Der 76-jährige schwerbehinderte Kläger war Fahrgast in einem Busanhänger. Durch ein Fahrmanöver des Beklagten mit dessen Pkw musste der Bus eine Vollbremsung vornehmen, aufgrund der der Kläger stürzte. Der Kläger begehrte vom Beklagten (und seinem Haftpflichtversicherer, § 115 Abs. 2 Nr. 1 VVG) wegen der durch den Sturz erlittenen Verletzungen Schmerzensgeld. Beklagtenseitig wurde u.a. bestritten, dass sich der Kläger einen ausreichenden Halt im Busanhänger verschafft hätte; er habe in der rechten Hand seinen Einkaufstrolley gehalten und den linken Arm und die linke Hand lediglich locker auf einem im Bus angebrachten Handlauf gelegt gehabt. Andere Fahrgäste seien auch nicht gestürzt. Die Mithaftung des Klägers nach § 14 Abs. 3 Nr. 4 BOKraft, § 4 Abs. 3 BefBedV wäre so hoch, dass eine Haftung der Beklagten ausscheide.
Das Amtsgericht nahm grundsätzlich eine Gefährdungshaftung des Beklagten und seines Versicherers nach §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 2, 1 PflVG, § 115 VVG gegenüber dem Kläger an, da die Fahrweise des Beklagten zum Sturz geführt habe. Nach der Videoaufzeichnung aus dem Innenraum des Busses sei ersichtlich, dass der Pkw nicht bei Beginn der kurzen Abbiegespur , sondern erst danach auf diese gewechselt habe und den Spurwechsel auch erst mit Beginn desselben mit dem Blinker abgekündigt habe, worauf der Busfahrer mit einer heftigeren Bremsung als aufgrund der roten Ampel ohnehin nötig reagiert habe. Es läge bei dem Beklagten ein Verstoß gegen § 7 Abs. 5 StVO vor.
Dies sah das Amtsgericht nicht als entscheidend an. Vielmehr ging es davon aus, dass auf Seiten des Klägers ein Mitverschulden (§§ 9 StVG, 254 BGB) vorläge, welches die Haftung des Beklagten vollkommen entfallen lassen würde. Dies folgerte das Amtsgericht aus der Pflicht des Fahrgastes nach § 14 Abs. 3 Nr. 4 BOKraft, demzufolge sich ein Fahrgast stets einen festen Halt zu verschaffen habe. Es handele sich hier um eine dem Schutz des Fahrgastes dienende Vorschrift, mit der insbesondere der Fahrgast davor bewahrt werden solle, bei Gefahrenbremsungen zu Fall zu kommen und sich zu verletzen; die Norm habe haftungsrechtliche Konsequenzen bei Nichtbeachtung.
Dabei käme es bei jedem einzelnen Fahrgast auf die individuellen Besonderheiten und Gegebenheiten an, die im Zeitpunkt des Bremsmanövers vorgelegen hätten (OLG München, Urteil vom 02.03.2006 - 24 U 617/05 -). Vorliegend habe der Beklagte, wie der Beklagte bewiesen habe, nicht in zumutbarer Weise für die eigene Sicherheit Sorge getragen:
Die von ihm eingenommene stehende Position sei nicht geeignet gewesen, um bei einer Bremssituation gesichert zu sein. Nach der Videoaufzeichnung hielt er sich lediglich mit der linken Hand an dem Handlauf fest und seine rechte Hand habe auf dem Einkaufstrolley geruht. Dies ei kein stabiler Stand und die linke Hand sei zu schwach, um ruckartige Bremsungen auszugleichen: der Trolley biete keinen Halt, da er bei einer Vollbremsung selbst herumgewirbelt würde 8wi auch das Video belege). Der Trolley sei eher eine Behinderung gewesen, da er vom Kläger auch nicht losgelassen worden sei, um auch mit der rechten Hand Halt zu finden.
Andere Fahrgäste seien auch nicht gestützt. Eine ältere Passagierin, die einen Sitzplatz direkt hinter dem Kläger belegte, soll sich an einer Stange festgehalten habe und (anders als ihre Tasche) nicht vom Sitz gerutscht sei. In Ansehung seines Alters (und einer Schwerbehinderung, allerdings nach seiner Angabe nur im Hinblick auf Asthma) und des Mitführens des Trolleys sei dem Kläger vorzuwerfen, dass er sich nicht hingesetzt habe, obwohl nach der Videoaufzeichnung direkt hinter dem Kläger ein Sitzplatz frei gewesen sei. Da der Kläger geistig fit sei, hätte er die Situation auch richtig einschätzen können.
Es habe sich auch nicht um eine völlig überraschende Vollbremsung gehandelt, da im Stadtverkehr mit solchen zu rechnen sei. Zudem sei 50 m vorher der Bus leicht abgebremst worden, wodurch der Kläger bereits hätte feststellen können, dass er nur ungenügenden Halt habe.
Damit habe sich der Kläger grob fahrlässig verhalten, weshalb die Betriebsgefahr demgegenüber zurücktrete.
AG München, Urteil vom 18.10.2024
- 338 C 15281/24 -
Aus den Gründen:
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten des
Rechtsstreits zu tragen.
3. Das Urteil ist vorläufig
vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung der Beklagten und der
Streithelferin durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des
Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagten bzw. die Streithelferin
vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden
Betrags leisten.
Beschluss
Der Streitwert wird auf 2.000,00 € festgesetzt.
Tatbestand
Der am
10.11.1946 geborene und gemäß Schwerbehindertenausweis (Anlage K1)
schwerbehinderte Kläger macht Schmerzensgeldansprüche aufgrund eines
Verkehrsunfalls vom 11.04.2023 in München geltend.
Er befand sich
als Fahrgast in einem Busanhänger der Linie 53 in Richtung Aidenbachstraße,
welcher an einen Bus angehängt war. Der Beklagte zu 1 wechselte mit einem
Leih-Pkw mit dem amtlichen Kennzeichen ..., haftpflichtversichert bei der
Beklagten zu 2, gegen 18:30 Uhr auf der Straße Donnersbergerbrücke auf die
Rechtsabbiegerspur, auf welche der Bus kurz darauf ebenfalls wechselte, und
bremste sodann infolge der nunmehr Rotlicht zeigenden Ampel. Aufgrund der
Vollbremsung des Busses stürzte der Kläger.
Der Kläger
behauptet, der Beklagte zu 1 habe mit seinem Pkw so knapp vor dem Bus die
Fahrspur gewechselt, dass der Busfahrer kurz vor der Kreuzung zur Landsberger
Straße eine Vollbremsung habe machen müssen, um die drohende Kollision zu
vermeiden. Der Beklagte zu 1 habe dazu beschleunigt, um sich noch vor den Bus
zu setzen. Auch der Bus sei mit unangemessener Geschwindigkeit gefahren, da er
noch über die grüne Ampel habe fahren wollen. Der Kläger behauptet weiter, er
habe Prellungen im Bereich der Brustwirbelsäule und des Beckens erlitten. Bei
dem Versuch sich abzustützen sei zudem das Daumensattelgelenk überdehnt worden.
Er habe 4 Wochen unter Schmerzen und schmerzhaften Bewegungseinschränkungen
gelitten. Bis heute sei er nicht beschwerdefrei.
Der Kläger hat
mit Klageerhebung der B. GmbH, für welche der Busfahrer, der Zeuge K.,
arbeitete, den Streit verkündet. Diese ist dem Rechtsstreit beigetreten,
allerdings auf Seiten der Beklagten.
Der Kläger beantragt:
I. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger ein angemessenes Schmerzensgeld, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, einen Betrag i. H. v. 2.000,00 € jedoch nicht unterschreiten sollte nebst Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz der Europäischen Zentralbank seit dem 12.10.2023 zu zahlen.
II. Die Beklagten werden ferner samtverbindlich verurteilt, als Nebenforderung an den Kläger die noch zu erstattenden außergerichtlichen Anwaltskosten i. H. v. 280,60 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz der Europäischen Zentralbank seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
Die Beklagten und die Streithelferin beantragen,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagten
behaupten, der Beklagte zu 1 habe den Fahrstreifenwechsel rechtzeitig
angekündigt. Er sei mit dem Fahrzeug in ausreichendem Abstand vor dem Bus
gewechselt und habe sein Fahrzeug an der roten Ampel abgebremst. Ebenfalls
bestreiten sie, dass der Kläger sich ausreichend Halt verschafft habe, dass er
zum Unfallzeitpunkt gestanden habe, kein weiterer Platz im Bus frei gewesen sei
und er um einen freien Platz gebeten habe, ihm ein solcher aber nicht gewährt
worden sei. Die Mithaftung des Klägers wegen Verstoßes gegen § 14
Abs. 3 Nr. 4 BOKraft, 4 Abs. 3 BefBedV wäre im Übrigen so hoch,
dass eine Haftung der Beklagtenseite ausscheide. Die Beklagte bestreitet zudem,
dass die behaupteten Beschwerden aus dem Unfall resultieren. Aus den
vorgelegten ärztlichen Attesten ergäbe sich, dass der Kläger unter
degenerativen Erkrankungen in diesem Bereich bereits vor dem Unfall gelitten
habe. Es sei davon auszugehen, dass bereits vor dem behaupteten Sturzereignis
die behaupteten Beschwerden in diesen Bereichen vorhanden gewesen seien und
diese nicht unfallkausal seien.
Die
Streithelferin behauptet ebenfalls, dass der Kläger sich zum Zeitpunkt der
Bremsung keinen festen Halt verschafft habe, da er in der rechten Hand seinen
Einkaufstrolley gehalten habe und den linken Arm und die linke Hand lediglich
locker auf einem im Bus angebrachten Handlauf gelegt habe. So seien die anderen
Fahrgäste nicht gestürzt. Schließlich sei das angesetzte Schmerzensgeld zu
hoch.
Das Gericht hat
den Kläger und den Beklagten zu 1 persönlich informatorisch angehört. Des
Weiteren hat es den Zeugen F. vernommen.
In der
Verhandlung wurden zudem die Videos von der Unfallsituation der Businnenkamera,
welche als CD-ROM vorliegt, sowie der Buscockpitkamera, welche auf die Straße
gerichtet ist und als Anhang zum Schriftsatz des Klägervertreters vom 27.6.24
in ForumStar gespeichert ist, in Augenschein genommen.
Die Akte der
VPI ... München ... wurde des Weiteren zum Gegenstand der mündlichen
Verhandlung gemacht.
Der
Klägervertreter hat auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens zum
Unfallhergang, sowie die Vernehmung des Zeugen K. verzichtet.
Hinsichtlich
des weiteren Sachverhalts wird Bezug genommen auf die Schriftsätze der
Parteien, die Beiakte und insbesondere die Videoaufnahmen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige
Klage ist unbegründet.
Grundsätzlich
kommt zwar eine Gefährdungshaftung der Beklagten gemäß §§ 7 Absatz 1,
18 I StVG, 1 PfVG, 115 VVG gegenüber dem Kläger in Betracht.
Bei einem
berührungslosen Unfall ist Voraussetzung für die Zurechnung des Betriebs eines
Kraftfahrzeugs zu einem schädigenden Ereignis, dass es über seine bloße
Anwesenheit an der Unfallstelle hinaus durch seine Fahrweise oder sonstige
Verkehrsbeeinflussung zu der Entstehung des Schadens beigetragen hat, vgl. BGH,
Urteil vom 22.11.2016 – VI ZR 533/15).
Vorliegend trug
die Fahrweise des Beklagten zum Sturz des Klägers bei.
Denn auf dem
übermittelten und in der Verhandlung eingesehenen Video aus dem Businnenraum
ist ersichtlich, dass der Beklagte zu 1 nicht bei Beginn der ohnehin kurzen
Abbiegespur, sondern erst danach auf diese wechselte und auch diesen
Spurwechsel erst mit dem Beginn des Spurwechsels durch Betätigung des Blinkers
ankündigte. Hierdurch dürfte sich der Bremsweg für den Busfahrer, den Zeugen
K., verkürzt haben. Dieser dürfte aufgrund des Spurwechsels mit einer
heftigeren Bremsung als - aufgrund der roten Ampel ohnehin nötig – reagiert
haben.
§ 7
Abs. 5 StVO legt demjenigen, der einen Fahrstreifen wechseln will oder ihn
auch nur teilweise verlässt, ein Höchstmaß an Sorgfaltspflicht auf. Unerheblich
ist insofern, ob der Fahrstreifenwechsel schon vollständig vollzogen war. Nach
§ 7 V StVO ist nicht nur jedes behindernde oder gefährdende Wechseln
untersagt, sondern jedes, bei welchem fremde Gefährdung nicht ausgeschlossen
werden kann (vgl. Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke/Heß, 26. Aufl. 2020, StVO
§ 7 Rn. 21).
Letztlich kann
dies jedoch dahinstehen, da den Kläger nach hiesiger Auffassung ein
100-prozentiges Mitverschulden im Sinne der §§ 9 StVG, 254 BGB trifft,
wodurch die Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs zurücktritt.
So ist jeder
Fahrgast verpflichtet, sich im Fahrzeug stets einen festen Halt zu verschaffen,
vergleiche § 14 Abs. 3 Nummer 4 BOKraft.
Die Vorschrift
dient dem Schutz der Fahrgäste. Sie will sie insbesondere davor bewahren, dass
sie bei Gefahrenbremsungen zu Fall kommen und sich verletzen, hat aber
haftungsrechtliche Konsequenzen bei Nichtbeachtung, vgl. Häberle in
Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, Werkstand: 252. EL Juni 2024, Rn
16.
Hierbei kommt
es bei jedem einzelnen Fahrgast wiederum auf die individuellen Besonderheiten
und Gegebenheiten an, die im Zeitpunkt des vorgenommenen Bremsmanövers vorlagen
(vgl. hierzu: OLG München, NZV 2006, 477).
Den Beklagten
ist insoweit der Beweis gelungen, dass der Kläger vorliegend nicht in
zumutbarer Weise für die eigene Sicherheit sorgte.
Die klägerseits
eingenommene stehende Position war nicht geeignet, um bei einer Bremssituation
gesichert zu sein.
Vorliegend
zeigt das in der Verhandlung eingesehenen Video der Businnenkamera, dass der
Kläger sich lediglich mit der linken Hand an dem Handlauf festhielt und seine
rechte Hand auf dem mitgeführten Einkaufstrolley ruhte. Der Kläger bestätigte
nach anfänglichem Bestreiten auch, dass das Video die Unfallsituation
wiedergibt.
Bei der vom
Kläger gewählten Position handelt es sich nicht um einen stabilen Stand, wie
die Richterin in einem Selbstversuch ausprobierte. Die Stabilisierung mit der
linken Hand ist zu schwach, um ruckartige Bremsungen auszugleichen. Der Trolley
bietet keinen Halt, da er selbst bei der Vollbremsung herumgewirbelt wird, wie
auf dem Video zu sehen ist. Der Trolley stellte eher eine Behinderung dar, weil
der Kläger ihn auch während des Sturzes nicht losließ und sich daher auch mit
der rechten Hand keinen festen Halt suchte.
Dies zeigt sich
auch daran, dass keine anderen Passagiere im Rahmen der Vollbremsung stürzten,
soweit auf den eingesehenen Videos der Businnenkamera zu sehen ist. Vielmehr
hielt sich beispielsweise die ältere Dame, welche einen der Sitzplätze direkt
hinter dem Kläger belegt hatte, an der dortigen Stange fest und rutschte (im
Gegensatz zu ihrer Tasche) nicht von ihrem Sitz.
So ist dem
Kläger - auch aufgrund seines Alters und des Mitführens des Trolleys -
vorzuwerfen, dass er sich nicht hingesetzt hat.
Wie auf dem
Video zu sehen ist, waren ausreichend Sitzplätze vorhanden, auch wenn der
Kläger das Gegenteil behauptete. Direkt hinter dem Kläger war beispielsweise
ein Sitzplatz frei, welcher überdies eine Haltestange zum Festhalten geboten
hätte. Hier hätte der Kläger sich hinsetzen können und gleichfalls seinen
Trolley neben oder vor sich positionieren können. So war der Kläger zum
Unfallzeitpunkt 76 Jahre alt und schwerbehindert, vergleiche Anlage K1, wenn
diese Schwerbehinderung auch - gemäß eigener Aussage - auf Asthma beruht.
Es handelt sich
hier auch nicht um eine völlig überraschende - wenn auch heftige -
Vollbremsung, da im Stadtverkehr regelmäßig mit heftigen Bremsungen gerechnet
werden muss. Hinzu kommt, dass der Bus unstreitig bereits ca. 50 m vorher
leicht gebremst hatte, wodurch der Kläger hätte feststellen können, dass seine
Position ungenügenden Halt verschaffte.
Der Kläger wäre
auch in der Lage gewesen, die Situation richtig einzuschätzen, da er geistig
fit wirkte.
Der
Klägervertreter verzichtete im Übrigen auf die Einholung eines
unfallanalytischen Sachverständigengutachtens und die Vernehmung des Zeugen K..
Dieses war auch nicht von Amts wegen einzuholen.
Das grob
fahrlässige Verhalten des Klägers lässt die Betriebsgefahr des
Beklagtenfahrzeugs zurücktreten.
Die
Nebenforderungen teilen das Schicksal der Hauptforderung.
Die
Kostenentscheidung folgt aus §§ 91, 101 ZPO; die Entscheidung über die
Vollstreckbarkeit aus §§ 708 Nummer 11, 711 ZPO.
Der Streitwert
beruht auf der Hauptforderung.
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