Die Beschwerdeführerin (Mieterin) hatte in einem Räumungsrechtsstreit einen gerichtlichen Räumungsvergleich mit der Vermieterseite geschlossen und in diesem eine Räumung zu einem bestimmten Zeitpunkt vollstreckungsfähig erklärt und auf die Stellung von Räumungsschutzanträgen gem. § 794a Abs. 1, 2 ZPO verzichtet. Allerdings ist die Beschwerdeführerin dann nicht ausgezogen und hat einen Räumungsvollstreckungsschutzantrag gestellt über den bisher nicht rechtskräftig entschieden wurde (die Rechtsbeschwerde der Beschwerdeführerin gegen die Zurückweisung des Schutzantrages ist noch beim BGH anhängig). Zur Sicherung ihrer Position (des Besitzes an der Wohnung) stellte die Beschwerdeführerin auch einen Antrag auf einstweilige Aussetzung der Vollziehung des Räumungsvergleichs, §§ 570 Abs. 3 1. Halbs., 575 Abs. 4, 794a Abs. 1 ZPO. Der vom Amtsgericht abgelehnte Antrag wurde vom BGH als Rechtsbeschwerdegericht bewilligt unter der Voraussetzung der Zahlung der im Vergleich vereinbarten Bruttomiete durch die Beschwerdeführerin.
Der BGH wies darauf hin, er könne als Rechtsbeschwerdegericht auch im Wege der einstweiligen Anordnung die Vollziehung einer Entscheidung der ersten Instanz aussetzen, wenn dem Rechtsbeschwerdeführer bei einem Vollzug größere Nachteile drohen würden als dem Gegner, die Rechtsbeschwerde zudem zulässig erscheine und nicht von vornherein ohne Erfolgsaussicht sei.
Hier würden der Beschwerdeführerin bei einer Vollstreckung unwiederbringliche Nachteile durch den Verlust der Wohnung entstehen, vor dem sie in Ansehung eines mittels ärztlichen Attests belegten Schussverletzung am Kopf drei Monate nach Abschluss des Vergleichs und daraus noch andauernden besonderen persönlichen und gesundheitlichen Situation zu schützen sei. Zwar würde der Beschwerdegegner nach vorgelegten Unterlagen auch nicht unerhebliche Nachteile im Falle eines Verbleibs der Beschwerdeführerin in der Wohnung erleiden, doch würden die Nachteile der Beschwerdeführerin vorliegend überwiegen.
Die vom Beschwerdegericht zugelassene Rechtsbeschwerde gegen die Versagung des Räumungsschutzes sei form- und fristgerecht eingelegt worden (also zulässig). Es könnten ihr auch Erfolgsaussichten nicht abgesprochen werden. Die Frage, ob ein Verzicht auf Räumungsschutz nach § 794a Abs. 1, 2 ZPO in einem gerichtlichen Räumungsvergleich wirksam sei und ob er sich auf zum Zeitpunkt des Vergleichsabschlusses unvorhersehbare und unbekannte Härtegründe beziehe, sei umstritten und höchstrichterlich bisher nicht geklärt (BGH, Beschluss vom 28.10.2008 - VIII ZB 28/08 -). Daher könne hier ein Erfolg der Rechtsbeschwerde derzeit nicht verneint werden. Es kämen hier unter Umständen die Unwirksamkeit des Verzichts auf Räumungsschutz aus § 313 BGB (Wegfall vorausgesetzter künftiger Umstände) in Betracht, da nach dem Vortrag der Beschwerdeführerin nicht ausgeschlossen sei, dass die Geschäftsgrundlage aufgrund ihrer nachträglich eingetretenen und unvorhersehbaren gesundheitlichen Situation entfallen sei.
BGH, Beschluss vom
03.06.2022 - VIII ZB 44/22 -
Aus den Gründen:
Tenor
Die Zwangsvollstreckung aus dem vor dem Amtsgericht Bremen am 29. September
2021 geschlossenen Räumungsvergleich wird bis zur Entscheidung über die
Rechtsbeschwerde mit der Maßgabe eingestellt, dass die Zwangsvollstreckung
unzulässig bleibt, wenn die Beschwerdeführerin ab Juli 2022 die Zahlung der im
Vergleich vereinbarten Bruttomiete an den Beschwerdegegner vornimmt.
