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Sonntag, 21. April 2024

Haftungsabwägung bei Überholvorgang trotz unklarer Verkehrslage

Der Versicherungsnehmer der Beklagten beabsichtigte mir seinem Pkw nach rechts in sein Grundstück abzubiegen, weshalb er seine Geschwindigkeit reduzierte, nach rechts blinkte und das Fahrzeug zunächst etwas nach links zur Fahrbahnmitte (die Fahrbahn hatte keine Mittelmarkierung) hin lenkte. Zu gleichen Zeit setzte der Kläger zum Überholen (links) an. Als beide Fahrzeuge etwa auf gleicher Höhe waren, machte der Versicherungsnehmer der Beklagten eine weitere Lenkbewegung nach links (sogen. Linksschwenk) und es kam zur seitlichen Kollision der Fahrzeuge. Das Landgericht nahm eine Haftungsquote der Beklagten zu 60% an und gab dieser, unter teilweisen Abzügen bei der Schadenshöhe, auf dieser Grundlage statt. Auf die Berufung der Beklagten änderte das OLG das Urteil ab, insoweit es eine Haftungsquotelung von 40% zu 60% zu Lasten des Klägers annahm. 

Der Versicherungsnehmer der Beklagten habe gegen § 9 Abs. 5 StVO (Ausschluss der Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer beim Abbiegen in ein Grundstück) und § 9 Abs. 1 S. 2 StVO (Pflicht zum Einordnen nach rechts) verstoßen. Es käme dabei nicht darauf an, ob das Beklagtenfahrzeug dabei die (gedachte) Mittellinie überfahren habe, ebenso wenig wie es darauf ankäme, ob der Versicherungsnehmer der Beklagten der doppelten Rückschaupflicht nach § 9 Abs. 1 S. 4 StVO genügte. 

Auf Klägerseite läge ein Verstoß gegen § 5 Abs. 4a StVO (Pflicht zur Ankündigung des Überholens durch Benutzung des Fahrtrichtungsanzeigers) sowie gegen § 1 Abs. 2 StVO (allgemeines Gefährdungsverbot) vor. Hinzu käme, dass der Kläger bei unklarer Verkehrslage überholt habe (Verstoß gegen § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO). In der konkreten Situation sei ei n Überholen unzulässig gewesen. Eine unklare Verkehrslage läge vor, wenn nach den Umständen mit einem ungefährdeten Überholen nicht gerechnet werden könne. Das sei z.B. dann der Fall, wenn das Verhalten des Vorausfahrenden unklar sei. Die Unklarheit könne auch auf einem unaufmerksamen, unsicheren, fehlerhaften oder verkehrswidrigen Verhalten eines anderen Verkehrsteilnehmers beruhen. Entscheidend seien die für den Überholenden erkennbaren äußeren Umstände (OLG Saarbrücken, Urteil vom 07.01.2003 - 3 U 258/02 -). 

Nach Angaben des Klägers war diesem das Beklagtenfahrzeug bereits ab der Ortseinfahrt durch seine langsame Fahrweise aufgefallen, ferner soll das Beklagtenfahrzeug ein nicht vorfahrtsberechtigtes Fahrzeug durchgelassen haben. Deshalb habe er, der Kläger, besondere Vorsicht walten lassen und einen größeren Abstand eingehalten, was belege, dass er die Notwendigkeit besonderer Vorsicht erkannt habe. Im weiteren Verlauf sei das Beklagtenfahrzeug bei gesetzten rechten Fahrtrichtungsanzeiger nach links gesteuert worden, was der Kläger wahrgenommen habe. In Ermangelung einer Mittelmarkierung sei für den Versicherungsnehmer der  Beklagten nicht eindeutig erkennbar gewesen, ob er sich noch innerhalb seiner Fahrspur befand, für den Kläger, ob ihm die gesamte Gegenfahrspur zur Verfügung stünde. 

Damit sei ein Überholen unzulässig gewesen. Der Kläger hätte hier aufgrund von ihm wahrgenommener Unsicherheiten in der Fahrweise des Beklagtenfahrzeugs, dem Verkehrsverstoß beim Einordnen zum Abbiegen sowie den örtlichen Gegebenheiten (relativ schmale Fahrbahn ohne Mittelmarkierung) nicht mit einem gefahrlosen Überholen rechnen dürfen. In Ansehung des fehlerhaften Einordnens nach links war für den Kläger auch nicht ersichtlich, wie sich der Versicherungsnehmer der Beklagten weiter verhalten würde, da die (sich verwirklichte) Gefahr bestanden habe, dass dieser noch weiter nach links ausholen würde. Es würde sich um ein unzulässiges, aber weit verbreitetes Phänomen handeln, vor dem Rechtsabbiegen in Einfahrten nach links auszuholen. Zudem sei auch bei einem Einordnen zur Mitte und Reduzierung der Geschwindigkeit en falsches Blinken nach rechts bei einem beabsichtigten Abbiegen nach links denkbar. 

Im Hinblick auf den Verstoß des Klägers gegen § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO falle es nicht beträchtlich ins Geweicht und könne deshalb offen bleiben, ob im Überholen bei relativ geringem Platz und Abstand zugleich ein weiterer Verstoß des Klägers gegen § 5 Abs. 4 StVO (ausreichender seitenabstand beim Überholen) vorläge. 

Bei der gebotenen Abwägung nach §§ 17 Abs. 1 und 2, 18 Abs. 3 StVG sei darauf abzustellen, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder anderen Teil verursacht worden sei. Dabei seine eine Gewichtung der jeweiligen Verursachungsbeiträge bei Würdigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmen (BGH, Urteil vom 28.02.2012 – VI ZR 10/11 -). Nur unstreitige oder zugestandene und bewiesene Umstände seien zu berücksichtigen, wobei jeder Halter dabei die Umstände beweisen müsse, die dem anderen zum Verschulden gereichen und sich auf den Unfall ausgewirkt haben. 

Hier würden danach die Verstöße der Beklagtenseite gegen § 9 Abs. 1 S. 2, Abs. 1 S. 4 und Abs. 5 StVO zulasten der Beklagten wirken. Zu Lasten des Klägers würden die Verstöße gegen §§ 1 Abs. 2, 5 Abs. 3 Nr. 1 und 5 Abs. 4a StVO wirken. Der Verursachungs- und Verschuldensbeitrag des Klägers im Rahmen seines unzulässigen und rücksichtslosen Überholmanövers überwiege dabei den Verursachungs- und Verschuldensbeitrag der Beklagtenseite. Zwar treffe die Beklagtenseite der verschärfte Haftungsmaßstab des § 9 Abs. 5 StVO (Ausschluss der Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer bei abbiegen in ein Grundstück), was in der Regel zu einer beträchtlichen Mithaftung oder auch alleinigen Haftung führe. Das unzulässige und gefährliche Überholen des Klägers unter Verstoß gegen § 5 Abs. 3 Nr. 2 StVO wirke aber noch schwerer, jedenfalls unter Berücksichtigung der begleitenden Umstände. Da davon auszugehen  sei, dass der Versicherungsnehmer rechtzeitig nach rechts blinkte und seine Geschwindigkeit reduzierte, treffe ihn lediglich die Haftung aus dem fehlerhaften Einordnen und dem weiteren Linksschwenk, was sich – so das OLG – als nachvollziehbar und häufig zu beobachtendes Manöver darstelle, um leichter in eine enge Grundstückseinfahrt hineinzufahren. Demgegenüber sei das Verhalten des Klägers über das unzulässige Überholmanöver hinaus gefährlich und rücksichtslos. Es sei aus einem zu geringen Abstand heraus ohne Ankündigung durch Blinken und unter starker Beschleunigung sowie mit einem geringen Seitenabstand erfolgt. Zudem sei es an der Stelle auch vollkommen unverständlich und unnötig gewesen, da das Beklagtenfahrzeug wenige Meter und Sekunden später abgebogen wäre und der Weg für den Kläger frei gewesen wäre. 

OLG Schleswig, Urteil vom 06.02.2024 - 7 U 94/23 -