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Freitag, 1. Dezember 2023

Rückwärtsfahren in Einbahnstraße und Haftung (§§ 9 Abs. 5, 10 S. 1 StVO)

Der Kläger hatte sein Fahrzeug vorwärts in einer Grundstückseinfahrt abgestellt, die sich in einer Einbahnstraße (rechtwinklig in Fahrtrichtung) befand. Die Beklagte zu 1. (Fahrerin) war mit ihrem Fahrzeug an dieser Grundstückseinfahrt vorbeifahren und wollte gegenüber der Grundstückseinfahrt in einer freigewordenen, sich parallel zur Fahrbahn befindlichen Parklücke einparken. Die Fahrzeuge stießen zusammen, als der Kläger rückwärts aus der Grundstückseinfahrt auf die Straße auffuhr, die Beklagte rückwärts in die Parklücke einparken wollte. Der Kläger machte eggen die Beklagten Schadensersatzansprüche wegen einer Schädigung seines Fahrzeugs an der linken Seite geltend, auf den die Versicherung des von der Beklagten zu 1. geführten Fahrzeugs, die Beklagte zu 2., vorgerichtlich bereits 40% zahlte; mit der Klage begehrte der Kläger die restlichen 60%. Das Amtsgericht gab der Klage in der Hauptforderung statt; die Berufung der Beklagten führte zur Aufhebung des Urteils und Klageabweisung. Auf die zugelassene Revision hob der BGH das landgerichtliche Berufungsurteil auf und verwies den Rechtsstreit an dieses zurück.

Das Berufungsgericht, welches von einer Haftung des Klägers von 60% ausgegangen war, habe nach Ansicht des BGH eine Abwägung der beiderseitigen Verursachungsbeiträge rechtsfehlerhaft nach §§ 17 Abs. 1, 18 Abs. 3 StVG vorgenommen.

Bei der gebotenen Abwägung hätte berücksichtigt werden müssen, dass die Beklagte zu 1. Die Einbahnstraße unzulässig rückwärts befahren habe (Verstoß gegen das durch VZ 220 iVm. § 41 Abs. 2 StVO angeordnete Gebot). Für den Verstoß käme es nicht auf die Stellung des Fahrzeuges im Verhältnis zur vorgeschriebenen Fahrtrichtung an, lediglich auf das Rückwärtsfahren entgegen der Fahrtrichtung. Lediglich (unmittelbarer) Rückwärtseinparken („Rangieren“) sei ebenso wie ein Rückwärtsfahren aus einem Grundstück auf die Straße kein unzulässiges Rückwärtsfahren auf Richtungsfahrbahnen gegen die Fahrtrichtung. Rückwärtsfahren ist aber auch dann unzulässig, wenn es erst dazu dienen würde, zu einer freien oder freiwerdenden Parklücke zu gelangen; gleiches gelte aber auch dann, wenn das Rückwärtsfahren dazu diene, einem Fahrzeug die Ausfahrt aus einer Parklücke zu ermöglichen, um anschließend diese zu nutzen. Nach den Feststellungen des Tatgerichts sei hier die Beklagte zu 1. einige Meter rückwärts gefahren, um ein Fahrzeug ausparken zu lassen.

Entgegen der Annahme des Landgerichts könne hier auch nicht ein Anscheinsbeweis für einen schuldhaften Verstoß gegen §§ 9 Abs. 5 und 10 S. 1 StVO des Klägers angenommen werden. Zwar sei die Beklagte zu 1 ein „andrer Verkehrsteilnehmer“ im Sinne dieser Normen (BGH, Urteil vom 17,01.2023 - VI ZR 203/22 -), allerdings greife hier entgegen der vom Berufungsgericht vertretenen Ansicht nicht der Anscheinsbeweis zu Lasten des Klägers für einen schuldhaften Verstoß gegen §§ 9 Abs. 5, 10 S. 1 StVO.

Der Anscheinsbeweis erfordere einen typischen Geschehensablauf, der nach der Lebenserfahrung en Schluss auf einen ursächlichen Zusammenhang oder ein schuldhaftes Verhalten rechtfertige. Bei einem Verkehrsunfall müsse sich nach allgemeiner Lebenserfahrung der Schluss aufdrängen, dass ein Verkehrsteilnehmer seine Pflicht zur Beachtung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt verletzt habe, wobei es sich um einen Sachverhalt handeln müsse, für den nach der Lebenserfahrung eine schuldhafte Verursachung typisch sei. Das „Kerngeschehen“ reiche als Grundlage bei Kenntnis weiterer Umstände nicht aus, die als Besonderheiten gegen die bei derartigen Fallgestaltungen gegebene Typizität sprechen würden. Es müsse der gesamte Lebenssachverhalt die Typizität widerspiegeln. Die Beurteilung sie nur bei Betrachtung aller tatsächlichen Elemente des Gesamtgeschehens möglich, die sich aus unstreitigen Parteivortrag und den getroffenen Feststellungen ergeben würden. Grundsätzlich sei Zurückhaltung bei der Annahme eines Anscheinsbeweises geboten, da ein Rückschluss auf ein ursächliches oder schuldhaftes Verhalten erfolge, ohne dass im konkreten Fall die Ursache bzw. das Verschulden festgestellt werde (BGH, Urteil vom 15.12.2015 – VI ZR 6/15 -).

