Der Kläger hatte sein Fahrzeug vorwärts in einer Grundstückseinfahrt abgestellt, die sich in einer Einbahnstraße (rechtwinklig in Fahrtrichtung) befand. Die Beklagte zu 1. (Fahrerin) war mit ihrem Fahrzeug an dieser Grundstückseinfahrt vorbeifahren und wollte gegenüber der Grundstückseinfahrt in einer freigewordenen, sich parallel zur Fahrbahn befindlichen Parklücke einparken. Die Fahrzeuge stießen zusammen, als der Kläger rückwärts aus der Grundstückseinfahrt auf die Straße auffuhr, die Beklagte rückwärts in die Parklücke einparken wollte. Der Kläger machte eggen die Beklagten Schadensersatzansprüche wegen einer Schädigung seines Fahrzeugs an der linken Seite geltend, auf den die Versicherung des von der Beklagten zu 1. geführten Fahrzeugs, die Beklagte zu 2., vorgerichtlich bereits 40% zahlte; mit der Klage begehrte der Kläger die restlichen 60%. Das Amtsgericht gab der Klage in der Hauptforderung statt; die Berufung der Beklagten führte zur Aufhebung des Urteils und Klageabweisung. Auf die zugelassene Revision hob der BGH das landgerichtliche Berufungsurteil auf und verwies den Rechtsstreit an dieses zurück.
Das Berufungsgericht, welches von einer Haftung des Klägers von 60% ausgegangen war, habe nach Ansicht des BGH eine Abwägung der beiderseitigen Verursachungsbeiträge rechtsfehlerhaft nach §§ 17 Abs. 1, 18 Abs. 3 StVG vorgenommen.
Bei der gebotenen Abwägung hätte berücksichtigt werden müssen, dass die Beklagte zu 1. Die Einbahnstraße unzulässig rückwärts befahren habe (Verstoß gegen das durch VZ 220 iVm. § 41 Abs. 2 StVO angeordnete Gebot). Für den Verstoß käme es nicht auf die Stellung des Fahrzeuges im Verhältnis zur vorgeschriebenen Fahrtrichtung an, lediglich auf das Rückwärtsfahren entgegen der Fahrtrichtung. Lediglich (unmittelbarer) Rückwärtseinparken („Rangieren“) sei ebenso wie ein Rückwärtsfahren aus einem Grundstück auf die Straße kein unzulässiges Rückwärtsfahren auf Richtungsfahrbahnen gegen die Fahrtrichtung. Rückwärtsfahren ist aber auch dann unzulässig, wenn es erst dazu dienen würde, zu einer freien oder freiwerdenden Parklücke zu gelangen; gleiches gelte aber auch dann, wenn das Rückwärtsfahren dazu diene, einem Fahrzeug die Ausfahrt aus einer Parklücke zu ermöglichen, um anschließend diese zu nutzen. Nach den Feststellungen des Tatgerichts sei hier die Beklagte zu 1. einige Meter rückwärts gefahren, um ein Fahrzeug ausparken zu lassen.
Entgegen der Annahme des Landgerichts könne hier auch nicht ein Anscheinsbeweis für einen schuldhaften Verstoß gegen §§ 9 Abs. 5 und 10 S. 1 StVO des Klägers angenommen werden. Zwar sei die Beklagte zu 1 ein „andrer Verkehrsteilnehmer“ im Sinne dieser Normen (BGH, Urteil vom 17,01.2023 - VI ZR 203/22 -), allerdings greife hier entgegen der vom Berufungsgericht vertretenen Ansicht nicht der Anscheinsbeweis zu Lasten des Klägers für einen schuldhaften Verstoß gegen §§ 9 Abs. 5, 10 S. 1 StVO.
Der Anscheinsbeweis erfordere einen typischen Geschehensablauf, der nach der Lebenserfahrung en Schluss auf einen ursächlichen Zusammenhang oder ein schuldhaftes Verhalten rechtfertige. Bei einem Verkehrsunfall müsse sich nach allgemeiner Lebenserfahrung der Schluss aufdrängen, dass ein Verkehrsteilnehmer seine Pflicht zur Beachtung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt verletzt habe, wobei es sich um einen Sachverhalt handeln müsse, für den nach der Lebenserfahrung eine schuldhafte Verursachung typisch sei. Das „Kerngeschehen“ reiche als Grundlage bei Kenntnis weiterer Umstände nicht aus, die als Besonderheiten gegen die bei derartigen Fallgestaltungen gegebene Typizität sprechen würden. Es müsse der gesamte Lebenssachverhalt die Typizität widerspiegeln. Die Beurteilung sie nur bei Betrachtung aller tatsächlichen Elemente des Gesamtgeschehens möglich, die sich aus unstreitigen Parteivortrag und den getroffenen Feststellungen ergeben würden. Grundsätzlich sei Zurückhaltung bei der Annahme eines Anscheinsbeweises geboten, da ein Rückschluss auf ein ursächliches oder schuldhaftes Verhalten erfolge, ohne dass im konkreten Fall die Ursache bzw. das Verschulden festgestellt werde (BGH, Urteil vom 15.12.2015 – VI ZR 6/15 -).
Damit greife vorliegend kein Anscheinsbeweis zu Lasten des Klägers für einen schuldhaften Verstoß gegen §§ 9 Abs. 5, 10 S. 1 StVO. Zwar könne bei einem rückwärts aus einem Grundstück Fahrenden der erste Anschein dafür sprechen, dass ein Sorgfaltsverstoß und mithin eine (Mit-) Verursachung des Unfalls vorliege. Allerdings fehle es hier schon an der erforderlichen Typizität, da die Beklagte zu 1. die Einbahnstraße unzulässig in entgegengesetzter Fahrtrichtung rückwärts befahren habe. Es existiere aber kein Erfahrungssatz, wonach sich der Schluss aufdränge, dass unter diesen Umständen den rückwärts aus der Grundstückseinfahrt auf die Einbahnstraße Einfahrenden ein Verschulden treffe (z.B. OLG Düsseldorf, Urteil vom 15.05.2012 – 1 U 127/11 -).
Für das weitere Verfahren wies der BGH darauf hin, dass bei der Prüfung eines Verstoßes des Klägers gegen §§ 9 Abs. 5, 10 S. 1 StVO zu berücksichtigen sei, dass der Kläger grundsätzlich nicht damit rechnen musste, dass Teilnehmer am fließenden Verkehr die Einbahnstraße in entgegengesetzter Fahrtrichtung nutzen würden, es sei denn, es lägen besondere Umstände vor (BGH, Urteil vom 06.10.1981 – VI ZR 296/79 ; dort zur Disziplinlosigkeit von Fahrrad- und Mopedfahrern und der Nutzung von Radwegen in entgegengesetzter Fahrtrichtung).
BGH, Urteil vom 10.10.2023 -
VI ZR 287/22 -
Aus den Gründen:
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das
Urteil der 22. Zivilkammer des Landgerichts Düsseldorf vom 2. September 2022
aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Landgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Der Kläger
nimmt die Beklagten nach einem Verkehrsunfall auf Ersatz weiteren materiellen
Schadens in Anspruch.
Der Kläger
hatte sein Fahrzeug vorwärts in einer Grundstückszufahrt abgestellt, die sich
an einer Einbahnstraße rechtwinklig in Fahrtrichtung rechts befindet. Die
Beklagte zu 1 war mit einem bei der Beklagten zu 2 haftpflichtversicherten
Fahrzeug in Fahrtrichtung der Einbahnstraße an der Grundstückszufahrt
vorbeigefahren. Sie hielt im Bereich einer gerade freiwerdenden Parklücke, die
sich links parallel zur Fahrbahn befindet und etwa auf Höhe der
Grundstückszufahrt beginnt, um in diese einzufahren. Die Fahrzeuge stießen
zusammen, als der Kläger aus der Grundstückszufahrt rückwärts in einem
Rechtsbogen auf die Einbahnstraße fuhr und die Beklagte zu 1 auf der
Einbahnstraße einige Meter rückwärts fuhr, um dem aus der Parklücke
herausfahrenden Fahrzeug Platz zu machen. Das Fahrzeug des Klägers wurde an der
linken Seite beschädigt.
Der Kläger
behauptet, er habe bereits gestanden und vorwärts weiterfahren wollen, als die
Beklagte zu 1 rückwärts gefahren sei. Die Beklagten behaupten, die Beklagte zu
1 und der Kläger seien zeitgleich rückwärts gefahren.
Vorgerichtlich
regulierte die Beklagte zu 2 die unstreitigen Schadenspositionen des Klägers
auf der Grundlage einer Haftungsquote der Beklagten von 40 %. Mit seiner Klage
macht der Kläger die restlichen 60 % geltend.
Das Amtsgericht
hat der Klage - bis auf einen Teil der geltend gemachten Zinsen - stattgegeben.
Auf die Berufung der Beklagten hat das Landgericht das Urteil des Amtsgerichts
abgeändert und die Klage abgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision
verfolgt der Kläger seinen Klageantrag weiter.
Entscheidungsgründe
I.
Das
Berufungsgericht hat ausgeführt, die Abwägung der Verursachungsbeiträge der
Unfallbeteiligten ergebe eine Haftung des Klägers von 60 %.
Für das
Verschulden des Klägers stritten zwei Anscheinsbeweise. Der Kläger habe gegen
§ 10 Satz 1 StVO verstoßen, indem er die Vorfahrt der Beklagten zu 1
missachtet habe. Er sei rückwärts aus einer Einfahrt auf die insoweit
vorfahrtsberechtigte Einbahnstraße eingefahren und im Zeitpunkt der Kollision
noch nicht Teil des fließenden Verkehrs gewesen. Zwar sei die Beklagte zu 1 vor
der Kollision rückwärts auf der Einbahnstraße gefahren, um einem ausparkenden
Fahrzeug Platz zu machen und diesen Parkplatz dann selbst zu nutzen. Das
Rückwärtsfahren sei auch nicht zwingend für den Einparkvorgang (z.B. zum
Erreichen des passenden Winkels) notwendig gewesen. Die Beklagte zu 1 hätte,
nachdem ihr zugesichert worden sei, dass der Parkplatz in Kürze frei würde, die
Einbahnstraße weiter in der zugelassenen Fahrtrichtung befahren können, um dann
"einmal um den Block zu fahren" und dann den Parkvorgang zu beginnen.
Jedoch sei die Beklagte zu 1 vom Schutzbereich des § 10 Satz 1 StVO
erfasst. Der Kläger hätte einkalkulieren müssen, dass möglicherweise ein
Fahrzeug die Einbahnstraße entgegen der vorgesehenen Richtung befahre.
Der Kläger habe
zudem gegen § 9 Abs. 5 StVO verstoßen. Zwar könne nicht festgestellt
werden, ob das Fahrzeug des Klägers zum Zeitpunkt des Zusammenstoßes gestanden
habe oder rückwärts gefahren sei. Der Anscheinsbeweis spreche jedoch auch gegen
den Zurücksetzenden, wenn er zum Kollisionszeitpunkt bereits zum Stehen
gekommen sei, jedoch ein enger zeitlicher und räumlicher Zusammenhang mit dem
Zurücksetzen gegeben sei. Der Unfall habe sich im fließenden Verkehr ereignet.
Für ein längeres Stehen des Klägers fehlten konkrete Anhaltspunkte.
Für das
Verschulden der Beklagten zu 1 streite der Anscheinsbeweis aufgrund eines
Verstoßes gegen § 9 Abs. 5 StVO. Dem Sorgfaltsmaßstab sei die
Beklagte zu 1 nicht gerecht geworden, da sie den Verkehrsraum hinter dem von
ihr geführten Fahrzeug nicht ausreichend beobachtet und sich auch nicht
vergewissert habe, dass der Verkehrsraum frei gewesen sei. Das klägerische
Fahrzeug habe sie erstmals wahrgenommen, als es zur Kollision gekommen sei.
Die Beklagte zu
1 habe hingegen nicht gegen das Gebot, die Einbahnstraße nur in der
vorgeschriebenen Fahrtrichtung zu befahren, verstoßen (Anlage 2 Zeichen 220,
§ 41 Abs. 1 StVO). Sie sei lediglich einige Meter rückwärts gefahren.
Zwar sei dies nicht allein im Rahmen des Rangierens beim Rückwärtseinparken
erfolgt, sondern sei darüber hinausgegangen, um dem ausparkenden Fahrzeug Platz
zu machen. Das Rückwärtsfahren sei jedoch eine Behelfsmaßnahme und daher auf
Einbahnstraßen auf kurzer Strecke zulässig.
II.
Diese
Erwägungen halten revisionsrechtlicher Prüfung nicht stand. Mit der Begründung
des Berufungsgerichts kann ein weitergehender Anspruch des Klägers gegen die
Beklagten aus § 7 Abs. 1, § 18 Abs. 1 StVG in Verbindung
mit § 115 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VVG nicht verneint werden.
Die Ausführungen des Berufungsgerichts zur Abwägung der beiderseitigen
Verursachungsbeiträge nach § 17 Abs. 1, § 18 Abs. 3 StVG
sind rechtsfehlerhaft.
1. Die
Entscheidung über eine Haftungsverteilung im Rahmen des § 254 BGB oder des
§ 17 StVG ist grundsätzlich Sache des Tatrichters und im
Revisionsverfahren nur darauf zu überprüfen, ob der Tatrichter alle in Betracht
kommenden Umstände vollständig und richtig berücksichtigt und der Abwägung
rechtlich zulässige Erwägungen zugrunde gelegt hat. Die Abwägung ist aufgrund
aller festgestellten, d.h. unstreitigen, zugestandenen oder nach § 286 ZPO
bewiesenen Umstände des Einzelfalls vorzunehmen, wenn sie sich auf den Unfall
ausgewirkt haben; in erster Linie ist hierbei das Maß der Verursachung von
Belang, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben; ein
Faktor bei der Abwägung ist dabei das beiderseitige Verschulden (vgl.
Senatsurteile vom 17. Januar 2023 - VI ZR 203/22, NJW 2023, 1361 Rn. 29; vom 8.
März 2022 - VI ZR 1308/20, NJW 2022, 1810 Rn. 8 mwN).
2. Wie
die Revision zu Recht beanstandet, hätte bei der Abwägung berücksichtigt werden
müssen, dass die Beklagte zu 1 die Einbahnstraße in unzulässiger Weise
rückwärts befuhr. Denn entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts verstieß
die Beklagte zu 1 gegen das durch das Vorschriftszeichen 220 in Verbindung mit
§ 41 Abs. 1 StVO angeordnete Gebot. Das Vorschriftszeichen 220
gebietet, dass die Einbahnstraße nur in vorgeschriebener Fahrtrichtung befahren
werden darf. In der Gegenrichtung steht sie dem Fahrzeugverkehr auf der
Fahrbahn grundsätzlich nicht zur Verfügung (vgl. Senatsurteil vom 6. Oktober
1981 - VI ZR 296/79, NJW 1982, 334, juris Rn. 10). Auf die Stellung des
Fahrzeugs im Verhältnis zur vorgeschriebenen Fahrtrichtung kommt es nicht an.
Verboten ist auch das Rückwärtsfahren entgegen der vorgeschriebenen
Fahrtrichtung (vgl. OLG Düsseldorf, NJW-RR 2018, 657, 658, juris Rn. 22; OLG
Karlsruhe, DAR 1978, 171). Lediglich (unmittelbares) Rückwärtseinparken
("Rangieren") ist - ebenso wie Rückwärtseinfahren aus einem
Grundstück auf die Straße - kein unzulässiges Rückwärtsfahren auf
Richtungsfahrbahnen gegen die Fahrtrichtung (vgl. OLG Düsseldorf, NJW-RR 2018,
657, 658, juris Rn. 20; VGH Baden-Württemberg, Justiz 2017, 355, juris Rn. 5;
Ternig, VD 2018, 208). Demgegenüber ist Rückwärtsfahren auch dann unzulässig,
wenn es dazu dient, erst zu einer (freien oder freiwerdenden) Parklücke zu
gelangen (vgl. OLG Düsseldorf, NJW-RR 2018, 657, 658, juris Rn. 22; OLG
Karlsruhe, DAR 1978, 171; König in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht
47. Aufl., § 9 StVO Rn. 51, § 41 StVO Rn. 248b; a.A. Burmann in
Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, Straßenverkehrsrecht 27. Aufl., § 9 StVO
Rn. 67; Freymann in Geigel, Haftpflichtprozess 28. Aufl., Kap. 27 Rn. 306).
Entsprechendes gilt, wenn das Rückwärtsfahren dazu dient, einem Fahrzeug die
Ausfahrt aus einer Parklücke zu ermöglichen, um anschließend selbst in diese
einfahren zu können. Nach den getroffenen Feststellungen fuhr die Beklagte zu 1
einige Meter rückwärts, um einem ausparkenden Fahrzeug Platz zu machen.
3.
Ebenfalls rechtsfehlerhaft ist die auf einen Anscheinsbeweis gestützte Annahme
des Berufungsgerichts, dass der Kläger schuldhaft gegen § 9 Abs. 5,
§ 10 Satz 1 StVO verstieß.
a) Zwar
ist entgegen der Auffassung der Revision das Berufungsgericht zutreffend davon
ausgegangen, dass im vorliegenden Fall neben § 10 Satz 1 StVO auch
§ 9 Abs. 5 StVO anzuwenden ist (vgl. dazu Senatsurteil vom 15. Mai
2018 - VI ZR 231/17, NJW 2018, 3095 Rn. 12). Weiter ändert das Rückwärtsfahren
der Beklagten zu 1 nichts daran, dass sie grundsätzlich ein "anderer
Verkehrsteilnehmer" im Sinne von § 9 Abs. 5 und § 10
Satz 1 StVO war (vgl. dazu Senatsurteile vom 17. Januar 2023 - VI ZR
203/22, NJW 2023, 1361 Rn. 33; vom 15. Mai 2018 - VI ZR 231/17, NJW 2018, 3095
Rn. 12; a.A. Freymann in Geigel, Haftpflichtprozess 28. Aufl., Kap. 27 Rn. 303,
310; Burmann in Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, Straßenverkehrsrecht 27. Aufl.,
§ 10 StVO Rn. 2).
b)
Allerdings rügt die Revision zu Recht die Annahme des Berufungsgerichts, dass
der Anscheinsbeweis für einen schuldhaften Verstoß des Klägers gegen § 9
Abs. 5, § 10 Satz 1 StVO spricht.
aa) Die
Frage, ob ein Anscheinsbeweis eingreift, unterliegt der Prüfung durch das
Revisionsgericht (vgl. Senatsurteile vom 1. August 2023 - VI ZR 82/22, juris
Rn. 26; vom 13. Dezember 2016 - VI ZR 32/16, NJW 2017, 1177 Rn. 9 mwN). Ein
Anscheinsbeweis kommt in Betracht, wenn ein typischer Geschehensablauf
feststeht, der nach der Lebenserfahrung den Schluss auf einen ursächlichen
Zusammenhang oder ein schuldhaftes Verhalten rechtfertigt (vgl. Senatsurteil
vom 1. August 2023 - VI ZR 82/22, juris Rn. 26; Senatsbeschluss vom 28. Februar
2023 - VI ZR 98/22, NJW-RR 2023, 700 Rn. 12; jew. mwN).
