Sonntag, 24. Februar 2019

Prozessrecht: Das „nicht mit Gründen versehene Urteil“ bei Fristüberschreitung


Das Landgericht hatte der Klage der Versicherungsnehmer gegen die beklagte Gebäudeversicherung überwiegend stattgegeben. Im Rahmen der Berufung der Versicherung bestimmte das OLG Termin zur Verkündung einer Entscheidung (nach vorangegangener Verlegung desselben) auf den 20.04.2017. Es verkündete an diesem Tag ein Urteil (ohne Gründe), demzufolge unter Abänderung der landgerichtlichen Entscheidung die Klage insgesamt abgewiesen wurde. Gegen dieses Urteil legten die Kläger am 13.10.2017 Nichtzulassungsbeschwerde, hilfsweise Revision zum BGH ein. Das mit Gründen versehene Urteil des OLG gelangte gemäß Vermerk erst am 07.12.2017 zur Geschäftsstelle des OLG und wurde den Parteien am 11. bzw. 12.12.2017 zugestellt.

Die Revision führte zur Aufhebung des Urteils des OLG und Zurückverweisung des Rechtstreits an das OLG. Das Urteil sei mit einem wesentlichen Verfahrensmangel behaftet, da es iSv. § 547 Nr. 6 ZPO entgegen § 540 Abs. 1 S. 1 ZPO nicht mit Gründen versehen worden sei.

Der BGH verwies darauf, dass der absolute Revisionsgrund des § 547 Nr. 6 ZPO („wenn die Entscheidung entgegen den Bestimmungen dieses Gesetzes nicht mit Gründen versehen ist“) vorläge, wenn ein bei Verkündung noch nicht vollständig abgefasstes Urteil nicht binnen 5 Monaten nach seiner Verkündung schriftlich niedergelegt, von den Richtern besonders unterschrieben und der Geschäftsstelle übergeben worden sei (grundlegend BGH, Beschluss vom 27.04.2993 - GmS-OGB 1/92 -). Entscheidend hierfür sei die Erkenntnis, dass das richterliche Erinnerungsvermögen abnimmt und nach Ablauf von mehr als 5 Monaten nicht mehr gewährleistet sei, dass der Eindruck von der mündlichen Verhandlung und das Beratene noch zuverlässigen Niederschlag in den wesentlich später abgefassten Gründen finde. Zudem sei es auch der unterlegenen Partei nicht zumutbar, nach einer Verkündung länger als 5 Monate zu warten, um über eine etwaige mündliche Urteilsbegründung hinaus die detaillierten Gründe ihres Unterliegens zu erfahren.

Anmerkung: Das Rechtsmittel der Revision (und damit auch einer Nichtzulassungsbeschwerde) ist binnen einer Frist von einem Monat nach Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils einzulegen. Fehlt es an der Zustellung, läuft die absolute Revisionsfrist 5 Monate nach Verkündung des Urteils, § 548 ZPO. Es ist in der Regel angezeigt, rechtzeitig vor Ablauf der Frist der 5 Monate durch Erhebung einer Richterdienstaufsichtsbeschwerde den oder die erkennenden Richter deutlich auf das (drohende) Versäumnis hinzuweisen, um bei einem möglicherweise fristwahrenden Rechtsmittel im Falle dessen Unzulässigkeit (ggf. auch Unbegründetheit) Schadensersatzansprüche nach § 839 BGB geltend machen zu können.

BGH, Urteil vom 23.01.2019 - IV ZR 311/17 -


Aus den Gründen:


Tenor

Auf die Revision der Kläger wird das Urteil des 15. Zivilsenats in Kassel des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 20. April 2017 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Gerichtskosten für das Revisionsverfahren werden nicht erhoben.
Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf 32.005,86 € festgesetzt.
Von Rechts wegen

