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Dienstag, 16. August 2022

Schadstoffkonzentration: Lkw-Durchfahrtsverbot und Unterlassungsklage der Anwohner

Recht (auch in Form von Gesetzen) und Rechtsanspruch (in Form der Geltendmachung des kodifizierten Rechts) sind zwei Seiten derselben Medaille. Dies mussten die Kläger, die die Beklagte wegen behaupteter Verstöße gegen ein Lkw-Durchfahrtsverbot in Anspruch nahmen, erfahren. Die Kläger hatten ein Vereinsgelände (auf dem Gelände befanden sich das Vereinsheim und eine Kindertagesstätte)   bzw. ein Wohnhaus an der H-Straße bzw. neben der H-Straße in der Straße Am W.  in Stuttgart-Hedelfingen innerhalb der Stuttgarter Umwelt- und Lkw-Durchfahrtsverbotszone. Das Lkw-Durchfahrtsverbot war durch Zeichen 253 zu § 41 Abs. 1 StVO mit dem Zusatzzeichen nach § 38 Abs. 3 StVO „Lieferverkehr frei“ angeordnet worden.

Nach der Behauptung der Kläger verstoße die Beklagte, die eine Spedition betreibe, mehrmals täglich gegen das Durchfahrtsverbot. Daher sei ihre Gesundheit und die der Kinder durch die Feinstaub- und Stickoxidbelastung gefährdet. Sie begehrten eine Verurteilung auf Unterlassung der Befahrung der H-Straße mit Lkw mit einem höheren Gesamtgewicht als 3,5 Tonnen, sofern die Fahrt nicht dem Ziel der Verbringung von Gütern in die Verbotszone oder von Gütern aus der Zone diene.

Die Klage wurde vom Amtsgericht abgewiesen, die dagegen eingelegte Berufung zurückgewiesen. Auch die zugelassene Revision zum BGH blieb erfolglos.

Das Unterlassungsbegehren ließe sich nicht aus § 1004 Abs. 1 iVm. § 823 Abs. 1 BGB aufgrund der Gesundheitsverletzung ableiten. Auch sei der Beklagten auf der Grundlage des klägerischen Vortrages keine wesentliche Beeinträchtigung der Benutzung der klägerischen Grundstücke iSd. § 906 BGB zuzurechnen, weshalb ein Anspruch aus § 1004 Abs. 1 S. 2 iVm. § 906 BGB ausscheide.

Streitig war - im Revisionsverfahren - ob ein Anspruch der Kläger analog § 823 Abs. 2 iVm § 1004 Abs. 1 S. 2 BGB bestünde. Dass aber hätte zur Voraussetzung, dass die Beklagte wegen der behaupteten Missachtung des durch Zeichen 253 nach § 41 Abs. 1 StVO im Wege eines Verwaltungsakts in Gestalt einer Allgemeinverfügung (BVerwG, Urteil vom 06.04.2016 - 3 C 10/15 -) angeordnetes Lkw-Durchfahrtverbot gegen ein auf das Rechtsschutzbegehren der Kläger ausgerichtetes Verbotsgesetz iSv. § 823 Abs. 2 BGB verstoßen haben müssten, was der BGH verneinte.

Für einen Verstoß gegen ein Schutzgesetz sei erforderlich, dass es zumindest auch dazu dient, dem Einzelnen oder einzelne Personenkreise gegen die Verletzung eines bestimmten Rechtsguts oder Rechtsinteresses zu schützen. Nicht ausreichend sei, dass der Individualschutz durch Befolgung der Norm als Reflex objektiv erreicht werden könne, vielmehr müsse der Individualschutz im Aufgabenbereich der Norm liegen (z.B. BGH, Urteil vom 13.03.2018 - VI ZR 307/18 -). In diesem Fall könne dies auch zu deliktischen Ansprüchen führen, auch wenn die im Einzelfall zur Konkretisierung der Ge- oder Verbote noch der Konkretisierung durch Verwaltungsakte bedürfen (BGH, Urteil vom 14.06.2005 - VI ZR 185/04 -). Das Schutzgesetz sei dann nicht der Veraltungsakt als solcher, sondern die jeweilige Eingriffsnorm, auf die der Verwaltungsakte beruhe.

Nicht nur müsse ein Gebot oder Verbot als Schutzgesetz das geschützte Interesse, die Art seiner Verletzung und den Kreis der geschützten Personen hinreichend klarstellen und bestimmt sein. Weitere Voraussetzung sei, dass die Schaffung eines individuellen deliktischen Anspruchs sinnvoll und im Lichte des haftungsrechtlichen Gesamtsystems tragbar erscheine. Dazu müsse der gesamte Regelungszusammenhang, in den die Norm gestellt sei, dahingehend geprüft werden, ob es in der Tendenz des Gesetzgebers liegen könne, an die Verletzung des geschützten Interesses die deliktische Einstandspflicht des dagegen Verstoßenden mit allen damit zugunsten des Geschädigten Haftungs- und Beweislasterleichterungen zu knüpfen (BGH, Urteil vom 23.07.2019 - VI ZR 307/18 -).

Das Landgericht habe festgestellt, dass das Lkw-Durchfahrtsverbot eine im „Lauftreinhalte- und Aktionsplan“ für Stuttgart vorgesehene Maßnahme zur Verbesserung der Luftqualität sei, welche also planerische Vorgaben iSv. § 47 Abs. 1 und 2 BImSchG umsetze. Umgesetzt würden die durch eine Rechtsverordnung nach § 48a Abs. 1 BImSchG festgelegten Immissionsgrenzwerte. Für den Straßenverkehr sei in Bezug auf Feinstaub- und Stickstoffdioxidkonzentrationen die 39. BImSchV vom 02.08.2010 als Umsetzung europäischer Normen von Bedeutung.

Maßgeblich sei daher für die Beurteilung der Schutzgesetzqualität des Durchfahrtsverbots § 40 Abs. 1 S. 1 BImSchG, wonach die zuständige Straßenverkehrsbehörde den Kraftfahrzeugverkehr nach Maßgabe der straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften beschränke oder verbiete, soweit ein Luftreinhalteplan oder ein Plan für kurzfristige Maßnahmen nach § 47 Abs. 1 oder 2 BImSchG dies vorsehe. Nach den dargelegten Maßstäben sei daher das im „Luftreinhalte- und Aktionsplan“ vorgesehene Lkw-Durchfahrtsverbot kein Schutzgesetz iSv. § 823 Abs. 2 BGB zugunsten der einzelnen Anwohner innerhalb der Durchfahrtsverbotszone.

Zweck des § 40 Abs. 1 S. 1 BImSchG sei die Durchsetzung von Verkehrsbeschränkungen, die in Rechtsverordnungen nach § 48a Abs. 1 BImSchG festgelegt worden seien. Dies diene dem Gesundheitsschutz. Daraus ließe sich aber (entgegen anderweitiger Ansicht) noch nicht ergeben, dass es in der Intention des Gesetzgebers lag, dem Einzelnen generell einen individuellen zivilrechtlichen Unterlassungsanspruch bei Zuwiderhandlungen zu gewähren. Im Streitfall sei das Lkw-Durchfahrtverbot für bestimmte Straßen zur Reduzierung der die dortigen Anlieger beeinträchtigenden Schadstoffkonzentrationen angeordnet worden, um die Luftqualität zu verbessern und einer Überschreitung der Immissionsgrenzwerte entgegenzuwirken. Die Kläger seien nur als Teil der Allgemeinheit davon begünstigt, was bereits gegen den Schutz von Einzelinteressen spräche. Schon durch die Größe der Verbotszone könne nicht angenommen werden, könne nicht angenommen werden, dass die an einer beliebigen Stelle der Verbotszone durch Kraftfahrzeuge verursachten Immissionen für jeden Anlieger in der Zone eine Gefahr der Überschreitung der Werte an seinem Aufenthaltsort und damit eine potentielle Gesundheitsgefährdung verursachen könnten. Dafür, dass die streitgegenständlichen Planmaßnahmen einen Anspruch auf Normvollzug zwischen einzelnen Bürgern begründen sollten, sei nichts ersichtlich.

Auch könnten sich die Kläger nicht auf das Gebot einer möglichst wirksamen Anwendung des Gemeinschaftsrechts (effet utile) berufen. Zwar seien nach der Richtlinie 2008/50/EG über Luftqualität und saubere Luft für Europa Verstöße gegen die aufgrund dieser Richtlinie erlassenen Vorschriften zu sanktionieren; da aber der Verstoß gegen das Lkw-Durchfahrtsverbot eine Verkehrsordnungswidrigkeit sei (§ 49 Abs. 3 Nr. 4 StVO, § 24 Abs. 1 StVG) gäbe es diese Sanktionen, wenn auch die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten nach dem Opportunitätsprinzip im pflichtgemäßen Ermessen der Verfolgungsbehörde liege (§ 47 Abs. 1 OWiG).

BGH, Urteil vom 14.06.2022 - VI ZR 110/21 -

Montag, 28. Oktober 2019

Kein Zinsanspruch der Rechtsschutzversicherung gegen Anwalt mangels Vertrags- oder Vertrauensverhältnis


Die Klägerin als Rechtsschutzversicherer des Mandanten R. der Beklagten hatte Deckungsschutz für das Klage-, Berufungs- und Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren erteilt. Der Mandant der Beklagten (und Versicherungsnehmer [VN] der Klägerin) obsiegte schließlich vor dem BGH. Auf die Kostenfestsetzungsbeschlüsse des Landgerichts zahlte der Prozessgegner eingehend bei der Beklagten Anfang November 2012 die festgesetzten Beträge sowie Zinsen, die die Beklagte Ende November 2012 an den Mandanten R. auszahlte, auch soweit die Klägerin mit Zahlungen für diese Beträge in Vorlage getreten war. Nachdem sich die Klägerin im Juni 2015 bei der Beklagten über den Verfahrensstand informierte und diese die Zahlung an den Mandanten/VN R. mitteilte, forderte sie von dort die Zahlung an. R. zahlte den von der Beklagten an ihn gezahlten Betrag an die Klägerin im August 2015. Mit der Begründung, die Beklagte habe direkt nach Eingang bei ihr den Betrag an die Klägerin weiterleiten müssen, nahm sie diese auf Zahlung von Zinsen für den Zeitraum November 2012 bis August 2015 in Höhe von € 1.081,16 in Anspruch. Das Amtsgericht wies die Klage ab; die von der Klägerin eingelegte Berufung wurde vom Landgericht zurückgewiesen. Eine vom Landgericht zugelassene Revision der Klägerin wurde vom BGH zurückgewiesen.

Der BGH hielt fest, dass die Rechtsschutzversicherung eine Schadensversicherung sei, für die § 86 Abs. 1 S. 1 VVG gelte, derzufolge ein dem VN gegen einen Dritten zustehender Ersatzanspruch gegen den Prozessgegner durch die Zahlung durch die Klägerin auf diesen (aufschiebend bedingt mit der Zahlung im Rahmen des Prozesses) auf diese übergeht. Damit sei der Kostenerstattungsanspruch des VN hier auf die Klägerin übergegangen und habe ihr ein Anspruch gegen die Beklagte auf Auskehrung der Zahlungen zugestanden. Die Empfangsberechtigung der Klägerin ergäbe sich aus Gesetz ohne Dispositionsbefugnis des VN. Die Beklagte, die durch die an sie erfolgten Zahlungen der Klägerin über das Bestehen der Rechtsschutzversicherung informier war, habe sich durch die (versehentliche) Weiterleitung der Gelder an R. von ihrer Leistungsverpflichtung gegenüber der Klägerin nicht befreien können.

Allerdings bestünde kein Verzinsungsanspruch der Klägerin für den benannten Zeitraum. Dieser setze Verzug nach §§ 280 Abs. 2, 286 Abs. 1, 288 Abs. 1 S. 1 BGB voraus, der mangels einer Mahnung der Klägerin hier nicht vorliege. Durch die Weiterleitung an den Mandanten R. habe aber die Beklagte das Geld nicht für sich verwandt. Anders wäre es nur zu beurteilen, wenn die Beklagte über das Geld wie ein Berechtigter verfügt hätte (z.B. bei einem Geschenk oder Darlehensgewährung an Dritte).  Eine entsprechende Stellung habe sich aber hier die Beklagte nicht angemaßt. Das Übersehen des Forderungsübergangs gem. § 86 Abs. 1 S. 1 VVG mache aus der Weiterleitung an den Mandanten keine Eigenverwendung iSv. § 668  BGB.