Die Anwendung
des Anscheinsbeweises setzt auch bei Verkehrsunfällen einen Geschehensablauf
voraus, bei dem sich nach der allgemeinen Lebenserfahrung der Schluss
aufdrängt, dass ein Verkehrsteilnehmer seine Pflicht zur Beachtung der im
Verkehr erforderlichen Sorgfalt verletzt hat; es muss sich um einen Sachverhalt
handeln, für den nach der Lebenserfahrung eine schuldhafte Verursachung typisch
ist. Es reicht allerdings allein das "Kerngeschehen" als solches dann
als Grundlage eines Anscheinsbeweises nicht aus, wenn weitere Umstände des
Unfallereignisses bekannt sind, die als Besonderheiten gegen die bei derartigen
Fallgestaltungen gegebene Typizität sprechen. Denn es muss das gesamte
feststehende Unfallgeschehen nach der Lebenserfahrung typisch dafür sein, dass
derjenige Verkehrsteilnehmer, zu dessen Lasten im Rahmen des Unfallereignisses
der Anscheinsbeweis Anwendung finden soll, schuldhaft gehandelt hat. Ob der
Sachverhalt in diesem Sinne im Einzelfall wirklich typisch ist, kann nur
aufgrund einer umfassenden Betrachtung aller tatsächlichen Elemente des
Gesamtgeschehens beurteilt werden, die sich aus dem unstreitigen Parteivortrag
und den getroffenen Feststellungen ergeben. Zudem ist bei der Anwendung des
Anscheinsbeweises grundsätzlich Zurückhaltung geboten, weil er es erlaubt, bei
typischen Geschehensabläufen aufgrund allgemeiner Erfahrungssätze auf einen
ursächlichen Zusammenhang oder ein schuldhaftes Verhalten zu schließen, ohne
dass im konkreten Fall die Ursache bzw. das Verschulden festgestellt ist (vgl. Senatsurteil
vom 15. Dezember 2015 - VI ZR 6/15, NJW 2016, 1098 Rn. 14 mwN).
bb)
Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts spricht kein Anscheinsbeweis für
einen schuldhaften Verstoß des Klägers gegen § 9 Abs. 5, § 10
Satz 1 StVO.
Zwar kann bei
einem Unfall im Zusammenhang mit dem Rückwärtseinfahren aus einem Grundstück
auf eine Straße grundsätzlich der erste Anschein dafür sprechen, dass der
rückwärts Einfahrende seinen Sorgfaltspflichten nicht nachkam und den Unfall
dadurch (mit)verursachte. Jedoch liegt hier die für die Anwendung des
Anscheinsbeweises erforderliche Typizität schon deshalb nicht vor, weil die
Beklagte zu 1 die Einbahnstraße in unzulässiger Weise rückwärts befuhr. Es
existiert kein Erfahrungssatz, wonach sich der Schluss aufdrängt, dass unter
diesen Umständen den rückwärts aus der Grundstückszufahrt auf die Einbahnstraße
einfahrenden Kläger ein Verschulden trifft (vgl. OLG Köln, VersR 1992, 332,
333; Freymann in Geigel, Haftpflichtprozess 28. Aufl., Kap. 27 Rn. 319; siehe
weiter OLG Düsseldorf, Urteil vom 15. Mai 2012 - 1 U 127/11, juris Rn. 37 f.;
König in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht 47. Aufl., § 10 StVO
Rn. 11 f.; Scholten, ZfSch 2022, 252).
Auf die von der
Revision erörterte Frage, welche (tatbestandlichen) Feststellungen zu den
zeitlichen und örtlichen Verhältnissen sowie zum Fahren und Stehen der
Fahrzeuge getroffen worden sind und welche rechtlichen Konsequenzen sich daraus
ergeben, kommt es danach für die revisionsrechtliche Prüfung nicht mehr an
(vgl. zum Rückwärtsfahren bei Parkplatzunfällen Senatsurteil vom 11. Oktober
2016 - VI ZR 66/16, NJW 2017, 1175 Rn. 8 ff. mwN; siehe weiter Scholten, ZfSch
2022, 252).
III.
Das
Berufungsurteil ist aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO). Die Sache ist zur
neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen
(§ 563 Abs. 1 ZPO).
Bei der Prüfung
eines Verstoßes des Klägers gegen § 9 Abs. 5, § 10 Satz 1
StVO wird zu berücksichtigen sein, dass er grundsätzlich nicht mit Teilnehmern
des fließenden Verkehrs auf der Einbahnstraße rechnen musste, die diese in
unzulässiger Richtung nutzten. Dies wäre nur der Fall gewesen, wenn besondere
Umstände vorgelegen hätten (vgl. Senatsurteil vom 6. Oktober 1981 - VI ZR
296/79, NJW 1982, 334, juris Rn. 14).
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