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Mittwoch, 16. August 2023

Sturz infolge einer Aussparung im Gehwegpflaster und Verkehrssicherungspflicht der Gemeinde

Die Klägerin stürzte auf einem Gehweg in N. und machte gegen die Gemeinde (der die Straßenbaulast gem. § 47 Abs. 1 StrWG NRW oblag) materielle sowie immaterielle Schadensersatzansprüche wegen Verletzung der Verkehrssicherungspflicht (§§ 9, 9a StrWG NRW) geltend, §§ 839 Abs. 1 S. 1 BGB iVm. Art. 34 GG. Zu dem Sturz kam es infolge einer Auslassung in dem Gehwegpflaster bei der Erstellung desselben. Ihre Berufung gegen das klageabweisende Urteil führte nur zu einem teilweisen Erfolg, insoweit ein 50%-iges Mitverschulden berücksichtigt wurde. 

Das Landgericht habe die Aussparung im Gehwegpflaster ausgemessen und sah darin keine abhilfebedürftige Gefahrenstelle. Dem schloss sich das Oberlandesgericht im Rahmen der Berufung nicht an. Die letzte vor einem Farbwechsel des Gehwegbelags von Grau auf Rötlich gelegene Aussparung  habe an zwei ihrer vier Seiten eine Tiefe von mehr als 2,5 cm aufgewiesen, an der parallel zum Gehweg  verlaufenden und zu dessen Seite hin gelegenen Seite habe die Aussparung an ihrem Ende eine Tiefe von 2,8 bis 2,9 cm und an ihrem anderen Ende eine Tiefe von 3,1 bis 3,2 cm gehabt. Die Breite und Länge der Aussparung habe knapp 20 x 20 cm betragen.

Da ein Kind als auch ein Erwachsener mit dem überwiegenden Teil des Fußes auf die parallel zum Gehweg verlaufenden Kante der Aussparung treten und wegen ihrer Tiefe von 3,1 bis 3,2 cm mit dem Fuß seitlich umknicken und dabei schwerwiegend verletzen könne, stelle eine derartige Aussparung (Vertiefung) eine abhilfebedürftige Gefahrenstelle dar. Dem würden auch Entscheidungen des erkennenden Senats vom 17.06.2020 - I-11 U 108/18 - und des OLG vom 24.03.2013 - I-9 U 114/14 - nicht entgegenstehen, in denen einem Höhenversatz von bis zu etwa 3 cm in normalen Fußgängerbereichen ohne Ablenkungsmöglichkeit in der Regel kein Verstoß gegen die Verkehrssicherungspflicht zuerkannt wurde, da dieser Bereich vorliegend jedenfalls teilweise überschritten worden sei und zudem die Gefahrenstelle nicht durch Naturereignisse oder durch Eingriffe Dritter entstanden sei, sondern durch den Verkehrssicherungspflichtigen selbst, weshalb ein besonders strenger Maßstab an die Sicherungspflicht anzulegen sei (OLG Hamm, Urteil vom 03.02.2009 - I-9 U 101/07 - mwN.). Die Aussparung sei bei den Arbeiten der durch die von der Beklagten beauftragten Firma verblieben, weshalb hier ein Höhenunterschied von 2,5 cm als abhilfebedürftige Gefahrenstelle zu bewerten sei.

Entgegen der Ansicht der Beklagten sei diese Aussparung auch nicht deshalb hinnehmbar gewesen, da sich in der Gehrichtung der Klägerin noch weitere ähnlich aussehende Aussparungen befunden hätten. Eine Einschränkung der Verkehrssicherungspflicht für scharfkantige Höhenunterschiede im Gehwegbereich alleine wegen ihrer Erkennbarkeit käme nur bei Erkennbarkeit außergewöhnlich hoher Niveauunterschiede in Betracht, die auch bei einem beiläufigen Blick als für die Gehsicherheit gefährliche Unebenheit erkannt werden könnten. Die Kante müsste mithin in einer Größenordnung liegen, die bei normaler Sorgfalt (bei ebener Fläche nicht gezielt betrachtet) überhaupt nicht oder nicht als gefährliche Unebenheit erkannt würde (OLG Hamm, Urteil vom 17.06.2020 - I-11 U 108/19 -). Dies gelte auch für Löcher und sonstige Vertiefungen im Gehwegbereich. 

Solche Umstände vermochte das OLG nicht zu erkennen. Nach Zeugenaussagen soll es 16 Aussparungen in verschiedenen Tiefen gegeben haben, teilwiese auch nur mit 1,5 cm. Damit ließe sich nicht feststellen, dass die weiteren Aussparungen eine solche Tiefe aufgewiesen hätten, die die Klägerin mit beiläufigen Blick als ihre Gehsicherheit gefährdend hätten erkennen müssen. Nach einem Foto, welches ein Zeuge unmittelbar nach dem Vorfall aufgenommen habe, war zudem die streitbefangene, vom Landgericht vermessene Aussparung mit Laub gefüllt gewesen.

Der Beklagten sei es möglich und zumutbar gewesen, den Fußgängerverkehr durch Aufstellen von Schildern oder Warnbaken vor den Gefahren. Die von der vom Landgericht vermessenen Aussparung ausgingen, zu schützen oder zumindest zu warnen.

Die Beklagte sei ihrer Verkehrssicherungspflicht nicht nachgekommen. Sie bzw. die von ihr beauftragte Firma hätte die Unfallgefahr der fraglichen  Stelle erkennen können und müssen. Die Beklagte entlaste auch nicht, dass die Aussparung nicht von ihr selbst, sondern von der von ihr beauftragten Firma geschaffen wurde, da sie die Arbeiten nach deren Beendigung unter dem Gesichtspunkt der Verkehrssicherheit hätte kontrollieren und für eine Abhilfe, zumindest für eine Kennzeichnung hätte sorgen müssen.

Allerdings sei der Klägerin ein Mitverschulden (§ 254 BGB) anzulasten. In ihrer Gehrichtung hätten sich bereits vor der fraglichen Stelle einige Aussparungen befunden, die ihr (jedenfalls bei der zu fordernden Eigensorgfalt) nicht entgangen sein könnten. Trotz Laub seien die Aussparungen als solche als abgrenzbare Flächen in dem Gehwegpflaster deutlich zu erkennen gewesen. Auch wenn sich ihre Tiefe nicht habe feststellen lassen, hätte ein umsichtiger und auf seien eigene Sicherheit bedachter Gehwegbenutzer ihnen gerade deshalb besondere Aufmerksamkeit geschenkt oder ihr Betreten vermieden.

Das Mitverschuldens sei aber nicht so gravierend, dass deshalb ein Ersatzanspruch entfalle. Das anspruchsausschließende Mitverschulden käme nur in Betracht, wenn dem Geschädigten der Vorwurf eines von einer ganz besonderen, schlechthin unverständlichen Sorglosigkeit gekennzeichneten Handelns gemacht werden müsse (BGH, Urteil vom 20.06.2013 - III ZR 326/12 -). Dafür müsse er sich z.B. sehenden Auges in eine für ihn gefährliche Situation begeben. Dieser Vorwurf könne hier der Klägerin nicht gemacht werden, da sie die Tiefe der Aussparung nicht habe erkennen können. Da sie aber den vorher gelegenen Vertiefungen keine Beachtung geschenkt habe, wiege ihr Mitverschuldensanteil nach Auffassung des OLG gleich schwer wie der der Beklagten.

OLG Hamm, Urteil vom 01.03.2023 - I-11 U 73/22 -