Mittwoch, 15. April 2020

Betriebskostenabrechnung: Anforderungen an Verteilungsmaßstab Fläche bei gemischter Nutzung


Amts- und Landgericht hatten die Klage der Vermieterin auf Zahlungen aus Betriebskostenabrechnungen 2014 und 2015 sowie Heizkostenabrechnung 2015  mit der Begründung der fehlenden Nachvollziehbarkeit durch die Mieter abgewiesen; so seien u.a. die Gewerbe- und Wohneinheiten getrennt abgerechnet worden, ohne dass die Zusammensetzung der Flächen erläutert sei. Die (zugelassene) Revision führte zur Aufhebung und Zurückverweisung des Verfahrens an das Landgericht.

Eine Betriebskostenabrechnung entspräche den formellen Anforderungen, wenn sie den Anforderungen des § 259 BGB entspräche. Es müsse sich also um eine geordnete Zusammenstellung der Einnahmen und Ausgaben handeln. Dies erfordere bei Gebäuden mit mehreren Wohneinheiten folgende Mindestangaben: a) Zusammenstellung der Gesamtkosten, b) Berechnung des Anteils des Mieters und Abzug der Vorauszahlungen. Der Verteilungsmaßstab (Umlagenschlüssel) müsse nur dann erläutert werden, wenn dies zum Verständnis der Abrechnung erforderlich sei (BGH, Urteil vom 11.08.2020 - VII ZR 45/10 -). Dem würde die klägerische Abrechnung entgegen der Auffassung der Vorinstanzen entsprechen.

Die Betriebskosten seien, unterteilt nach Betriebskostenart, in der ersten Spalte der Abrechnung als Gesamtkosten benannt. Soweit bei der weiteren Abrechnung nicht der gesamte Betrag umgelegt wurde, habe die Klägerin dies in Anlagen erläutert, wobei auf sich beruhen könne, ob diese Erläuterungen in Ansehung neuerer Entscheidungen des BGH (Urteil vom 20.01.206 - VIII ZR 93/15 -) überhaupt erforderlich seien. Der angewandte Umlagenschlüssel nach dem Flächenmaß erfolgte dergestalt, dass die Gesamtflächen und die Wohnfläche der Wohnung der Mieter angegeben worden seien, was sich den Abrechnungen ohne weiteres entnehmen ließe. Daraus ergäbe sich die Berechnung des Anteils der Beklagten und auch die Vorauszahlungen seien in Abzug gebracht worden.

Entgegen der Annahme des Berufungsgerichts habe der Umlagenschlüssel nicht weiter erläutert werden müssen, da der Verteilungsmaßstab Fläche aus sich heraus verständlich sei. Der Umstand, dass klägerseits verschiedene Gesamtflächen zugrunde gelegt worden seien, ändere daran nichts: Bei einigen Positionen sei die Gesamtfläche der mehrere Gebäude umfassenden Gesamtanlage erfasst, während bei anderen kleiner Abrechnungskreise (so einzelne Gebäude) gebildet wurden. Auch das genüge den formellen Voraussetzungen. Es sei keine Angabe erforderlich, aus welchen einzelnen Gebäudeteilen / Hausnummern sich die jeweils zugrunde gelegte Wirtschafts-/Abrechnungseinheit zusammensetze (BGH, Beschluss vom 14.02.2012 - VIII ZR 207/11 -).

Der Einwand, die Klägerin sie von einem vereinbarten Umlagenschlüssel abgewichen, würde die materielle Richtigkeit, nicht die formelle Wirksamkeit der Abrechnung betreffen, wobei auch hier nicht ersichtlich sei, dass ein vom Flächenmaßstab abweichender Umlagenschlüssel vereinbart worden wäre oder die Bildung von Wirtschaftseinheiten ausgeschlossen hätte. Auch soweit das Berufungsgericht Widersprüche bei den angesetzten Gesamtflächen zu den Positionen Hausstrom, Aufzug und Hausreinigung angenommen habe, würde dies nicht die formelle Ordnungsgemäßheit tangieren können.

Auch der Einwand nicht nachvollziehbarer Erläuterungen zu den Betriebskosten würde bereits deshalb nicht greifen, da es einer Erläuterung nicht bedürfe. Auch die Berufung darauf, dass einzelne Kostenarten (Müll, Hausreinigung) doppelt benannt seien und auf unterschiedliche Gesamtflächen verteilt worden seien, würde allenfalls einen materiellen, aber keinen formellen Fehler darstellen (unabhängig davon, dass dies von der Klägerin sogar in den Anlagen  erläutert worden sei und dort auch ausgeführt worden sei, dass bei der Müllentsorgung die besonders hohen Kosten der Gewerbetriebe vorab abgezogen worden seien).

Anmerkung: Der BGH hat klar die strikte Trennung von formeller und materieller Richtigkeit gezogen. Während die formelle Fehlerhaftigkeit der Abrechnung zur Abweisung der Klage führt und ggf. bei zwischenzeitlichen Ablauf der Abrechnungsfrist (§ 556 Abs. 3 BGB für Wohnraum) eine Nachforderung ausgeschlossen ist, ist bei materieller Unwirksamkeit einzelner Positionen die Abrechnung im Übrigen gleichwohl noch wirksam und kann eine Neuberechnung durch entsprechende Berichtigung vorgenommen werden.  

BGH, Urteil vom 29.01.2020 - VIII ZR 244/18 -

Dienstag, 14. April 2020

Schadensersatz: Wiederbeschaffungswert und Umsatzsteuer für Taxi bei fiktiver Schadensberechnung


Die Parteien stritten (zweitinstanzlich) um die Frage der Berechnung des Wiederbeschaffungswertes im Hinblick auf die umsatzsteuerrechtliche Problematik im Zusammenhang mit einem Taxi des Klägers.  

Wiederbeschaffungswert, so das Landgericht (LG) sei der nach den Verhältnissen auf dem Gebrauchtwagenmarkt zu ermittelnde Nettopreis eines gebrauchten Kraftfahrzeugs, den der Geschädigte aufwenden müsse, um von einem seriösen Händler einen dem Unfallfahrzeug entsprechenden Ersatzwagen zu erwerben (BGH, Urteil vom 23.05.2017 - VI ZR 9/17 -). Dabei sei weiter zu ermitteln, ob diese Fahrzeuge üblicherweise auf dem Gebrauchtwagenmarkt regelbesteuert nach § 10 UStG, differenzbesteuert nach § 25a UStG oder privat und damit umsatzsteuerfrei angeboten würden. Entscheidend sei die überwiegende Wahrscheinlichkeit, § 287 ZPO (BGH, Urteil vom 13.09.2016 - VI ZR 654/15 -).

Es käme nicht darauf an, ob der Geschädigte vorsteuerabzugsberechtigt sei oder nicht und ob das Fahrzeug zu seinem Betriebsvermögen gehöre, §§ 15, 15a UStG. Entscheidende Bezugsgröße sei stets der Nettowiederbeschaffungswert. Inwieweit bei einem fiktiven Ersatzkauf (wie hier) Umsatzsteuer anfalle, sei unabhängig davon zu ermitteln.

Erstinstanzlich habe ein Zeuge im Hinblick auf Internetrecherchen bzw. Angaben in der Schwacke-Liste ausgeführt, dass es bei 63%  der Fahrzeuge zu einer Regelbesteuerung käme, allerdings eine überwiegende Wahrscheinlichkeit nur bei 2/3 bzw. 67% annehmen sei. Diesem erstinstanzlichen Ansatz würde die Kammer nicht folgen. Entscheidend sei, dass jedenfalls deutlich mehr als 50% der gefundenen Fahrzeuge regelbesteuert angeboten würden. Zwar gelte für die Lieferung bewegliche Gegenstände nach § 25a Abs. 1 UStG die Differenzbesteuerung, wenn der liefernde Unternehmer ein Wiederverkäufer sei (§ 25a Abs. 1 Nr. 1 UStG), die Gegenstände an ihn ihm Gemeinschaftsgebiet (EU) geliefert worden seien (§ 25a Abs. 1 Nr.2.  S. 1 UStG), für die Lieferung an ihn keine Umsatzsteuer geschuldet würde oder beim Kleinunternehmer nach § 19 Abs. 1 UStG nicht erhoben würde (§ 25a Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 Buchst. a UStG) oder ein Erwerb von einem anderen Wiederverkäufer vorläge (§ 25a Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 Buchst. b UStG).

