
Beschränkung der Befugnis des Beklagten, die auf sein Grundstück überhängenden
Zweige abzuschneiden, kann sich allerdings aus naturschutzrechtlichen
Regelungen ergeben. Insoweit wird das Berufungsgericht gegebenenfalls weitere
Feststellungen zu treffen haben.
a) Das
öffentliche Naturschutzrecht, auch Landes- und Gemeinderecht, kann dazu führen,
dass die Ausübung des Selbsthilferechts aus § 910 Abs. 1 Satz 2
BGB gehindert ist; insbesondere sind die Verbote wirksamer Baumschutzsatzungen
auch von dem Nachbarn zu beachten. Keinen Einschränkungen unterliegt die
Befugnis zur Ausübung des Selbsthilferechts des § 910 BGB hingegen, wenn
der beeinträchtigte Grundstückseigentümer mit Erfolg eine Ausnahmegenehmigung
für die Beseitigung der Störungsquelle beantragen kann. Ob das der Fall ist,
müssen die Zivilgerichte, ebenso wie das Bestehen des Verbots, selbständig
prüfen (vgl. zum Ganzen Senat, Urteil vom 14. Juni 2019 - V ZR 102/18, ZfIR
2019, 851 Rn. 14 f. mwN).
b) Das
Berufungsgericht hat nicht geprüft, ob der auf dem Grundstück der Kläger
stehende Baum nach den einschlägigen naturschutzrechtlichen Vorschriften,
namentlich nach der Verordnung zum Schutze des Baumbestandes in Berlin
(Baumschutzverordnung - GVBl. 1982, 250; zuletzt geändert durch Verordnung vom
8. Mai 2019, GVBl. S. 272) geschützt ist. Zu diesem Punkt, der bislang aus
Sicht des Berufungsgerichts keine Rolle gespielt hat, wird den Parteien
Gelegenheit zu ergänzendem Vortrag zu geben sein. Ergibt die anschließende
Prüfung, dass das Abschneiden der Zweige nach der Baumschutzverordnung
grundsätzlich verboten ist und eine Befreiungsmöglichkeit von dem Verbot nicht
besteht, ist das Selbsthilferecht des Beklagten aus § 910 Abs. 1
Satz 2 BGB ausgeschlossen. Wird die Befreiungsmöglichkeit dagegen bejaht,
hätten die Kläger das Abschneiden der Zweige unter der Voraussetzung zu dulden,
dass eine Ausnahmegenehmigung erteilt wird, was in dem Tenor zum Ausdruck
kommen müsste. Der Beklagte wäre dann befugt, selbst eine Ausnahme von dem
baumschutzrechtlichen Verbot zu beantragen und im Streit darüber den
Verwaltungsrechtsweg zu beschreiten (vgl. zum Ganzen Senat, Urteil vom 14. Juni
2019 - V ZR 102/18, ZfIR 2019, 851 Rn. 15 mwN).
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen