Mittwoch, 26. Mai 2021

Fenstersturz des an Demenz erkrankten Bewohners und Haftung des Pflegeheimbetreibers

Die Klägerin klagte aus abgetretenen Recht der Ehefrau auf Zahlung von Schmerzensgeldes wegen tödlicher Verletzungen von deren Ehemann (Erblasser) auf Grund eines Sturzes aus einem Fensters des beklagten Alten- und Pflegeheims. Der Erblasser war hochgradig dement, litt unter Gedächtnisstörungen infolge Korsakow-Syndroms sowie psychisch-notorischer Unruhe. Er soll örtlich, zeitlich, räumlich und situativ sowie zeitweise zur Person desorientiert gewesen sein. Eine besondere Betreuung war im Hinblick auf Lauftendenzen, Selbstgefährdung, nächtlicher Unruhe und zeitweiser Sinnestäuschung bejaht worden. Der Erblasser wurde von der Beklagten in einem Zimmer im 3. OG, welches über zwei große Dachfenster verfügte, die nicht gegen unbeaufsichtigtes Öffnen gesichert waren, untergebracht. Aus einem der zwei Fenster stürzte er.

Klage und Berufung gegen das klageabweisende Urteil blieben ohne Erfolg. Die zugelassene Revision führte zur Aufhebung des Urteils und Zurückverweisung an das OLG. Dabei verwies der BGH auf seine ständige Rechtsprechung, dass durch den Heimvertrag Obhutspflichten der Beklagten gem. § 241 Abs. 2 BGB zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit der ihr anvertrauten Bewohner begründet würden. Inhaltsgleich würde auch eine allgemeine Verkehrssicherungspflicht den Bewohnern gegenüber vor gesundheitlichen Schädigungen bestehen, die ihnen wegen Krankheit oder sonstiger körperlicher oder geistiger Einschränkungen durch sie selbst oder die Einrichtung und bauliche Gestaltung des Heims drohen würden. Die schuldhafte Pflichtverletzung der Beklagten würde sowohl Schadensersatzansprüche wegen vertraglicher Pflichtverletzung (§ 280 Abs. 1 BGB, § 278 S. 1 BGB) als auch korrespondierend deliktische Ansprüche (§ 823 BGB, § 831 BGB) begründen.

Diese Pflichten des Heimbetreibers seien aber begrenzt: sie müssten mit einem vernünftigen finanziellen und personellen Aufwand realisierbar sein. Maßstab sei das Erforderliche und für die Heimbewohner und das Pflegepersonal Zumutbare, wobei zu beachten sei, dass beim Wohnen im Heim die Würde sowie die Interessen und Bedürfnisse der Bewohner vor Beeinträchtigungen zu schützen und die Selbstständigkeit, Selbstbestimmung und die Selbstverantwortung der Bewohner zu wahren und zu fördern seien.

Den Spagat zwischen den Anforderungen auf Menschenwürde und Freiheitsrecht auf der einen Seite und Schutz der körperlichen Unversehrtheit nimmt der BGH, indem er auf eine sorgfältige Abwägung sämtlicher Umstände des Einzelfalls abstellt. Entscheidens sei das Gefahrenpotential durch körperliche und geistige Verfassung des Bewohners, wobei sich die einzuhaltende Sorgfalt und eventuell zu treffende Sicherungsmaßnahmen aus einer ex-ante-Betrachtung ergeben würden, ohne Berücksichtigung nur abstrakt denkbaren Sicherheitsrisiken und mithin orientiert an die konkrete Pflegesituation. Zum Einen will der BGH hier darauf abstellen, ob mit einer Schädigung ohne Sicherungsmaßnahmen zu rechnen sei, zum Anderen aber auch darauf, dass eine nicht wahrscheinliche Gefahr, die aber zu besonders schweren Folgen führen könne, berücksichtigt werden müsse. Diese Risikoprognose sei Voraussetzung zur Abwägung der Entscheidung zu erforderlichen Einschränkungen der persönlichen Freiheitsrechte des Heimbewohners und der personellen und finanziellen Möglichkeiten des Pflegeheims.

Zur Beweislage wies der BGH darauf hin, dass ein Sturzgeschehen dem „normalen, alltäglichen Gefahrenbereich“ im Heim zuzuordnen sei. Komme der Bewohner in einer solchen Situation zu Schaden, falle dies in seine Risikosphäre mit der Folge, dass er für eine Pflichtverletzung und deren Kausalität die Darlegungs- und Beweislast trage. Es handele sich um das allgemeine Lebensrisiko in einem vom Bewohner voll beherrschten Gefahrenbereich. Alleine der Sturz aus dem nicht verriegelten Fenster begründe damit keine kausale Pflichtverletzung.

Allerdings komme es zu einer Beweislastumkehr (bei der der Heimbetreiber den Nachweis pflichtgemäßen Verhaltens führen müsse), wenn der Bewohner im Herrschafts- und Organisationsbereich des Heimbetreibers zu Schaden käme und die ihn betreffenden Vertragspflichten (auch) bezwecken würden, den Bewohner vor einem solchen Schaden zu bewahren. Der Heimbetreiber müsse bei Risiken aus dem Betrieb, die von ihm voll beherrschbar seien, darlegen und beweisen, dass der Schaden nicht auf einem pflichtwidrigen Verhalten beruht. Dies sei der Fall, wenn der Patient in einem Krankenhaus bei einer Bewegungs- und Transportmaßnahme einer ihm betreuenden Krankenschwester stürze, s. auch § 630h BGB. Es gelte auch gelte auch bei Pflegeheimen, wenn bei einer konkreten Gefahrensituation die spezielle Obhutspflicht einer dafür eingesetzten Pflegekraft obliege und sich der Schaden in diesem Zusammenhang verwirkliche (so z.B. Sturz des Heimbewohners bei begleiteten Gang zur Toilette der Sturz beim Wechsel der Bettwäsche durch einen Pfleger).

Im konkreten Fall nahm der BGH keine Beweislastumkehr an. Zwar habe sich die Gefahrensituation im Sturz des Erblassers aus dem Fenster durch die fehlende Fenstersicherung verwirklicht. Allerdings habe dies außerhalb des voll beherrschbaren Gefahrenbereichs des Heimträgers stattgefunden. Der Erblasser sei zu diesem Zeitpunkt nicht der Obhut einer Pflegekraft im Rahmen einer konkreten Pflege- oder Betreuungsmaßnahme anvertraut gewesen: er habe sich überwiegend alleine in seinem Zimmer aufgehalten und habe nicht dauerhaft betreut und begleitet werden müssen.

Die Aufhebung des Urteils und Zurückverweisung an das OLG erfolgte, da der BGH die tatrichterliche Würdigung, die Beklagte hätte keine Vorkehrungen gegen ein Heraussteigen des Erblassers aus einem Fenster seines Zimmers treffen müssen, für unvollständig und rechtsfehlerhaft hielt. Die dazu notwendige Abwägung sei unvollständig gewesen.  Hier hätte das Berufungsgericht auf der Grundlage einer sorgfältigen ex-ante-Risikoprognose, die das gesamte Krankheitsbild des Erblassers in den Blick nehme, entscheiden müssen, ggfls. sachverständig beraten. Es habe aber nur einzelne dokumentierte Demenzerscheinungen isoliert und kursorisch betrachtet, ohne dabei eine eigene besondere Sachkunde aufzuweisen.

BGH, Urteil vom 14.01.2021 - III ZR 168/19 -


Aus den Gründen:

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 12. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Hamm vom 20. November 2019 aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsrechtszugs, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand

Die Klägerin nimmt die Beklagte aus übergegangenem und abgetretenem Recht auf Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes wegen tödlicher Verletzungen in Anspruch, die ihr Ehemann (im Folgenden: Erblasser) bei dem Sturz aus einem Fenster in einem Alten- und Pflegeheim erlitten hat. Sie ist gemeinsam mit ihrer Tochter dessen Erbin in ungeteilter Erbengemeinschaft.

Der 1950 geborene Erblasser war seit dem 25. Februar 2014 Bewohner eines von der Beklagten betriebenen Alten- und Pflegeheims. Er war hochgradig dement und litt unter Gedächtnisstörungen infolge Korsakow-Syndroms sowie psychisch-motorischer Unruhe. Ausweislich eines unter dem 27. Juli 2014 erstellten Verlegungsberichts war er örtlich, zeitlich, räumlich und situativ sowie zeitweise zur Person desorientiert. Die Notwendigkeit besonderer Betreuung wurde im Hinblick auf Lauftendenz, Selbstgefährdung, nächtliche Unruhe und zeitweise Sinnestäuschungen bejaht (Anlage K 2 zur Klageschrift = GA I 10-13).