Vorliegend seien gewerblich genutzte Fahrzeuge nicht nur von Händlern zu erwerben. Vergleichbare Taxis würden nach der Internetrecherche des Zeugen auch von Privatanbietern oder Händlern ohne Umsatzsteuer zu verkauft. Das vom LG beauftragte Sachverständigengutachten käme aber zu dem eindeutigen Ergebnis, dass vergleichbare Taxis (hier ein Mercedes Benz E 200 CDI) sowohl außerhalb des regulären Gebrauchtwagenmarktes für Taxis als auch auf den gängigen Internetplattformen ganz überwiegend regelbesteuert angeboten würden, sowohl von auf Gebraucht-Taxis spezialisierten Händlern als auch ansonsten. Damit aber sei von einer Regelbesteuerung auszugehen mit der Folge, dass der Kläger hier, da er vorsteuerabzugsberechtigt sei, nur den Nettofahrzeugschaden geltend machen könne.

LG Saarbrücken, Urteil vom 03.04.2020 - 13 S 6/20 -

Donnerstag, 9. April 2020

Zeugenentschädigung: Verminderter Anspruch bei Anreise von einem weiter entfernten Ort als dem Ladungsort


Die Zeugenentschädigungen in Deutschland sind ohnehin nicht „üppig“ und decken häufig nicht einmal den tatsächlichen Aufwand (wie Verdienstausfall und auch Fahrtkosten). Umso ärgerlicher ist es dann, wenn der Zeuge nicht einmal die Fahrtkosten für die tatsächlich zurückgelegte Strecke erhält. Der Fall zeigt auf, dass auch ein Zeuge unter Umständen gegenüber dem Gericht tätig werden muss, will er die gesetzliche Aufwandsentschädigung vollständig erhalten.

Sachverhalt: Der Zeuge wurde vom Amtsgericht (AG) unter seiner Wohnanschrift in R. zu einem Verhandlungstermin am 23.11.2017 geladen. Der Zeuge erschien auch und wurde vernommen. Allerdings lehnte die Kostenbeamtin seinen Antrag auf Erstattung von Fahrtkosten für eine Strecke von (hin und zurück) 800km (à € 0,25/km), wohl von seinem Beschäftigungsort, sowie einen Verdienstausfall für 11,5 Stunden (à € 25,86/Stunde) ab und gewährte nur eine Entschädigung für 100km( hin und zurück) à € 0,25/km und 10 Stunden Verdienstausfall à € 21,00/Stunde. Eine vom Zeuge begehrte „Auslöse“ von € 24,00 wurde auch abgelehnt.

Zur Entscheidung des AG:

a) Verdienstausfall
Nach § 22 JVEG wird der Verdienstausfall nach dem regelmäßigen Bruttoverdienst einschl. der vom Arbeitgeber zu tragenden Sozialversicherungsbeiträge berechnet. Das AG wies darauf hin, dass § 22 JVEG eine Höchstgrenze von € 22,00/Stunde vorsehe und nach § 19 Abs. 2 JVEG auch nur höchstens 10 Stunden/Tag erstattet werden. Dies gelte auch dann, wenn dem Zeugen für einen längeren Zeitraum ein höherer Verdienstausfall entstanden sei. Von daher wären maximal € 210,00 und nicht, wie begehrt, 11,5 Stunden à € 25,86 (insges. € 297,29) und € 24,00 zu erstatten.