Ohne den Schuldnerverzug durch Mahnung nach § 286 BGB käme dann nur noch ein deliktischer Anspruch nach § 849 BGB für den Zinsersatz in Betracht. Die Voraussetzungen lägen aber nicht vor, da der allein in Betracht kommende Anspruch nach § 823 BGB  am Fehlen eines Schutzgesetzes scheitere. Insbesondere stelle § 43a Abs. 5 S. 2 BRAO kein Schutzgesetz dar, der vom Anwalt bei der Behandlung anvertrauter Vermögenswerte die erforderliche Sorgfalt verlange (S. 1) und ferner verlange, dass der Anwalt fremde Gelder unverzüglich an den Empfangsberechtigten weiterleite (S. 2). Im Rahmen des § 823 Abs. 2 BGB sei Voraussetzung, dass sich im konkreten Schaden die Gefahr verwirklicht habe, vor die die betreffende Norm schützen soll; der Schaden müsse also in den sachlichen Schutzbereich der Norm fallen als auch müsse der Geschädigte zu dem Kreis derjenigen Personen gehören, deren Schutz die Norm bezwecke. Konkretisiert würde dies in § 4 BORA, wobei der Weiterleitung von Fremdgeldern der Vorrang vor deren Verwaltung auf Anderkonten habe. Es handele sich bei der BORA (Berufsordnung) und BRAO (Bundesrechtsanwaltsordnung) nicht um Gesetze, sondern um autonomes Satzungsrecht eines Berufsstandes, welches aus verfassungsrechtlichen Erwägungen heraus im Allgemeinen die (privat-) rechtliche Beziehung des Rechtsanwalts zu Außenstehenden nicht regeln dürfe. Da die Klägerin Außenstehende sei, scheide § 4 BORA als Schutzgesetz aus.  § 43a Abs. 5 S. 2 BRAO gebe keinen eindeutigen Hinweis, ob sie eine schützende Funktion für den jeweiligen „Empfangsberechtigten“ habe. Geschützt würden in der BRAO das allgemeine Vertrauen in die Korrektheit und Integrität der Anwaltschaft in allen finanziellen Fragen und damit die Funktionsfähigkeit der Anwaltschaft in der Rechtspflege, weshalb es dieses Allgemeininteresse rechtfertige, die rein zivilrechtlichen Pflichten aus einem Anwaltsvertrag als berufsrechtliche Pflichten auszugestalten und deren Verletzung anwaltsgerichtlich zu ahnden. Der Umstand, dass die „Empfangsberechtigten“ als Teil der Allgemeinheit auch auf die Integrität des Anwalts in finanziellen Angelegenheiten vertrauen würden, begründe aber keinen Individualschutz, sondern ebenso wie z.B. die Verschwiegenheitspflicht (§ 43a Abs. 2 BRAO) einen Schutz der Interessen des Mandanten, deren Verletzung zu einem vertraglichen Schadensersatzanspruch und bei gleichzeitiger Verletzung von Strafgesetzen, zu einem deliktischen Anspruch nach § 823 BGB führen würden. Ob § 43a Abs. 5 BRAO auch Schutzgesetz iSv. § 823 Abs. 2 BGB sei, sei umstritten, könne hier aber dahinstehen; selbst wenn die gesetzgeberische Tendenz zugunsten des Mandanten bestünde, dürfte sie sachlich nicht dem deliktsrechtlichen Schutz gegen eine unverzügliche, aber versehentliche Weiterleitung der Gelder an den falschen - nicht berechtigten – Empfänger umfassen. Es gäbe keine Anhaltspunkte, dass § 43a BRAO dem individuellen Schutz des Rechtsschutzversicherers dienen solle. Mit ihm würde den Anwalt kein Vertrag oder sonstiges Vertrauensverhältnis verbinden.

BGH, Urteil vom 23.07.2019 - VI ZR 307/18 -