Die Beklagte brachte den Erblasser in einem Zimmer im dritten Obergeschoss (Dachgeschoss) unter, das über zwei große Dachfenster verfügte, die gegen unbeaufsichtigtes Öffnen nicht gesichert waren. Der Abstand zwischen dem Fußboden und den Fenstern betrug 120 Zentimeter. Vor den Fenstern befanden sich ein 40 Zentimeter hoher Heizkörper sowie in 70 Zentimetern Höhe eine Fensterbank, über die man gleichsam stufenweise zur Fensteröffnung gelangen konnte. Am Nachmittag des 27. Juli 2014 stürzte der Erblasser aus einem der beiden Fenster. Dabei erlitt er schwere Verletzungen, an denen er trotz mehrerer Operationen und Heilbehandlungen am 11. Oktober 2014 verstarb.

Die Klägerin hat geltend gemacht, die Beklagte habe geeignete Schutzmaßnahmen zur Verhinderung des Fenstersturzes unterlassen. Aus dem Gutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit vom 19. Dezember 2013 (Anlage K 2a zur Klageschrift = GA I 14-19), den Pflegeberichten (Anlagen K 1 und K 2 zum Schriftsatz der Klägerin vom 7. Mai 2018 = GA I 139-157) und dem Verlegungsbericht vom 27. Juli 2014 hätten sich zwingende Anhaltspunkte für eine Selbstgefährdung ergeben. Der Erblasser sei gerade auf Grund seiner Demenz mit Gedächtnisstörungen im Pflegeheim der Beklagten untergebracht worden. Dieser habe sich die Möglichkeit eines Sturzes geradezu aufdrängen müssen. Vor diesem Hintergrund stelle die Unterbringung des Erblassers im dritten Obergeschoss in einem Zimmer, dessen Fenster leicht zu öffnen oder zum Lüften bereits geöffnet gewesen seien, eine erhebliche Pflichtverletzung dar.

Die Beklagte ist dem entgegengetreten. Sie habe ihre Überwachungs- und Fürsorgepflichten nicht verletzt. Begründete Anhaltspunkte für eine Selbstschädigungs- oder Suizidgefahr hätten nicht vorgelegen. Zu einer dauerhaften Überwachung des Erblassers sei sie nicht verpflichtet gewesen.

Das Landgericht hat die auf Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes von mindestens 50.000 € nebst Zinsen und vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten gerichtete Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin hat keinen Erfolg gehabt. Mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision verfolgt sie ihr Klagebegehren weiter.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Klägerin hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.

I.

Das Oberlandesgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt:

Ein auf die Erben übergegangener Schmerzensgeldanspruch des Erblassers (§ 253 Abs. 2 BGB) ergebe sich weder aus § 280 Abs. 1 i.V.m. §§ 278, 611 BGB noch aus § 823 Abs. 1, § 831 BGB. Dem Vortrag der darlegungs- und beweispflichtigen Klägerin und den vorgelegten Unterlagen könne nicht entnommen werden, dass die Beklagte ihre vertraglichen Obhutspflichten oder die allgemeine Verkehrssicherungspflicht verletzt habe. Allein aus dem Umstand, dass ein Heimbewohner im Bereich des Pflegeheims stürze und sich dabei verletze, könne nicht auf eine schuldhafte Pflichtverletzung des Pflegepersonals geschlossen werden. Der Erblasser habe sich nicht in einer konkreten Gefahrensituation befunden, die gesteigerte Obhutspflichten ausgelöst habe und deren Beherrschung einer speziell dafür eingesetzten Pflegekraft anvertraut gewesen sei. Der Sturz habe sich vielmehr im normalen, alltäglichen Gefahrenbereich ereignet, welcher grundsätzlich der jeweils eigenverantwortlichen Risikosphäre des Geschädigten zuzurechnen sei (Hinweis auf Senatsurteil vom 28. April 2005 - III ZR 399/04, BGHZ 163, 53). Vorkehrungen gegen ein Hinausklettern über das Fenster hätten nur dann getroffen werden müssen, wenn mit einer solchen Selbstgefährdung wegen der Verfassung des Erblassers und seines Verhaltens (ernsthaft) hätte gerechnet werden müssen. Hierfür fehlten hinreichende Anhaltspunkte. Technische Regelungen (z.B. DIN-Normen), die Vorkehrungen gegen das Heraussteigen aus dem Fenster in einem Alten- und Pflegeheim vorsähen und gegebenenfalls zur Konkretisierung des Umfangs der Obhuts- und Verkehrssicherungspflichten der Beklagten herangezogen werden könnten (Hinweis auf Senatsurteil vom 22. August 2019 - III ZR 113/18, BGHZ 223, 95), existierten nicht. Allein daraus, dass in dem Verlegungsbericht vom 27. Juli 2014 Unruhezustände, eine Lauftendenz sowie Selbstgefährdung bejaht worden seien und der Erblasser möglicherweise zuletzt viel Freude an Aufenthalten im Garten empfunden habe, habe sich für die Beklagte und das Pflegepersonal keine Besorgnis ergeben müssen, er könnte versuchen, durch Klettern aus einem Fenster nach draußen zu gelangen. Vielmehr belegten die Pflegeberichte, dass der Erblasser sich vor dem Fenstersturz lediglich in dem Heimbereich bewegt und insoweit unkontrollierte Lauftendenzen aufgewiesen habe. Das nur unter dem 26. Februar 2014 dokumentierte mehrfache Herausklettern aus einem RCN-Walker (Gehwagen) sei mit dem Hinausklettern durch ein Fenster nicht vergleichbar. Soweit in dem Verlegungsbericht vom 27. Juli 2014 von Selbstgefährdung die Rede sei, sei nicht ersichtlich, in welcher Hinsicht diese bestanden habe. Allein der geistige Zustand des Erblassers und das daraus resultierende inadäquate Verhalten in anderen Bereichen hätten es nicht erforderlich gemacht, Sicherungsmaßnahmen hinsichtlich der Fenster zu ergreifen.

