Sonntag, 23. April 2017

Zum Entstehen der Verkehrssicherungspflicht bei Glatteis

Die Klägerin ist Arbeitgeberin der Geschädigten, die vor dem Hausgrundstück des Beklagten am 22.01.2013 gegen 7.20 Uhr auf dem Gehweg auf einer weder geräumten noch gestreuten Glatteisfläche stürzte und aufgrund Bruchs des Handgelenks arbeitsunfähig erkrankte. Von der Klägerin werden Schadensersatzansprüche aus übergegangen Recht im Hinblick auf die Entgeltfortzahlungspflicht (§ 6 Abs. 1 EFZG) geltend gemacht. Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen; das Landgericht gab ihr im wesentlichen statt. Auf die (zugelassene) Revision änderte der BGH das Urteil des Landgerichts ab und wies die Klage ab.

Dass grundsätzlich durch eine gemeindliche Satzung die Pflicht zur Gehwegreinigung herangezogen werden können und so die Gemeinde ihre Verkehrssicherungspflicht auf den Anlieger abwälzen kann, wird vom BGH bestätigt.  Dies gilt auch für die winterliche Räum- und Streupflicht. Voraussetzung der winterlichen Räum- Streupflicht sei allerdings das Vorliegen einer „allgemeinen Glätte“; nicht ausreichend wäre das Vorliegen vereinzelter Glatteisflächen.

Nach den vom Amtsgericht vorgenommenen und vom Landgericht übernommenen Feststellungen, lag am fraglichen Tag keine allgemeine Glätte vor. Lediglich vor dem Grundstück des Beklagten soll sich eine Eisfläche von ca. 1 x 1m befunden haben, die sich allerdings über die gesamte Breite des Gehweges erstreckt haben soll. Ansonsten sei der Gehweg vor dem Grundstück des Beklagten und allgemein geräumt und trocken gewesen. Feststellungen zur Entstehung der Glatteisfläche oder dazu, dass der Beklagte mit ihr hätte rechnen müssen, wurden von den Vorinstanzen nicht getroffen. Da nach den Witterungsverhältnissen weder mit einer allgemeinen Glätte noch sonst Anhaltspunkte für eine drohende Gefahr bestand, war der Beklagte auch aus der ihm obliegenden allgemeinen Verkehrssicherungspflicht des § 823 BGB zu einer eingehenderen Überprüfung als ein Passant.

Das Berufungsgericht wollte eine weitergehende Prüfpflicht des Beklagten aus der Verkehrssicherungspflicht nach § 823 BGB iVm § 3 der Straßenreinigungs- und Gebührensatzung der Gemeinde annehmen. Dort wurde nicht das Erfordernis der „allgemeinen Glätte“ benannt. Alleine dadurch, dass die Satzung dies nicht ausdrücklich benenne, könne aber nach Auffassung des BGH eine weitergehende Verpflichtung des Anliegers nicht erwachsen. Eine Gemeindesatzung müsse nach den Grundsätzen gesetzeskonformer Auslegung so verstanden werden, dass keine Verpflichtungen aufgenommen werden, die über die Grenze der Zumutbarkeit und Verhältnismäßigkeit hinausgehen. Damit könne die Gemeinde keine Streu- und Räumpflicht für Anlieger begründen, die über die sie selbst treffende allgemeine Verkehrssicherungspflicht hinausgeht. Damit sei davon auszugehen, dass die Gemeinde nur die Verkehrssicherungspflichten der Anlieger bei Schnee- und Eisglätte konkretisieren, nicht aber weiter fassen wollte, als sie der bestehenden Gesetzes- und Rechtslage entsprachen.


BGH, Urteil vom 14.02.2017 – VI ZR 254/16 -


Aus den Gründen:

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil der 11. Zivilkammer des Landgerichts Köln vom 31. Mai 2016 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als zum Nachteil der Beklagten erkannt worden ist, und wie folgt neu gefasst:
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Amtsgerichts Wipperfürth vom 31. März 2015 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten der Rechtsmittelzüge.
Von Rechts wegen

Tatbestand

Die Klägerin nimmt als Arbeitgeberin aus übergegangenem Recht ihrer verunglückten Arbeitnehmerin (künftig: der Geschädigten) die Beklagten als Gesamtschuldner auf Schadensersatz wegen Verdienstausfalles mit der Behauptung in Anspruch, die Geschädigte sei am 22. Januar 2013 gegen 7.20 Uhr auf dem Gehweg des innerstädtisch gelegenen Hausgrundstücks der Beklagten in W. auf einer weder geräumten noch gestreuten Glatteisfläche gestürzt und habe sich eine Fraktur des linken Handgelenks zugezogen. Während der Zeit der unfallbedingten Arbeitsunfähigkeit der Geschädigten hat die Klägerin der Geschädigten Entgeltfortzahlung in Höhe der Klageforderung geleistet.
Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen. Die hiergegen gerichtete Berufung der Klägerin hatte Erfolg und führte - mit Ausnahme eines Teils der Zinsforderung - zur antragsgemäßen Verurteilung der Beklagten. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision erstreben die Beklagten die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.

Entscheidungsgründe

I.
Nach Auffassung des Berufungsgerichts hat die Klägerin nach § 6 Abs. 1 Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG) aus übergegangenem Recht ihrer Arbeitnehmerin, der Geschädigten, einen Anspruch auf Schadensersatz gemäß § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 3 Straßenreinigungs- und Gebührensatzung der Stadt W. wegen Verletzung der Räum- und Streupflicht. Danach seien die Gehwege werktags in der Zeit zwischen 7.00 bis 20.00 Uhr in einer für den Fußgängerverkehr erforderlichen Breite von Schnee freizuhalten und bei Eis- und Schneeglätte zu streuen. Die Vorschrift sei ein Schutzgesetz im Sinne des § 823 Abs. 2 Satz 1 BGB, da sie auch dem Schutz der Fußgänger zu dienen bestimmt sei. Die Beklagten als Grundstückseigentümer seien ihren Räum- und Streupflichten am Morgen des Unfalltages nicht nachgekommen. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme stehe fest, dass sich am Morgen des 22. Januar 2013 gegen 7.20 Uhr auf dem Gehweg vor dem Hausgrundstück der Beklagten eine nicht gestreute Glatteisfläche von jedenfalls ca. 1 x 1 m Größe befunden habe. Es komme nicht darauf an, ob eine "allgemeine Glättebildung" vorgelegen habe. Das Erfordernis einer allgemeinen Glättebildung sei nämlich in § 3 der Straßenreinigungs- und Gebührensatzung der Stadt W. nicht vorgesehen. Soweit die Vorschrift die Verpflichtung des Grundstückseigentümers regele, Gehwege an Werktagen bis 7.00 Uhr auf Schnee und entstandene Glätte zu überprüfen und diese zu beseitigen, begründe dies jedenfalls im Monat Januar bei - hier vorliegenden - nächtlichen Minustemperaturen bei Eisflächen der festgestellten Größe keine unzumutbaren Leistungspflichten. Die Beklagten hätten auch schuldhaft gehandelt, da der Beklagte zu 2 bei dem allmorgendlichen Ausführen seines Hundes gehalten gewesen sei, den sich über eine Strecke von ca. 10 Meter erstreckenden Gehweg vor seinem Haus eingehender zu prüfen als ein Passant. Gemäß § 840 Abs. 1 BGB hafte der nicht in dem Haus wohnhafte Beklagte zu 1 gesamtschuldnerisch mit dem Beklagten zu 2.
II.
Das Berufungsurteil hält revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand.
1. Allerdings sind die Beklagten entgegen der Auffassung der Revision passivlegitimiert. Durch die Rechtsprechung des III. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs ist geklärt, dass im Falle der Übertragung der Pflicht zur Reinigung der Gehwege auf die Eigentümer der Anliegergrundstücke (hier: aufgrund der Ermächtigung nach § 4 Abs. 1 des Straßenreinigungsgesetzes des Landes Nordrhein-Westfalen) ungeachtet hoheitlich ausgestalteter Straßenverkehrssicherungspflichten (hier: § 9a Abs. 1 des Straßen- und Wegegesetzes des Landes Nordrhein-Westfalen) bei Verstößen gegen die Verkehrssicherungspflicht durch Anlieger eine Haftung nach allgemeinem Deliktsrecht begründet wird (vgl. BGH, Urteile vom 30. Oktober 1961 - III ZR 137/60, VersR 1962, 70 und vom 5. Dezember 1991 - III ZR 31/90, VersR 1992, 444). Dieser Rechtsprechung schließt sich der erkennende Senat an.
2. Das Berufungsgericht hat jedoch rechtsfehlerhaft einen - auf die Klägerin nach § 6 Abs. 1 EFZG übergegangenen - Schadensersatzanspruch der Geschädigten wegen Verletzung der Räum- und Streupflicht bejaht.
a) Die winterliche Räum- und Streupflicht beruht auf der Verantwortlichkeit durch Verkehrseröffnung und setzt eine konkrete Gefahrenlage, d.h. eine Gefährdung durch Glättebildung bzw. Schneebelag voraus. Grundvoraussetzung für die Räum- und Streupflicht auf Straßen oder Wegen ist das Vorliegen einer "allgemeinen Glätte" und nicht nur das Vorhandensein einzelner Glättestellen (vgl. Senatsurteil vom 12. Juni 2012 - VI ZR 138/11, VersR 2012, 1050 Rn. 10; BGH, Beschlüsse vom 21. Januar 1982 - III ZR 80/81, VersR 1982, 299, 300; vom 26. Februar 2009 - III ZR 225/08, NJW 2009, 3302 Rn. 4 mwN; Thüringer OLG NZV 2009, 599, 600 mwN; Carl, VersR 2012, 414, 415; Geigel/Wellner, Der Haftpflichtprozess, 27. Aufl., Kap. 14 Rn. 147; Staudinger/Hager, BGB [2009], § 823 Rn. E 128).
b) Nach den vom Berufungsgericht in Bezug genommenen Feststellungen des Amtsgerichts lag eine allgemeine Glätte im Bereich des Grundstücks der Beklagten nicht vor. Vielmehr war auf dem Bürgersteig vor dem Haus der Beklagten lediglich eine einzige Glatteisfläche von ca. 1 x 1 m Größe vorhanden, die sich allerdings fast über die gesamte Breite des Bürgersteigs erstreckte. Ansonsten war der Bürgersteig vor dem Haus der Beklagten - wie auch im Übrigen sowie die Straße - trocken und geräumt. Die Vorinstanzen vermochten weder Feststellungen hinsichtlich der Entstehung der vereinzelten Glatteisfläche auf dem Bürgersteig vor dem Haus der Beklagten zu treffen noch dazu, dass die Beklagten mit ihrer Entstehung rechnen mussten. Bestanden mithin nach den getroffenen Feststellungen aufgrund der Witterungsverhältnisse weder eine allgemeine Glätte noch sonst erkennbare Anhaltspunkte für eine ernsthaft drohende Gefahr durch Glättebildung auf dem Bürgersteig vor ihrem Grundstück, war der Beklagte zu 2 aus Gründen der sich aus § 823 Abs. 1 BGB ergebenden allgemeinen Verkehrssicherungspflicht nicht gehalten, den Bürgersteig - wie vom Berufungsgericht angenommen - beim morgendlichen Ausführen seines Hundes eingehender zu überprüfen als ein Passant (vgl. zur Untersuchungspflicht: OLG München, OLGR 2009, 316, 317; OLG Oldenburg, r+s 1999, 415, nachgehend Senatsbeschluss vom 19. Januar 1999 - VI ZR 75/98; OLG Karlsruhe, VersR 1976, 346; Staudinger/J. Hager, 2009, BGB, § 823 Rn. E 128).
c) Etwas anderes ergibt sich - entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts - auch nicht aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 3 Straßenreinigungs- und Gebührensatzung der Stadt W. Zwar ist das Erfordernis einer "allgemeinen Glätte" in der entsprechenden Vorschrift nicht ausdrücklich genannt. Daraus lässt sich jedoch nicht der Schluss ziehen, dass die Satzung der Stadt W. die Verkehrssicherungspflichten der Anlieger über die Voraussetzungen des § 823 Abs. 1 BGB hinaus erweitern wollte. Eine Gemeindesatzung über den Straßenreinigungs- und Winterdienst muss nach dem Grundsatz gesetzeskonformer Auslegung regelmäßig so verstanden werden, dass keine Leistungspflichten begründet werden, die über die Grenze der Zumutbarkeit und Verhältnismäßigkeit hinausgehen (vgl. Wellner in Geigel, Der Haftpflichtprozess, 27. Aufl., Kap. 14 Rn. 154; OLG Bamberg NJW 1975, 1787). In diesem Zusammenhang kann die Gemeinde auch keine Räum- und Streupflichten für Anlieger begründen, die über die Anforderungen der sie selbst treffenden (allgemeinen) Verkehrssicherungspflicht hinausgehen (vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 31. März 2014 - 9 U 143/13, juris). Es ist deshalb davon auszugehen, dass die Stadt W. in § 3 ihrer Satzung die Anforderungen an die Verkehrssicherungspflichten der Anlieger bei Schnee- und Eisglätte auf Grundlage der bestehenden Gesetzes- und Rechtslage lediglich konkretisieren, jedoch nicht erweitern wollte.
3. Da nach den getroffenen Feststellungen weder eine allgemeine Glätte vorlag noch Umstände ersichtlich sind, dass für die Beklagten erkennbare Anhaltspunkte für eine ernsthaft drohende Gefahr aufgrund einer einzelnen Glatteisstelle bestanden, ist die auf eine Verletzung der Verkehrssicherungspflicht gestützte Klage unbegründet. Da keine weiteren Feststellungen mehr zu erwarten sind, kann der Senat selbst entscheiden und das klageabweisende Urteil des Amtsgerichts wiederherstellen.

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