Damit greife vorliegend kein Anscheinsbeweis zu Lasten des Klägers für einen schuldhaften Verstoß gegen §§ 9 Abs. 5, 10 S. 1 StVO. Zwar könne bei einem rückwärts aus einem Grundstück Fahrenden der erste Anschein dafür sprechen, dass ein Sorgfaltsverstoß und mithin eine (Mit-) Verursachung des Unfalls vorliege. Allerdings fehle es hier schon an der erforderlichen Typizität, da die Beklagte zu 1. die Einbahnstraße unzulässig in entgegengesetzter Fahrtrichtung rückwärts befahren habe. Es existiere aber kein Erfahrungssatz, wonach sich der Schluss aufdränge, dass unter diesen Umständen den rückwärts aus der Grundstückseinfahrt auf die Einbahnstraße Einfahrenden ein Verschulden treffe (z.B. OLG Düsseldorf, Urteil vom 15.05.2012 – 1 U 127/11 -).

Für das weitere Verfahren wies der BGH darauf hin,  dass bei der Prüfung eines Verstoßes des Klägers gegen §§ 9 Abs. 5, 10 S. 1 StVO zu berücksichtigen sei, dass der Kläger grundsätzlich nicht damit rechnen musste, dass Teilnehmer am fließenden Verkehr die Einbahnstraße in entgegengesetzter Fahrtrichtung nutzen würden, es sei denn, es lägen besondere Umstände vor (BGH, Urteil vom 06.10.1981 – VI ZR 296/79 ; dort zur Disziplinlosigkeit von Fahrrad- und Mopedfahrern und der Nutzung von Radwegen in entgegengesetzter Fahrtrichtung).

BGH, Urteil vom 10.10.2023 - VI ZR 287/22 -

Freitag, 25. November 2022

Gilt „Rechts vor Links“ auch bei Fahrt entgegen der Einbahnstraße ?

Die Fahrerin des Pkw des Klägers bog nach links in eine Straße ab. Zu dieser Zeit befuhr der Zweibeklagte die Straße, in die die das klägerische Fahrzeug einbog um letztlich in gleicher Fahrtrichtung weiterzufahren, wie der klägerische Pkw nach seinem Einbiegen. Bis zu der Einmündung der Straße, aus der der klägerische Pkw auf die vom Beklagtenfahrzeug genutzte Straße einfuhr, war die vom Beklagtenfahrzeug genutzte Straße eine Einbahnstraße, die das Beklagtenahrzeug entgegen der erlaubten Fahrtrichtung befuhr; erst ab der Einmündung war ein Befahren in beiden Fahrtrichtungen zulässig. Im Kreuzungsbereich kollidierten die Fahrzeuge.

Der Kläger klagte auf Erstattung des ihm entstandenen Schadens zu 100%. Das Amtsgericht gab der Klage in Höhe von 50% statt. Die dagegen vom Kläger eingelegte Berufung wurde vom Landgericht zurückgewiesen. Für keine der Parteien sei der Verkehrsunfall unabwendbar iSv. § 17 Abs. 2 StVG gewesen; beiden Parteien (Fahrern) sei ein Verschuldensvorwurf zu machen.

Das schuldhafte Verhalten der Beklagtenseite sei der Verstoß des Beklagten zu 2. als Fahrer des Fahrzeugs gegen Zeichen 220 zu § 41 Abs. 2 Nr. 2 StVO, wobei dahinstehen könne und müsse (diesbezüglich sei kein Vortrag erfolgt), ob der Beklagte zu 2. Auch gegen Zeichen 267 StVO (Verbot der Einfahrt in die Straße) verstoßen habe. Jedenfalls sei der Beklaget zu 2. bei der ursprünglichen Einfahrt in die Straße an dem Zeichen 220 voreigekommen, welches allen Verkehrsteilnehmern auf der Fahrbahn die Fahrtrichtung vorschreibe. Auch wenn er dies bei der ursprünglichen Einfahrt in die Straße übersehen oder vergessen habe, begrüne dies einen Fahrlässigkeitsvorwurf. Der Verstoß sei auch mitursächlich gewesen, da es ohne diesen Verstoß nicht zu dem Verkehrsunfall gekommen wäre. Zudem habe der Beklagte zu 2., informatorisch angehört, angegeben, auf aus seiner Sicht von links kommenden Verkehr nicht geachtet zu haben, was einen Verstoß gegen § 1 Abs. 2 StVO darstelle, da er damit habe rechnen müssen, dass ein Kraftfahrer die Einbahnstraße in die Gegenrichtung befahre.