II.

Diese Ausführungen halten der rechtlichen Überprüfung in einem wesentlichen Punkt nicht stand.

Mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung kann der geltend gemachte Schmerzensgeldanspruch (§ 253 Abs. 2 BGB) wegen Verletzung einer vertraglichen Schutzpflicht (§ 280 Abs. 1, § 241 Abs. 2, § 278 Satz 1 BGB) beziehungsweise einer deliktischen Verkehrssicherungspflicht (§ 823 Abs. 1, § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 229 StGB, § 831 BGB) nicht verneint werden. Bei der gebotenen Abwägung der gesamten Umstände des Einzelfalls sind wesentliche Gesichtspunkte unberücksichtigt geblieben. Insbesondere fehlt eine medizinisch fundierte Risikoprognose im Hinblick auf die durch ausgeprägte Demenzerscheinungen gekennzeichnete geistige und körperliche Verfassung des Erblassers.

1. Zutreffend ist das Berufungsgericht allerdings davon ausgegangen, dass durch den Heimvertrag Obhutspflichten der Beklagten gemäß § 241 Abs. 2 BGB zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit des ihr anvertrauten Erblassers begründet wurden. Ebenso bestand eine inhaltsgleiche allgemeine Verkehrssicherungspflicht zum Schutz der Bewohner vor gesundheitlichen Schädigungen, die ihnen wegen Krankheit oder sonstiger körperlicher oder geistiger Einschränkungen durch sie selbst oder durch die Einrichtung und bauliche Gestaltung des Heims drohten. Eine schuldhafte Verletzung dieser Pflichten war geeignet, sowohl einen Schadensersatzanspruch wegen vertraglicher Pflichtverletzung (§ 280 Abs. 1, § 278 Satz 1 BGB) als auch einen damit korrespondierenden deliktischen Anspruch aus §§ 823, 831 BGB zu begründen (Senatsurteile vom 28. April 2005 - III ZR 399/04, BGHZ 163, 53, 55 und vom 22. August 2019 - III ZR 113/18, BGHZ 223, 95 Rn. 12; jeweils mwN).

2. Das Berufungsgericht hat auch gesehen, dass diese Pflichten auf die in vergleichbaren Heimen üblichen gebotenen Maßnahmen begrenzt sind, die mit einem vernünftigen finanziellen und personellen Aufwand realisierbar sind. Maßstab ist das Erforderliche und das für die Heimbewohner und das Pflegepersonal Zumutbare. Dabei ist insbesondere auch zu beachten, dass beim Wohnen in einem Heim die Würde sowie die Interessen und Bedürfnisse der Bewohner vor Beeinträchtigungen zu schützen und die Selbständigkeit, die Selbstbestimmung und die Selbstverantwortung der Bewohner zu wahren und zu fördern sind (vgl. § 2 Abs. 1 Nr. 1 und 2 HeimG; Senatsurteile vom 28. April 2005 aaO und vom 22. August 2019 aaO Rn. 13).

