In dem Rechtstreit ging um betriebliche Altersversorgung hatte die Klage der Klägerin auf Zahlung rückständiger Versorgungsdifferenzen teilweise abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht (LAG) gab mit dem den Parteien zugestellten Urteil der Klage unter Abweisung der Berufung der Beklagten vollumfänglich statt. Gegen dieses Urteil legte die Beklagte Revision mit dem Ziel der Klageabweisung insgesamt ein. Der Senat des BAG ließ die Berufung zu. Danach stellte er fest, dass das in der noch als Papierakte (nicht elektronisch) geführten Gerichtsakte befindliche unterschriebene Urteil nicht identisch mit dem den Parteien zugestellten Urteil war.
Anmerkung: Es ist hier keine einmalige Ausnahme, dass ein den Parteien zugestelltes Urteil inhaltlich - teilweise sogar in der Tenorierung - von dem in der Gerichtsakte befindlichen Original abweicht. Während die Abweichung in der Tenorierung meist bei einem Rechtsmittel durch die Antragstellung offenbar wird, fällt dies in Fällen inhaltlicher Differenzen nur auf, wenn die Gerichtsakte zur Einsichtnahme von dem Prozessbevollmächtigten angefordert wird und er dabei die fehlende Übereinstimmung der Urschrift in der Gerichtsakte zum zugestellten Urteil feststellt (manchmal auch die fehlende Weiterleitung von Schriftstücken, was die Rüge wegen Verletzung rechtlichen Gehörs eröffnen könnte, Art. 103 GG), oder infolge von Hinweisen des Gerichts wird die unterschiedliche Fassung aufgedeckt; möglich wäre auch eine eigene Feststellung des Gerichts, wenn dem Rechtsmittel das vollständige Urteil beigefügt war.
Nach der Feststellung der Unstimmigkeit zwischen zugestellter Urteilsfassung und dem in der Gerichtsakte befindlichen Urteil war vom Bundesarbeitsgericht (BAG) zu entscheiden, wie damit prozessual umzugehen ist. Das BAG hatte hier die zugestellte Urteilsfassung aufgehoben und lediglich zum Zwecke der Zustellung der Originalfassung des Urteils an die Parteien den Rechtstreit an das LAG zurückverwiesen.
Zunächst war zu klären, ob überhaupt eine zulässige Revision vorliegen konnte. Allgemein gilt, dass ein Rechtsmittel gegen ein Scheinurteil (nicht zu verwechseln mit einem Nichturteil, z.B. wenn bei Ablauf der absoluten Berufungs- oder Revisionsfrist Rechtsmittel eingelegt wird, da bisher eine Zustellung nicht erfolgte und sich dann herausstellt, dass im Verkündungstermin kein Urteil verkündet wurde) möglich ist (vgl. auch OLG Brandenburg, Beschluss vom 25.04.2002 - 9 UF 222/00 -; Hunke in Anders/Gehle, ZPO 81. Aufl., vor § 300 Rn. 35). Vorliegend stellte der BGH darauf ab, dass die zugestellte Urteilsfassung den Eindruck eines Urteils vermittelt habe, welches mit Rechtmitteln angefochten werden könne. Seine Existenz sei geeignet, schutzwürdige Interessen der beschwerten Partei zu beeinträchtigen. Diese mit der Scheinwirkung des Urteils zu beseitigen führe dazu, dass es mit denselben Rechtsmitteln angefochten werden könne wie ein wirksam erlassenes Urteil. Neben dem Anwendungsbereich des § 72b ArbGG (sofortige Beschwerde wegen verspäteter Absetzung des Berufungsurteils) bestünde ein Anwendungsbereich für die Revision, wenn das Urteil zwar innerhalb von fünf Monaten zur Geschäftsstelle gelange, aber nicht als solches zugestellt worden sei.
War damit die Revision gegen das zugestellte Urteil statthaft, stellte sich die Frage, auf welcher Basis nun die Revisionsentscheidung ergehen sollte. Konnte die zugestellte Urteilsausfertigung zugrunde gelegt werden (also ein so von dem erkennenden Gericht nicht gewolltes Urteil), oder das (allerdings nicht zugestellte) Urteil in der Gerichtsakte ? Das BAG entschied dahingehend, dass beide Fassungen nicht einer Entscheidung zugrunde gelegt werden können; die zugestellte Urteilsfassung sei ein Entwurf und leide daher an einem wesentlichen Mangel, der zu einer Aufhebung von Amts wegen führe.
Ein Urteil sei von Amts wegen aufzuheben, wenn es an schweren, nicht korrigierbaren Mängeln leide, wobei maßgeblich die den Parteien zugeleitete Abschrift des Urteils sei. Dies begründet das BAG unter Verweis auf den Beschluss des BGH vom 24.05.2006 - IV ZB 47/05 - zutreffend damit, dass nur diese Urteilsfassung für die Parteien zur Beurteilung, ob ein Rechtsmittel eingelegt werden soll, geeignet sei. Das zugestellte Urteil leide an einem schwerwiegenden Mangel, wenn es in weiten und maßgeblichen Teilen nicht dem von den Richtern unterschriebenen Urteil entspräche oder einen Entwurf darstelle, der in wesentlichen Punkten nicht dem unterschriebenen Urteil entspräche (BGH, Beschluss vom 03.11.1994 - LwZB 5/94 -). Das Urteil müsse aber, damit die unterliegende Partei prozessordnungsgemäß über das weitere Vorgehen entscheiden zu können, in einer Abschrift der in der Gerichtsakte verbleibenden Originalfassung zugestellt werden. Die versehentliche Zustellung einer früheren Arbeitsgrundlage als Urteilsausfertigung sei damit ein Schein- bzw. Nichturteil, welches trotz Ausfertigung und Zustellung an die Parteien keine Rechtswirkung entfalten könne (BGH, Beschluss vom 24.06.2019 - AnwZ (Brfg) 18/19 -; BVerfG, Beschluss vom 17.01.1985 - 2 BvR 498/84 -).
Vorliegend würden der Tenor und der erste Teil des Tatbestandes sowie die Unterschriftenzeilen des zugestellten Urteils mit dem Original übereinstimmen, wie z.B.: Die Anträge und das Vorbringen der Parteien seien aber nicht zutreffend wiedergegeben worden, sondern würden aus einem anderen Rechtsstreit stammen. Die im Originalurteil enthaltenen rechtlichen Ausführungen des Gerichts würden in den zugestellten Abschriften gänzlich fehlen. Auch die Berechnung des Anspruchs des Klägers würden nicht mit dem Original übereinstimmen und würden aus einem Parallelrechtstreit stammen.
Zum weiteren Prozedere nach der Zurückverweisung gab der BGH vor, dass nunmehr den Parteien das von der Berufungskammer des LAG unterschriebene Urteil den Parteien zuzustellen sei. Es sei nicht erneut in die mündliche Verhandlung einzutreten, da es dieser nicht bedürfe, da bereits ein unterschriebenes Urteil vorläge und die mündliche Verhandlung gem. § 310 Abs. 1 S. 1 ZPO geschlossen sei.
BAG, Urteil vom 09.05.2023 - 3 AZR 280/22 -
Aus den Gründen:
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird die den Parteien am 9. Juni 2022 zugestellte Urteilsfassung des Landesarbeitsgerichts Hamburg vom 29. März 2022 - 6 Sa 23/21 - aufgehoben.
Die Entscheidung über die Kosten der Revision bleibt dem Berufungsgericht vorbehalten.
Tatbestand
Die Parteien
streiten über die Höhe des Anspruchs des Klägers auf betriebliche
Altersversorgung.
Der im April
1956 geborene Kläger hat die Zahlung rückständiger Versorgungsdifferenzen für
die Monate Juli 2019 bis Dezember 2020 geltend gemacht. Das Arbeitsgericht hat
der Klage teilweise stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat der Berufung des
Klägers stattgegeben und die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit der
Revision erstrebt die Beklagte die Abweisung der Klage insgesamt. Der Kläger
begehrt die Zurückweisung der Revision.
Nachdem die
Revision der Beklagten durch den Senat zugelassen worden ist, ist aktenkundig
geworden, dass das Landesarbeitsgericht nicht das von der Berufungskammer
unterschriebene, in der noch in Papier geführten Gerichtsakte befindliche
Urteil an die Parteien zugestellt hat.
Entscheidungsgründe
Die Revision
der Beklagten ist zulässig und begründet. Sie führt zur Aufhebung der den
Parteien zugestellten Urteilsfassung vom 9. Juni 2022.
I. Die
Revision ist zulässig.
1. Sie
ist statthaft. Die zugestellte Urteilsfassung erweckt den Eindruck eines
Urteils und kann als solches angefochten werden. Die erteilte Abschrift ist
durch ihre bloße Existenz geeignet, schutzwürdige Interessen der nach dem
Inhalt beschwerten Partei zu beeinträchtigen. Sie kann zur Beseitigung der mit
ihr verbundenen Scheinwirkung mit demselben Rechtsmittel angefochten werden wie
ein wirksam erlassenes und Rechtswirkungen entfaltendes Urteil (BGH
24. Juni 2019 - AnwZ (Brfg) 18/19 - Rn. 5).
2. Neben
§ 72b ArbGG besteht ein Anwendungsbereich für die Revision gegen sog.
Urteile ohne Gründe, wenn das Urteil zwar innerhalb von fünf Monaten zur
Geschäftsstelle gelangt ist, aber nicht als solches zugestellt worden ist (vgl.
GK-ArbGG/Krumbiegel Stand Juni 2022 § 72b Rn. 11a).
II. Die
Revision ist begründet. Die den Parteien am 9. Juni 2022 zugestellte
Urteilsfassung ist ein Entwurf und leidet daher an einem wesentlichen Mangel,
der zu seiner Aufhebung von Amts wegen führt.
1. Ein
Urteil ist von Amts wegen aufzuheben, wenn es an schweren, nicht mehr
korrigierbaren Mängeln leidet. Maßgeblich ist grundsätzlich die den Parteien
zugeleitete Abschrift des Urteils, da diese allein zu der Beurteilung der
Parteien geeignet ist, ob ein Rechtsmittel eingelegt werden soll (vgl. BGH
24. Mai 2006 - IV ZB 47/05 - Rn. 11; BeckOK ZPO/Elzer
Stand 1. März 2023 § 317 Rn. 40).
Eine
zugestellte Abschrift leidet an wesentlichen Mängeln, wenn sie in weiten und
maßgeblichen Teilen nicht dem von den Richtern unterschriebenen Urteil
entspricht oder einen Entwurf darstellt, der in erheblichen Punkten nicht dem
unterschriebenen Urteil gleicht (vgl. BGH 3. November 1994 - LwZB
5/94 -). Da das Originalurteil gemäß § 317 Abs. 1 ZPO in der
Gerichtsakte verbleibt, muss der Zustellungsempfänger aus der Abschrift den
Inhalt der Urschrift, den Umfang seiner Beschwer und die tragenden
Entscheidungsgründe erkennen können. Das Urteil muss in einer Abschrift der
Originalfassung zugestellt werden, damit die unterliegende Partei über das
weitere prozessordnungsgemäße Vorgehen entscheiden kann (BGH 24. Mai 2006
- IV ZB 47/05 - Rn. 11). Die versehentlich als
Urteilsausfertigung zugestellte Abschrift einer früheren Arbeitsgrundlage des
Gerichts ist lediglich ein Urteilsentwurf und damit ein Schein- bzw.
Nichturteil, das trotz Ausfertigung und Zustellung an die Parteien keine
Rechtswirkung zu entfalten vermag (BGH 24. Juni 2019 - AnwZ (Brfg)
18/19 - Rn. 4; BVerfG 17. Januar 1985 - 2 BvR
498/84 -).
2. Die
von der Urkundsbeamtin den Parteien zugeleitete Urteilsfassung - deren
Ursprung und Herkunft unklar ist - leidet an wesentlichen Mängeln. Sie ist
offenkundig ein bloßer Entwurf des Urteils. Sie weicht in erheblichen Punkten
von dem in der Akte befindlichen unterschriebenen Urteil ab. Zwar stimmen der
Tenor und der erste Teil des Tatbestands sowie die Unterschriftenzeile mit dem
Original überein. Zudem befasst sich das Verfahren ebenso wie zwei
Parallelverfahren mit der Frage, in welchem Umfang ein neuer Arbeitgeber in die
Versorgungszusage nach einem Betriebsübergang eintritt. Die Anträge und das
Vorbringen der Parteien im Berufungsverfahren sind jedoch nicht zutreffend
wiedergegeben, sondern stammen aus einem anderen Rechtsstreit. Die im
Originalurteil enthaltenen rechtlichen Ausführungen der Kammer zur Berufung der
Beklagten fehlen gänzlich in der Abschrift. Die Berechnung des Anspruchs des
Klägers stimmt ebenfalls nicht mit den Ausführungen im Original überein,
sondern stammt wörtlich aus einem Parallelrechtsstreit. Weiterhin fehlen die
Ausführungen des Berufungsgerichts zur Ausschlussfrist. Zudem bezog sich das
hiesige Verfahren nur auf einen Zahlungsanspruch für vergangene Zeiträume, der
eingefügte Text aus dem Urteil in dem Parallelstreit dagegen auch auf künftige
Leistung.
III. Das
Berufungsgericht wird den Parteien nunmehr das von der Berufungskammer
unterschriebene Urteil zuzustellen haben, ohne erneut in die mündliche
Verhandlung einzutreten. Einer erneuten Verhandlung und Entscheidung bedarf es
nicht, da bereits ein unterschriebenes Urteil vorliegt und die mündliche
Verhandlung gemäß § 310 Abs. 1 Satz 1 ZPO geschlossen wurde.
IV.
Sollte das Urteil nach seiner ordnungsgemäßen Zustellung - auch vor dem
Hintergrund der einschlägigen Entscheidungen des Senats in den
Parallelstreitigkeiten vom selben Tag - rechtskräftig werden, wird das
Berufungsgericht noch eine Kosten(schluss)entscheidung über die
außergerichtlichen Kosten des Nichtzulassungsbeschwerde- und
Revisionsverfahrens zu treffen haben.
Die
Gerichtskosten des Nichtzulassungsbeschwerde- und Revisionsverfahrens werden
nach § 21 Abs. 1 GKG niedergeschlagen, da das Rechtsmittel der
Beklagten allein wegen des Nichtvorliegens eines wirksam zugestellten Urteils
des Berufungsgerichts Erfolg hatte (vgl. BAG 20. Februar 2014 - 2 AZR
248/13 - Rn. 38, BAGE 147, 227). Die Sache selbst konnte im
Revisionsverfahren nicht mehr gefördert werden. Das Verfahren diente lediglich
dazu, die unrichtige prozessuale Behandlung der Sache zu beseitigen (BAG
11. Dezember 2013 - 4 AZR 250/12 - Rn. 30 mwN).
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