Tatbestand

Die Kläger nehmen den beklagten Versicherer auf Leistung aus einer Gebäudeversicherung in Anspruch. Das Landgericht hat der Klage überwiegend stattgegeben. Diese Entscheidung hat die Beklagte mit der Berufung angegriffen.
Das Oberlandesgericht hat auf die mündliche Verhandlung vom 15. März 2017 Termin zur Verkündung einer Entscheidung auf den 6. April 2017 bestimmt. Nach Verlegung des Verkündungstermins auf den 20. April 2017 hat es an diesem Tag ein Urteil ohne Gründe verkündet, mit dem es die Klage unter Abänderung des landgerichtlichen Urteils insgesamt abgewiesen hat. Am 13. Oktober 2017 haben die Kläger Nichtzulassungsbeschwerde, hilfsweise Revision gegen das Berufungsurteil eingelegt. Dieses ist ausweislich eines Vermerks der Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle in vollständiger Fassung am 7. Dezember 2017 zur Geschäftsstelle des Berufungsgerichts gelangt und den Parteien am 11. und 12. Dezember 2017 zugestellt worden.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision erstreben die Kläger Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet und führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht.
Das Berufungsurteil ist mit einem wesentlichen Verfahrensmangel behaftet, weil es im Sinne von § 547 Nr. 6 ZPO entgegen § 540 Abs. 1 Satz 1 ZPO nicht mit Gründen versehen ist; es ist daher auf die Rüge der Revision aufzuheben.
I. Nach gefestigter Rechtsprechung ist der absolute Revisionsgrund des § 547 Nr. 6 ZPO gegeben und ein bei Verkündung noch nicht vollständig abgefasstes Urteil "nicht mit Gründen versehen", wenn der notwendige Inhalt des Urteils nicht binnen fünf Monaten nach Verkündung schriftlich niedergelegt, von den Richtern besonders unterschrieben und der Geschäftsstelle übergeben worden ist (Senatsurteil vom 28. September 2011 - IV ZR 110/09, juris Rn. 6; BGH, Urteil vom 12. April 2016 - II ZR 261/15, juris Rn. 5; Beschluss vom 21. April 2015 - VI ZR 132/13, VersR 2015, 1445 Rn. 16; jeweils m.w.N.; grundlegend GmS-OGB, Beschluss vom 27. April 1993 - GmS-OGB 1/92, BVerwGE 92, 367, 371 ff. [juris Rn. 8 ff.]). Tragender Gesichtspunkt für diesen übergreifenden verfahrensrechtlichen Grundsatz ist die Erkenntnis, dass das richterliche Erinnerungsvermögen abnimmt und nach Ablauf von mehr als fünf Monaten nicht mehr gewährleistet ist, dass der Eindruck von der mündlichen Verhandlung und das Beratene noch zuverlässigen Niederschlag in den so viel später abgefassten Gründen der Entscheidung finden. Es geht mithin um die Vermeidung von Fehlerinnerungen und damit um Gründe der Rechtssicherheit (Senatsurteil vom 28. September 2011 aaO; BGH, Urteile vom 9. Juli 2009 - IX ZR 197/08, NJW-RR 2009, 1712 Rn. 8; vom 19. Mai 2004 - XII ZR 270/02, NJW-RR 2004, 1439 [juris Rn. 4]; jeweils m.w.N.). Außerdem ist es insbesondere der unterlegenen und an der Einlegung eines Rechtsmittels interessierten Partei nicht zuzumuten, nach der Verkündung eines Urteils länger als fünf Monate zu warten, um - über eine etwaige mündliche Urteilsbegründung hinaus - die detaillierten Gründe zu erfahren, die zu ihrem Unterliegen geführt haben (Senatsurteil vom 28. September 2011 aaO Rn. 7; BGH, Urteil vom 12. April 2016 aaO; GmS-OBG, Beschluss vom 27. April 1993 aaO S. 376 [juris Rn. 18]). Auf eine Rüge der Parteien haben die Gerichte deswegen bei Überschreitung der Fünfmonatsfrist ein Urteil, das wegen der Fristüberschreitung die Beurkundungsfunktion nicht mehr erfüllt und deswegen als "nicht mit Gründen versehen" gilt, aufzuheben (Senatsurteil vom 28. September 2011 aaO; BGH, Urteil vom 19. Mai 2004 aaO; GmS-OBG, Beschluss vom 27. April 1993 aaO S. 377 [juris Rn. 18]).
II. Das Berufungsurteil gilt wegen einer solchen Fristüberschreitung als nicht mit Gründen versehen. Es ist nach dem bei den Gerichtsakten befindlichen Verkündungsprotokoll vom 20. April 2017 an diesem Tage verkündet worden. Es hätte daher mit den nach § 540 Abs. 1 Satz 1 ZPO notwendigen Urteilsgründen spätestens binnen fünf Monaten nach der Verkündung, also bis zum 20. September 2017, schriftlich niedergelegt, vom Einzelrichter unterschrieben und der Geschäftsstelle übergeben sein müssen. Diese Frist ist nicht gewahrt. Ausweislich des Vermerks der Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle, für dessen Unrichtigkeit es keine Anhaltspunkte gibt (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 12. Juni 2001 - 5 StR 228/01, BeckRS 2001, 5469), ist das Berufungsurteil in vollständig abgefasster Form erst am 7. Dezember 2017 und damit lange nach Ablauf der Fünfmonatsfrist zur Geschäftsstelle gelangt.
Entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung genügt die entsprechende Verfahrensrüge der Revision auch den Begründungsanforderungen des § 551 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 b) ZPO (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 6. Februar 2014 - AnwZ(Brfg) 69/13, juris Rn. 8; siehe auch BSG, Beschluss vom 6. März 1996 - 9 RVg 3/94, juris Rn. 12). Das Datum der Übergabe des vollständig abgefassten Berufungsurteils an die Geschäftsstelle ergibt sich aus dem Vermerk auf der in den Gerichtsakten befindlichen beglaubigten Urteilsabschrift. Hierauf hat die Revisionsbegründung (§ 551 Abs. 3 Satz 2 ZPO) ausreichend Bezug genommen.
Das Berufungsgericht wird nochmals in der Sache zu verhandeln und zu entscheiden haben.
III. Nach § 21 Abs. 1 Satz 1 GKG werden Gerichtskosten für das Revisionsverfahren nicht erhoben.

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