b) Fahrtkosten
Nach Auffassung des Amtsgerichts, die im Übrigen von der herrschenden Rechtsprechung geteilt wird, muss der Zeuge dem Gericht unverzüglich mitteilen, wenn er von einem anderen (weiter entfernt liegenden) Ort seine Reise als dem Ladungsort (hier seine Wohnanschrift) zum Gerichtstermin antreten werde. Nur wenn in diesem Fall das Gericht seine Ladung aufrecht erhalte, habe der Zeuge einen Anspruch auf Erstattung der Fahrtkosten von dem von ihm angezeigten Ort zum Gerichts- bzw. Terminsort. Dies würde auch dann gelten, wenn er zwar nicht unmittelbar nach der Ladung die Mitteilung mache, wenn er jedenfalls die Mitteilung noch so rechtzeitig vor dem Termin mache, dass das Gericht darüber befinden könne, ob diese Fahrt „durch  besondere Umstände genötigt“ (§ 5 Abs. 1 JVEG) sei.

Der Zeuge habe keine Mitteilung, insbesondere zu dem Grund der Anreise von einem anderen Ort, an das Gericht gemacht, weshalb eine Prüfung nach § 5 Abs. 1 JVEG nicht möglich gewesen sei. Daher trage er das Risiko, dass das Gericht bei einer Entschädigung solche Umstände nicht anerkennt und er von daher die Kosten selbst tragen müsse.

c) Ermessensentscheidung
Es handele sich um eine Entscheidung, die im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts stünde. Zur Ausübung desselben wies das AG darauf hin, dass die Mehrkosten erstattet werden könnten, wenn das Gericht den Zeugen als unverzichtbar angesehen würde, und ihn  meint nicht im Wege der Rechtshilfe bei dem hier für den Arbeitsort zuständigen Amtsgericht im Wege der Rechtshilfe vernehmen lassen will. Vorliegend sei eine solche Vernehmung im Wege der Rechtshilfe möglich gewesen.

d) Rechtsfolge
Die unterlassene Mitteilung des Zeugen, dass er von einem weiter entfernt liegenden anderen Ort als den Ladungsort anreise, führe dazu, dass er leidglich die Fahrtkosten erstattet verlangen könne, die bei einer Fahrt vom Ladungsort entstanden wären (OLG Brandenburg, Beschluss vom 05.06.2009 - 6 W 68/09 -).

Das AG wies darauf hin, dass die unterlassene Mitteilung auch Konsequenzen für die Entschädigung des Verdienstausfalls haben könnte (OLG Brandenburg aaO.).

AG Brandenburg, Beschluss vom 30.04.2019 - 31 C 88/16 -

Dienstag, 7. April 2020

Arglistige Obliegenheitspflichtverletzung in der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung bei unerlaubtem Entfernen vom Unfallort


Der Kläger ist Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherer eines Fahrzeugs der Großmutter des (als Fahrer mitversicherten) Beklagten, der mit dem Fahrzeug an einem Verkehrsunfall beteiligt war. Beim Überholen touchierte der Beklagte mit seinem Fahrzeug das Fahrzeug des Überholten und setzte seine Fahrt fort. Der Beklagte wurde wegen unerlaubten Entfernend vom Unfallort in der Folge strafrechtlich verurteilt. Der Kläger, der gegenüber dem Unfallgegner dessen Sachschaden ausgleichen musste, forderte von dem Beklagten die verauslagten € 2.162,26. Streitig war, ob eine Obliegenheitspflichtverletzung des Beklagten aus dem versicherungsvertrag heraus vorlag, da der Beklagte sich unerlaubt vom Unfallort entfernte und erst nach 11 Stunden als Täter hätte ermittelt werden können.