3. Welchen konkreten Inhalt die Verpflichtung des Heimträgers hat, einerseits die Menschenwürde und das Freiheitsrecht eines körperlich und geistig beeinträchtigten (demenzkranken) Heimbewohners zu achten und andererseits sein Leben und seine körperliche Unversehrtheit zu schützen, kann nicht generell, sondern nur aufgrund einer sorgfältigen Abwägung sämtlicher Umstände des jeweiligen Einzelfalls entschieden werden (Senatsurteile vom 28. April 2005 aaO S. 55 und vom 22. August 2019 aaO Rn. 14; siehe auch OLG Koblenz, NJW-RR 2002, 867, 868).

a) Entscheidend ist jeweils, welchen Gefahren der Bewohner auf Grund seiner individuellen körperlichen und geistigen Verfassung ausgesetzt ist. Der Maßstab für die einzuhaltende Sorgfalt und die eventuell zu treffenden Sicherungsvorkehrungen ergibt sich daher aus einer ex-ante-Betrachtung, die sich losgelöst von den abstrakt denkbaren Sicherheitsrisiken an der konkreten Pflegesituation zu orientieren hat (vgl. BeckOGK/Spindler, BGB, § 823 Rn. 1016 [Stand: 1. November 2020]). Maßgebend ist, ob im Einzelfall wegen der Verfassung des pflegebedürftigen Bewohners aus der ex-ante-Sicht ernsthaft damit gerechnet werden musste, dass er sich ohne Sicherungsmaßnahmen selbst schädigen könnte (vgl. OLG Düsseldorf, OLGR 2004, 362, 363; Urteile vom 28. April 2005 - I-8 U 120/04, juris Rn. 28 und vom 16. Juni 2005 - I-8 U 124/03, juris Rn. 36; OLG Köln, GesR 2010, 691, 692; OLG Dresden, Urteil vom 2. Juli 2010 - 4 U 307/10, juris Rn. 7; OLG Hamm, Urteil vom 7. November 2011 - 3 U 140/11, juris Rn. 30; Thüringer OLG, NJW-RR 2012, 1419; OLG Hamm, FamRZ 2017, 1439). Dabei muss allerdings auch dem Umstand Rechnung getragen werden, dass bereits eine Gefahr, deren Verwirklichung nicht sehr wahrscheinlich ist, aber zu besonders schweren Folgen führen kann, geeignet ist, Sicherungspflichten des Heimträgers zu begründen (vgl. Senatsurteil vom 22. August 2019 aaO Rn. 25).

Erst wenn eine solche Risikoprognose getroffen wurde, aus der sich ergibt, mit welchen - auch unkalkulierbaren - Verhaltensweisen aus medizinischer Sicht auf Grund der geistigen und körperlichen Verfassung des Bewohners zu rechnen ist, können eine etwaige Selbstschädigungsgefahr, die erforderlichen Einschränkungen des persönlichen Freiheitsbereichs des Heimbewohners sowie die personellen und finanziellen Möglichkeiten eines Pflegeheims sachgerecht gegeneinander abgewogen werden.

b) Entsprechend diesen Grundsätzen hat der Senat in dem Urteil vom 22. August 2019 keine generelle Pflicht angenommen, die Trinkwasserinstallation in den Zimmern der Heimbewohner mit technischen Einrichtungen zur Begrenzung der Wassertemperatur auszurüsten, sondern eine Obhutspflichtverletzung gerade und nur wegen der individuellen Verfassung der Bewohnerin und ihrer Unfähigkeit, die Gefahrenlage zu beherrschen, bejaht (aaO Rn. 24–26). Vergleichbar hat der Senat in einem Fall argumentiert, in dem ein Patient auf einer geschlossenen psychiatrischen Station einer Klinik in suizidaler Absicht ein Fenster gewaltsam geöffnet und durch einen Sprung aus dem Fenster schwere Verletzungen erlitten hatte (Urteil vom 31. Oktober 2013 - III ZR 388/12, NJW 2014, 539 Rn. 15, 17). Der Senat hat keine generelle Pflicht angenommen, sämtliche Räume der Station mit nicht zu öffnenden Fenstern auszustatten, sondern die zugunsten des Patienten bestehende Schutzpflicht nur darin gesehen, ihn bei erkannter oder erkennbarer Suizidabsicht nicht in einem normalen Patientenzimmer mit zu öffnenden oder kippbaren Fenstern unterzubringen. Eine Pflichtverletzung wurde verneint, weil keine konkreten Anhaltspunkte für eine Selbstgefährdung bestanden und der Selbstmordversuch nicht vorhersehbar war (vgl. auch BGH, Urteil vom 20. Juni 2000 - VI ZR 377/99, NJW 2000, 3425 zu Schutzmaßnahmen in einer offenen Station einer psychiatrischen Klinik gegen einen Sprung vom Balkon).