Gründe
Das Rechtsbeschwerdegericht kann im Wege der einstweiligen Anordnung nach
§ 570 Abs. 3 Halbs. 1, § 575 Abs. 5 ZPO auch die
Vollziehung einer Entscheidung der ersten Instanz aussetzen, wenn hierdurch dem
Rechtsbeschwerdeführer größere Nachteile drohen als dem Gegner, die
Rechtsbeschwerde zulässig erscheint und die Rechtsmittel des
Rechtsbeschwerdeführers nicht von vornherein ohne Erfolgsaussicht sind
(Senatsbeschlüsse vom 4. Februar 2010 - VIII ZB 84/09, WuM 2010, 252 Rn. 1; vom
18. Mai 2010 - VIII ZB 9/10, GE 2010, 1055; vom 15. November 2011 - VIII ZB
95/11, WuM 2011, 703 Rn. 1; vom 14. Februar 2012 - VIII ZB 3/12, WuM 2012, 158
Rn. 3; vom 28. September 2021 - VIII ZB 43/21, WuM 2022, 57 Rn. 1 mwN).
Entsprechendes gilt, wenn die Vollstreckung eines von der ersten Instanz
protokollierten Räumungsvergleichs droht (§ 794a Abs. 1 ZPO). Diese
Voraussetzungen sind hier erfüllt.
Durch die Vollstreckung des Räumungsvergleichs würde der Beschwerdeführerin
ein unwiederbringlicher Nachteil entstehen. Nach den von der Rechtsbeschwerde
vorgelegten Unterlagen befürchtet der Beschwerdegegner zwar ebenfalls nicht
unerhebliche Nachteile im Falle des vorläufigen Verbleibens der
Beschwerdeführerin in der Wohnung. Jedoch überwiegen diese Nachteile nicht die
von der Beschwerdeführerin zu vergegenwärtigenden Nachteile. Diese sieht sich
einem nicht rückgängig machbaren Verlust der Mietwohnung ausgesetzt. Vor einem
solchen Verlust ist sie einstweilen aufgrund ihrer durch die - mittels
ärztlicher Atteste belegte - drei Monate nach Abschluss des Räumungsvergleichs
erlittene Schussverletzung am Kopf hervorgerufenen und noch andauernden
besonderen persönlichen und gesundheitlichen Situation zu schützen.
Der nach § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 ZPO statthaften,
frist- und formgerecht eingelegten Rechtsbeschwerde ist in der Sache eine
Erfolgsaussicht nicht abzusprechen. Das Beschwerdegericht hat die Rechtsbeschwerde
vor dem Hintergrund zugelassen, dass die Fragen, ob der in einem
Räumungsvergleich erklärte Verzicht des Mieters auf Räumungsschutzanträge
(§ 794a Abs. 1, 2 ZPO) wirksam ist und ob er sich gegebenenfalls auch
auf unvorhersehbare und unbekannte Härtegründe erstreckt, umstritten sind und
höchstrichterlich noch keine Klärung erfahren haben (vgl. Senatsbeschluss vom
28. Oktober 2008 - VIII ZB 28/08, NJW-RR 2009, 422 Rn. 5). Angesichts dessen
kann die Erfolgsaussicht der Rechtsbeschwerde derzeit nicht verneint werden.
Je nach Beurteilung dieser Rechtsfragen könnte - wie die Rechtsbeschwerde
geltend macht - unter Umständen eine Unwirksamkeit des Verzichts auf
Räumungsschutz aus § 313 BGB (Wegfall vorausgesetzter künftiger Umstände)
in Betracht kommen. Denn die Beschwerdeführerin hat in der Beschwerdeinstanz
Tatsachen vorgetragen, die es als nicht ausgeschlossen erscheinen lassen, dass
die Geschäftsgrundlage aufgrund ihrer nachträglich eingetretenen und
unvorhersehbaren gesundheitlichen Situation entfallen ist.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen