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Freitag, 4. Oktober 2019

Betreutes Wohnen: Verbrühung durch heißes Wasser beim Baden


Die Klägerin war geistig behindert und litt am Prader-Willi-Syndrom sowie einer insulinpflichtigen Zuckerkrankheit. Sie wohnte in einem Wohnheim für geistig behinderte Menschen, deren Trägerin  die Beklagte war. Am 19.04.2013 bat die Klägerin eine Betreuerin um die ihr, wie in der Vergangenheit, dann erteilte Erlaubnis, ein Bad zu nehmen. Die Klägerin ließ in einer Badewanne Wasser mittels eines Einhebelmischers ohne Begrenzung der  Heißwassertemperatur ein. Anders als in den früheren Fällen führte die von ihr gewählte Einstellung aber dazu, dass das ausströmende Wasser derart heiß war, dass sie schwerste Verbrühungen an den Füßen und Unterschenkeln erlitt. Sie schrie laut und konnte sich selbst aus der Situation nicht befreien, was erst gelang, als ein anderer (behinderter) Heimbewohner das Wasser abließ und eine Pflegekraft rief. Als Folge war die Klägerin u.a. nicht mehr gehfähig du auf einen Rollstuhl angewiesen.

Die Klage wurde abgewiesen und die gegen das klageabweisende Urteil gerichtete Berufung zurückgewiesen. Auf die Revision wurde die Entscheidung des Berufungsgerichts aufgehoben und der Rechtstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Durch den Heimvertrag seien Obhutspflichten der Beklagten gemäß § 241 Abs. 2 BGB zum Schutze der körperlichen Unversehrtheit der ihr anvertrauten Klägerin begründet worden und es habe eine inhaltsgleiche allgemeine Verkehrssicherungspflicht der Bewohner vor Schädigungen bestanden, die ihnen wegen Krankheit oder sonstiger körperlicher oder geistiger Einschränkungen durch sie selbst oder durch die Einrichtung und bauliche Gestaltung des Heims drohten. Eine schuldhafte Verletzung begründe sowohl Schadensersatzansprüche wegen vertraglicher Pflichtverletzung (§ 280 Abs. 1 BGB) als auch korrespondierend damit deliktische Ansprüche aus §§ 823, 831 BGB. Die entsprechenden Pflichten des Trägers des Heimes seien auf die in vergleichbaren Heimen üblichen (gebotenen) Maßnahmen begrenzt, wobei Maßstab das Erforderliche und das für die Heimbewohner und Pflegepersonal Zumutbare sei. Zu beachten sei, dass beim Wohnen im Heim die Würde sowie die Interessen und Bedürfnisse der Bewohner vor Beeinträchtigungen zu schützen und die Selbständigkeit, die Selbstbestimmung und die Selbstverantwortung der Bewohner zu wahren und auch zu fördern sei (§ 2 Abs. 1 Nr. 1 und 2 HeimG).

Der konkrete Inhalt der Verpflichtung, einerseits die Menschenwürde und das Freiheitsrecht eines körperlich oder geistig behinderten Heimbewohners zu achten und andererseits seine körperliche Unversehrtheit zu schützen, müsse an Hand der Umstände des konkreten Einzelfalls entschieden werden. DIN-Normen, die für bestimmte Gefahrenlagen technische Regelungen enthalten würden, seien im Einzelfall zur Konkretisierung der Pflichten des Heimträgers zu berücksichtigen. Zwar hätten DIN-Normen keine normative Geltung sondern als solche nur Empfehlungscharakter, wobei sie die anerkannten Regeln der Technik wiedergeben könnten, aber auch hinter diesen zurückbleiben könnten. Doch würden sie die widerlegbare Vermutung begründen, den Stand der allgemein gültigen Technik wiederzugeben, weshalb sie  zur Feststellung von Inhalt und Umfang von Verkehrssicherungspflichten herangezogen werden könnten, auch außerhalb ihres unmittelbaren Anwendungsbereichs. Jeweils habe aber der Verkehrssicherungspflichtige eigenverantwortlich di erforderliche Maßnahme zu prüfen und dürfe nicht die Norm unbesehen umsetzen. Die Zumutbarkeit von Sicherungsvorkehrungen sei dabei unter Abwägung der Wahrscheinlichkeit der Gefahrverwirklichung, möglichen Schadensfolgen und des mit ihnen verbundenen Aufwandes vorzunehmen. Damit könne ein Heimbewohner erwarten, dass der Heimträger ihn vor einer in einer DIN-Norm beschriebenen Gefahrenlage schützt, wenn er selbst auf Grund körperlicher oder geistiger Einschränkungen dazu nicht in der Lage sei. Der Heimträger müsse in diesem Fall entweder die Empfehlung der DIN-Norm umsetzen oder aber die entsprechende Sicherheit auf andere Art gewährleisten.

Vorliegend sei die DIN EN 806-2 (Technische Regelungen für Trinkwasser-Installationen) einschlägig, wonach die Anlagen für erwärmtes Trinkwasser so zu gestalten seien, dass das Risiko von Verbrühungen gering sei. Der Umstand, dass die Klägerin in der Vergangenheit beim Baden nicht habe beaufsichtigt werden müssen und es auch keiner Kontrolle der Temperatur des einlaufenden Wassers bedurft habe würde hier die Haftung nicht entfallen lassen.

Nicht nur habe es das Berufungsgericht unterlassen Feststellungen dazu zu treffen, ob in vergleichbaren Heimen eine Installation zur Temperaturbegrenzung oder ein gleichwertiger Verbrühungsschutz zum üblichen Standard gehört (dafür würden viele veröffentlichte Entscheidungen sprechen). Jedenfalls aber ergäbe sich aus der DIN-Norm, dass eine Begrenzung der Temperatur auf 43° C empfohlen wird (hier soll es sich um eine Temperatur von ca. 60° C gehandelt haben). Auch wenn die DIN-Norm noch nicht zum Zeitpunkt der Erstellung der Anlage gegolten hat und selbst keine Nachrüstung vorsehe, sei sie durch ihren Hinweis auf die allgemeine Gefahrenlage beachtlich und benenne auch ausdrücklich als schutzbedürftigen Benutzerkreis „Krankenhäuser, Schulen, Seniorenheime usw.“. Daraus ergäbe sich, dass diese Norm auch (nachträglich) in dem Heim der Beklagten zu berücksichtigen gewesen sei, in dem Personen leben, die trotz eines gewissen Grades an Selbständigkeit (anders als in einem Pflegeheim) zu einem eigenständigen Leben ohne Betreuung nicht in der Lage seien.

Die Wasserinstallation habe keine Temperaturbegrenzung gehabt und betrug – entsprechend der Empfehlung zur Vermeidung von Legionellen – ca. 60° C, mithin so heiß, dass es binnen kürzester Zeit zu schwerwiegenden Verbrühungen habe kommen können. Es spräche vieles dafür, dass die Klägerin dies nicht rechtzeitig habe erkennen können, wogegen nicht spräche, dass in der Vergangenheit nichts geschehen sei. Es sei hier, mangels Feststellungen des Berufungsgerichts dazu, davon auszugehen, dass eine geistige Behinderung (Gen-Defekt) bei der Klägerin vorläge, wonach sie auf unerwartete Situationen nicht adäquat reagieren könne.

Da die Beklagte bzw. ihr Personal die Behinderung der Klägerin bekannt gewesen sei, läge Fahrlässigkeit nach § 276 Abs. 2 BGB (iVm. § 278 S. 1 BGB bzw. § 831 BGB) vor.

BGH, Urteil vom 22.08.2019 - III ZR 113/18 -