Dementsprechend darf bei erkannter oder erkennbarer Selbstschädigungsgefahr ein (hochgradig) an Demenz erkrankter Heimbewohner, bei dem unkontrollierte und unkalkulierbare Handlungen jederzeit möglich erscheinen, nicht in einem - zumal im Obergeschoss gelegenen - Wohnraum mit unproblematisch erreichbaren und einfach zu öffnenden Fenstern untergebracht werden. Ohne konkrete Anhaltspunkte für eine Selbstgefährdung besteht hingegen keine Pflicht zu besonderen (vorbeugenden) Sicherungsmaßnahmen.

4. Die tatrichterliche Würdigung des Berufungsgerichts, die Beklagte und das betreuende Pflegepersonal hätten Vorkehrungen gegen ein Heraussteigen des Erblassers aus einem der Fenster seines Heimzimmers für entbehrlich halten dürfen, ist unvollständig und somit rechtsfehlerhaft, weil für die zu treffende Abwägungsentscheidung wesentliche Gesichtspunkte nicht berücksichtigt wurden. Das Berufungsgericht hätte insbesondere auf der Grundlage einer sorgfältigen, das gesamte Krankheitsbild des Pflegebedürftigen in den Blick nehmenden ex-ante-Risikoprognose - gegebenenfalls sachverständig beraten - entscheiden müssen. Stattdessen hat es sich damit begnügt, einzelne dokumentierte Demenzerscheinungen lediglich isoliert und eher kursorisch zu betrachten, ohne insoweit eigene besondere Sachkunde auszuweisen (vgl. BGH, Urteil vom 9. Januar 2018 - VI ZR 106/17, NJW 2018, 2730 Rn. 16).

a) Das Berufungsgericht hat bereits keine Feststellungen dazu getroffen, ob in vergleichbaren Pflegeheimen bei der Unterbringung von demenzkranken Patienten, bei denen unkontrollierte und unkalkulierbare Handlungen möglich erscheinen, Fenstersicherungen oder gleichwertige Sicherungsmaßnahmen zum üblichen Standard in den Wohnräumen gehören. Derartige Feststellungen waren erforderlich, weil sich der Pflichtenumfang eines Heimträgers nach der Senatsrechtsprechung (auch) an den in vergleichbaren Pflegeheimen üblichen Maßnahmen orientiert (Senatsurteil vom 22. August 2019 aaO Rn. 18). So wurden in der obergerichtlichen Rechtsprechung bei Verwirrtheitszuständen und Weglauftendenzen notwendige Vorkehrungen gegen ein Hinaussteigen durch das Fenster schon frühzeitig als zwingend geboten angesehen (z.B. OLG Düsseldorf, Urteil vom 16. Juni 2005 - I-8 U 124/03, juris Rn. 39). Sollte die Sicherung von Fenstern ein üblicher Sicherheitsstandard sein, könnte allein dessen Fehlen den Vorwurf einer Pflichtverletzung begründen.

b) Nach den Feststellungen der Vorinstanzen, die vor allem auf dem Gutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit vom 19. Dezember 2013, den Pflegeberichten bis zum 27. Juli 2014 und dem Verlegungsbericht vom 27. Juli 2014 beruhen, lagen bei dem Erblasser schon zu Beginn seines Aufenthalts im Pflegeheim der Beklagten schwere Demenzerscheinungen vor. Er litt nicht nur unter Gedächtnisstörungen infolge Korsakow-Syndroms und zeitweise unter Sinnestäuschungen, sondern wies auch - bei hoher Mobilität - eine psychisch-motorische Unruhe mit unkontrollierten Lauftendenzen auf. Indem er mehrfach aus dem ihm zugewiesenen Gehwagen herauskletterte, stellte er eine gewisse motorische Geschicklichkeit unter Beweis. Darüber hinaus zeigte er inadäquate Verhaltensweisen mit Selbstgefährdungstendenzen und war zeitlich, örtlich, räumlich und situativ sowie zeitweise auch zur Person desorientiert. Die Pflegedokumentation verzeichnet zahlreiche Ereignisse, bei denen der Erblasser unruhig war, über die Etage lief und diese teilweise auch verließ. Zum Beispiel wurde er am 28. April 2014 mehrmals im Treppenhaus aufgefunden. Am 3. Mai 2014 verließ er die Etage durch den Notausgang. In dem Bericht vom 15. Februar 2014 des Pflegeheims, in dem der Erblasser zuvor untergebracht war (Anlage K 1 zum Schriftsatz der Klägerin vom 7. Mai 2018 = GA I 139), ist dokumentiert, dass zeitweises Halluzinieren und Hinlauftendenzen "in extremem Maße" vorhanden waren und Sturzgefahr bestand, weil der Erblasser sich unkontrolliert und orientierungslos dem Treppenabsatz näherte.

Da die leicht zu öffnenden, nicht gesicherten Fenster in dem dem Erblasser zugewiesenen Zimmer über den davor befindlichen Heizkörper und das Fensterbrett gleichsam treppenartig erreicht werden konnten, war es für einen zwar dementen, aber körperlich nicht besonders eingeschränkten Bewohner - wie den Erblasser - ohne weiteres möglich, zur Fensteröffnung zu gelangen und nach draußen auf eine 60 Zentimeter tiefe horizontale Dachfläche zu treten.

c) Bei dieser Sachlage konnten unkontrollierte und unkalkulierbare selbstschädigende Handlungen infolge von Desorientierung und Sinnestäuschungen - jedenfalls ohne sachverständige medizinische Beratung - nicht von vornherein ausgeschlossen werden, wobei auch ein Verlassen des Zimmers über ein leicht zugängliches, möglicherweise sogar geöffnetes Fenster (siehe Ermittlungsbericht des Polizeipräsidiums Bochum vom 27. Juli 2014, S. 3 = Anlage 3 zur Klageschrift = GA I 22) in Betracht gezogen werden musste (vgl. OLG Hamm, FamRZ 2017, 1439). Ein ungesichertes Fenster - zumal im dritten Obergeschoss - war für den Erblasser nicht nur mit einer abstrakten Gefahr verbunden. Auf Grund seiner hochgradigen Demenzerkrankung konnte er möglicherweise nicht erkennen, dass das leicht zugängliche Fenster nicht zum Verlassen des Zimmers geeignet war. In diesem Zusammenhang ist auch näher in den Blick zu nehmen, dass der Erblasser ausweislich der Pflegedokumentation in den letzten Wochen vor dem Fenstersturz mehrfach begleitete Spaziergänge im Garten des Pflegeheims unternommen und erkennbar große Freude empfunden hatte (Anlage K 2 zum Schriftsatz der Klägerin vom 7. Mai 2018 = GA I 151, 154/155). Dabei kommt es nicht entscheidend darauf an, ob ein solcher Unglücksfall nahelag. Wie bereits ausgeführt, kann auch eine Gefahr, deren Verwirklichung nicht sehr wahrscheinlich ist, aber zu besonders schweren Folgen führen kann, Sicherungspflichten des Heimträgers auslösen. Angesichts der Schwere der bei einem Sturz aus einem Fenster des dritten Obergeschosses drohenden Körperschäden musste die Beklagte auch einer nicht sehr wahrscheinlichen, aber gleichwohl nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossenen Gefahrverwirklichung Rechnung tragen (vgl. Senatsurteil vom 22. August 2019 aaO Rn. 25). Dies hat das Berufungsgericht übersehen.

5. Eine etwaige Pflichtverletzung der Beklagten wäre auch fahrlässig im Sinne des § 276 Abs. 2 BGB (i.V.m. § 280 Abs. 1 Satz 2, § 278 Satz 1 beziehungsweise § 831 BGB). Bei erkennbarer, nicht lediglich abstrakt bestehender Selbstschädigungsgefahr war die Ergreifung von Sicherungsmaßnahmen zur Verhinderung eines Fenstersturzes zwingend geboten. Es hätte zum Beispiel ausgereicht, verschließbare Fenstergriffe anzubringen oder die Fenster in Kippstellung zu verriegeln. Für die Menschenwürde und das Freiheitsrecht des Heimbewohners hätte dies keine unzumutbare Beeinträchtigung bedeutet.

III.

1. Das angefochtene Urteil ist demnach aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO) und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 ZPO). Da weitere Feststellungen zu treffen sind, ist der Senat zu einer eigenen Sachentscheidung nach § 563 Abs. 3 ZPO nicht in der Lage.

2. Für das weitere Verfahren weist der Senat darauf hin, dass das Berufungsgericht ungeachtet der rechtsfehlerhaft unterlassenen Feststellungen die Darlegungs- und Beweislast für die tatsächlichen Voraussetzungen einer Pflichtverletzung der Bediensteten der Beklagten richtig beurteilt hat.

Es hat das Sturzgeschehen zutreffend dem "normalen, alltäglichen Gefahrenbereich" im Heim zugeordnet. Kommt der Bewohner in einer solchen Situation zu Schaden, fällt dies grundsätzlich in seine Risikosphäre mit der Folge, dass er für die Pflichtverletzung des Heimträgers und deren Kausalität darlegungs- und beweisbelastet ist (Senatsurteil vom 28. April 2005 - III ZR 399/04, BGHZ 163, 53, 56 f). Die mit der Unterbringung in einem üblichen Heimwohnraum verbundenen Gefahren gehören grundsätzlich zum allgemeinen Lebensrisiko und betreffen nicht den vom Heimträger voll beherrschbaren Gefahrenbereich. Das Berufungsgericht hat es daher zu Recht abgelehnt, allein aus dem Umstand, dass der Erblasser aus dem (nicht verriegelten) Fenster seines Zimmers gestürzt ist, auf eine kausale und schuldhafte Pflichtverletzung des Pflegepersonals der Beklagten zu schließen.

a) Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung kommt dem Verletzten als Gläubiger eines Schadensersatzanspruchs eine Beweislastumkehr dahingehend, dass der Schuldner den Nachweis seines pflichtgemäßen Verhaltens führen muss, allerdings dann zugute, wenn der Gläubiger im Herrschafts- und Organisationsbereich des Schuldners zu Schaden gekommen ist und die den Schuldner treffenden Vertragspflichten (auch) bezweckten, den Gläubiger gerade vor einem solchen Schaden zu bewahren. Danach muss der Krankenhausträger bei Risiken insbesondere aus dem Krankenhausbetrieb, die von der Klinik und dem dort tätigen Personal voll beherrscht werden können, darlegen und beweisen, dass der Schaden nicht auf einem pflichtwidrigen Verhalten beruht (BGH, Urteil vom 18. Dezember 1990 - VI ZR 169/90, NJW 1991, 1540, 1541: Beweislastumkehr zulasten des Krankenhausträgers, wenn ein Patient bei einer Bewegungs- und Transportmaßnahme der ihn betreuenden Krankenschwester stürzt; siehe nunmehr § 630h Abs. 1 BGB). Daran anknüpfend hat der Senat - bezogen auf den Betrieb eines Pflegewohnheims - für eine Beweislastumkehr das Vorliegen einer konkreten Gefahrensituation verlangt, die gesteigerte Obhutspflichten auslöste und deren Beherrschung einer speziell dafür eingesetzten Pflegekraft anvertraut worden war. Es genügt nicht, dass sich ein Schaden in den Räumen beziehungsweise im Bereich des Pflegeheims ereignet hat (Senatsurteil vom 28. April 2005 aaO S. 56; siehe auch OLG Dresden, NJW-RR 2000, 761: Sturz einer Pflegeheimbewohnerin beim begleiteten Gang zur Toilette; OLG Hamm, MDR 2012, 153: Sturz einer Pflegeheimbewohnerin beim Wechseln der Bettwäsche durch einen Pfleger).

b) Nach diesen Grundsätzen kommt eine Beweislastumkehr im vorliegenden Fall nicht in Betracht. Zwar hat die Beklagte die Gefahrensituation, die sich im Sturz des Erblassers verwirklicht hat, eröffnet, indem sie ihn in einem Zimmer ohne Fenstersicherung untergebracht hat. Dies rechtfertigt aber nicht die Annahme einer konkreten Gefahrensituation, die gesteigerte Obhutspflichten auslöste. Der Vorfall ereignete sich vielmehr außerhalb des voll beherrschbaren Gefahrenbereichs des Heimträgers. Der Erblasser war zum Zeitpunkt des Fenstersturzes nicht der Obhut einer Pflegekraft im Rahmen einer konkreten Pflege- oder Betreuungsmaßnahme anvertraut. Er hielt sich überwiegend allein in seinem Zimmer auf und musste nicht dauerhaft persönlich betreut und begleitet werden (siehe auch OLG Hamm, NJW-RR 2003, 30, 31; OLG München, VersR 2004, 618, 619; OLG Köln, VersR 2015, 1393, 1394; OLG Düsseldorf, VersR 2017, 501, 502 f; jeweils zu Schadensfällen außerhalb der unmittelbaren Risikosphäre des Heimträgers).


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