Ein unfallursächliches Verschulden auf Klägerseite läge darin begründet, dass die Fahrerin nach dem Bewies des ersten Anscheins gegen das Gebot des § 8 Abs. 1 S. 1 StVO verstoßen habe. Das Beklagtenfahrzeug sei aus Sicht des klägerischen Fahrzeugs von rechtsgekommen. Dem Vorfahrtsrecht des Beklagtenfahrzeugs würde nicht entgegen stehen, dass dieses die in diesem Bereich als Einbahnstraße ausgeschilderte Straße in verbotener Fahrtrichtung befahren wurde. Zwar habe der BGH ein Vorfahrtsrecht ein Vorfahrtsrecht ausgeschlossen, wenn es schon an einem Recht zum Fahren ermangele (BGH, Urteil vom 06.10.1981 - VI ZR 296/79 -). Dem könne aber „inzwischen für die vorliegende Fallgestaltung nicht gefolgt werden“, da dies inkonsequent wäre. Auch derjenige, der unter Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot links fahre behalte nach der Rechtsprechung des BGH sein Vorfahrtsrecht (BGH, Urteil vom 19.09.1974 - III ZR 73/72 -). Auch würde das Vorfahrtsrecht nicht tangiert, wenn der Vorfahrtsberechtigte eine für ihn (nicht allgemein) gesperrte Straße nutze (zu denken wäre hier an Anliegerstraßen o.ä.).  Seit 1977 könnten zudem Einbahnstraße für den Radverkehr in beide Fahrtrichtungen geöffnet werden; mithin habe ein Radfahrer (wobei es sich nicht notwendig um Zweiräder handeln müsse) der die Einbahnstraße berechtigt entgegen der Einbahnstraße entgegen der Fahrtrichtung befahre in diesem Fall die Vorfahrt gegenüber von links kommenden Fahrzeugen. Angesehen davon dürfe der nach § 8 Abs. 1 S. 1 StVO Wartepflichtige nicht darauf vertrauen, dass aus der verbotenen Richtung überhaupt kein Fahrzeug käme; er müsse schon aus Rücksicht auf etwaige Anlieger oder Vorrechtsfahrzeuge (§ 35 Abs. 1 StVO: Polizei, Feuerwehr pp.) die Fahrbahn in beiden Fahrtrichtungen beobachten.

Die Revision wurde nicht zugelassen, da keine grundsätzliche Bedeutung bestünde. Auch würde die Zulassung nicht aus Gründen der Fortbildung des Rechts geboten sein, da es für die rechtliche Beurteilung typischer oder verallgemeinerungsfähiger Lebenssachverhalte an einer richtungsweisenden Orientierungshilfe ermangele. Die Entscheidung des BGH vom 06.10.1981 - VI ZR 296/79 -  veranlasse die Zulassung nicht, da sie noch nicht die Möglichkeit berücksichtige, das zwischenzeitlich Fahrradfahrern die Möglichkeit gegeben werden könne, die Einbahnstraße in beiden Fahrtrichtungen zu nutzen.

Kommentar

Der Entscheidung des Landgerichts kann insgesamt nicht gefolgt werden.

1. Das Beklagtenfahrzeug fuhr unzulässig entgegen der Einbahnstraße und es kam deshalb (wohl da die Fahrerin des klägerischen Fahrzeugs nicht nach rechts bei Einfahrt auf diese Straße, die aber der Einfahrt in beide Fahrtrichtungen freigegeben war) zum Verkehrsunfall. Wenn das Beklagtenfahrzeug die Einbahnstraße nur ein Stück befahren hätte um dann dort zu wenden, wäre nachvollziehbar, wenn hier ein Verstoß gegen Zeichen 220 angenommen wird. Wurde die Straße in voller Länge befahren und nur zur Durchfahrt genutzt, muss sich der Fahrer nicht merken, ob eine solche Straße Einbahnstraße ist, um dies bei der Rückfahrt noch zu erinnern und zu beachten. Es käme also in diesem Fall darauf an, dass das Zeichen 267 an der Einfahrt zu Straße stand.

2. Für die Fahrerin des Klägerfahrzeugs war erkennbar, dass die Straße, auf die sie auffuhr, nach rechts eine Einbahnstraße war, die nicht in der Fahrtrichtung zu ihr hätte befahren werden dürfen. Es wird auch nicht ausgeführt (und war wohl auch nicht der Fall), dass diese Einbahnstraße für Fahrradfahrer in beiden Fahrtrichtungen freigegeben war, was auch durch entsprechend Beschilderung „Radfahrer frei“ (Zeichen 1022-10). Ist dieses nicht vorhanden, konnte sich die Fahrerin des klägerischen Pkw darauf verlassen, dass auch Radfahrer nicht die Straße entgegen der Fahrtrichtung befahren. Ebensowenig verfängt nicht der Verweis auf Sonderrechtsfahrzeuge. Nutzen diese entgegen der allgemeinen Verkehrsregelungen Straßen (z.B. Überqueren von Kreuzungen mit roter Ampelschaltung), so haben sie ihre Absicht deutlich kundzutun (z.B. Einschalten der Sirene); insoweit wird daran erinnert, dass bei Herannahen eines nur mit Blaulicht versehenen Polizei- oder Krankenwagens die Kreuzung nicht durch Hineinfahren in dieselbe trotz Rotlichts der Ampelanlage genutzt werden darf, sondern erst, wenn auch die Sirene am Einsatzfahrzeug eingeschaltet wird.

3. Die Revision hätte hier zwingend wegen Abweichung von dem Urteil des BGH vom 06.10.1981 - VI ZR 296/79 - zugelassen werden müssen. Gemäß § 546 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 ZPO ist die Revision zuzulassen, wenn das Urteil von einer Entscheidung des BGH abweicht und auf dieser Abweichung (wie hier) beruht (BVerfG, Beschluss vom 19.12.2000 - i BvR 1684/99 -). Die Überlegungen des Landgerichts, weshalb gleichwohl die Revision nicht zugelassen wurde, tragen nicht. Zum Einen ergibt sich aus weiteren Entscheidungen des BGH nicht, dass er an seiner bisherigen Rechtsprechung nicht festhält. Zum Anderen stützt sich das Landgericht für die Nichtzulassung auf das möglicherweise Radfahrern eingeräumte (hier nicht einmal feststellbare) Recht, die Einbahnstraße in beiden Fahrtrichtungen zu befahren. Da nicht festgestellt wurde, dass ein derartiges Recht für Fahrradfahrer bestand, liegt eine Abweichung vor, die zwingend die Revisionszulassung nach sich zog. Denn es muss auch in diesem Fall von einer verbotenen Nutzung der Einbahnstraße durch Radfahrer ausgegangen werden, wenn sie diese entgegen der vorgeschriebenen Fahrtrichtung befahren (was auch bußgeldbewährt ist). Zudem: Wenn, wie das Landgericht angibt, die Regelung zu Fahrradfahrern in 1977 geschaffen wurde, lag diese zum Zeitpunkt der Entscheidung des BGH bereits vor. Auch die in dem Urteilsgründen benannten weiteren Erwägungen des Landgerichts tragen dessen Entscheidung nicht. Zwar hat der BGH entschieden, dass sich das Vorfahrtsrecht auf einer Straße auf die gesamte Straßenbreite und nicht lediglich auf die rechte Fahrspur bezieht, weshalb ein einbiegen auf eine Vorfahrtsstraße und eine Kollision mit dem sich auf der Vorfahrtsstraße entgegen dem Rechtsfahrgebot links fahrenden Fahrzeug als Vorfahrtsverletzung darstellt. Eine solche Konstellation lag hier aber nicht vor, da das Beklagtenfahrzeug eine Einbahnstraße schlicht verbotswidrig entgegen der vorgeschriebenen Fahrtrichtung befuhr.

Bei dieser Situation eine hälftige Haftungsteilung anzunehmen, ist nicht nachvollziehbar, da damit die Grundsätze der Straßenverkehrsordnung verkehrt werden. Der grob regelwidrig Fahrende Verkehrsteilnehmer, der die Einbahnstraße verboten befährt, kommt in den von der Verkehrsordnung nicht vorgesehenen Genuss eines „rechts vor links“-Vorteils, obwohl doch gerade deshalb in Bereichen von Einbahnstraßen keine Vorfahrtszeichen bzw. Vorfahrtbeachtungszeichen aufgestellt werden, da es an den Beschilderungen fehlt, wenn nur in eine bestimmte Richtung eingebogen werden kann, aus der anderen Richtung keine Gefahr droht oder drohen kann.

LG Wuppertal, Urteil vom 30.06.2022 - 9 S 48/22 -