Während das Amtsgericht die Klage abwies, wurde auf die Berufung des Klägers hin der Klage stattgegeben. Dabei stellte das Landgericht darauf ab, dass nach § 28 Abs. 3 S. 2 VVG der Versicherer nicht zur Leistung verpflichtet sei, auch wenn die Obliegenheitsverletzung weder für den Eintritt des Versicherungsfalls oder dessen Feststellung ursächlich sei, wenn der Versicherungsnehmer die fragliche Obliegenheit arglistig verletzt habe. Diese Arglist läge vor. Sie verlange keine Bereicherungsabsicht des Versicherungsnehmers. Ausreichend sei es, dass der Versicherungsnehmer billigend in Kauf nähme, dass sein Verhalten den Versicherer bei der Schadensregulierung möglicherweise beeinflussen könnte (BGH, Urteil vom 22.06.2011 - IV ZR 174/09 -). Auch wenn nicht bereits jedes unerlaubtes Entfernen vom Unfallort als Arglist im Hinblick auf versicherungsrechtliche Obliegenheiten angesehen werden könne, es vielmehr auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls ankäme, und der Versicherer die Beweislast für das Vorliegen von Arglist habe, müsse hier davon ausgegangen werden.

Das Landgericht leitete die Arglist des Beklagten aus dessen Verhalten gegenüber den Ermittlungsbehörden und den Fahrweg des Beklagten nach dem Unfall ab:

Habe er zunächst am Unfalltag gegenüber den Ermittlungsbehörden den Unfall eingeräumt, habe er ihn am nächsten Tag in Abrede gestellt. In der Hauptverhandlung im Strafverfahren habe er erst angegeben, nichts bemerkt zu haben und nach einer Unterbrechung des Verfahrens angegeben, dass er nervös geworden sei und deswegen weitergefahren sei.

Weiter sei der Streckenverlauf der Weiterfahrt nach dem Unfall zur Schulde des Beklagten, wohin er wollte, nicht plausibel. Der Streckenverlauf deute darauf, dass er versucht habe, seinen Verfolger (den Geschädigten) abzuhängen.

Nicht entschuldigen könne den Beklagten der von ihm behauptete anwaltliche Rat, sich nicht bei der Ermittlungsbehörde zu melden; er sei sich seiner Verpflichtung letztlich bewusst gewesen, sich als beteiligter den Ermittlungsbehörden gegenüber zu offenbaren.

Bei dieser Situation, bei der nach § 286 ZPO ein Grad an Gewissheit erreicht sei, der Zweifeln Schweigen gebiete, müssen von einer vorsätzlichen Obliegenheitspflichtverletzung ausgegangen werden, da der Beklagte billigend in Kauf genommen habe, dass sein Verhalten die Schadensregulierung beeinflussen könne. Der Nachweis der arglistigen Obliegenheitsverletzung sie erbracht.

LG Osnabrück, Urteil vom 26.03.2020 - 9 S 166/19 -

Montag, 6. April 2020

Baugenehmigung unter Befreiung von Abstandsflächen wegen fehlender Verletzung des Rücksichtnahmegebots ?


Der Beigeladene beantragte eine Baugenehmigung unter Befreiung von Abstandsflächen zum Grundstück des Antragstellers. Dies wurde von der Antragsgegnerin (Bauamt) gewährt, da nach der topografischen Lage des Grundstücks eine Beeinträchtigung des Grundstücks des Antragsstellers nicht vorläge. Der Antrag des Antragstellers auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs gegen den Bescheid wurde vom Verwaltungsgericht abgewiesen. Die Beschwerde dagegen war erfolgreich.

Als unstreitig konnte der VGH davonausgehen, dass eine nach § 6 HBO bestimmet Abstandsfläche nicht eingehalten sei. Zwar sei eine Abweichung von dieser Norm nach § 63 HBO zulässig, wenn dies unter Berücksichtigung des Zwecks der Anforderung und unter Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belange mit den öffentlichen Belangen (und somit auch insbesondere aus § 3 Satz 1 HBO:  keine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, Leben, Gesundheit) vereinbar sei.

Zwar würden außergewöhnliche bodenrechtliche Umstände zu einer atypischen Situation führen, die ein Abweichen bei einem Bauvorhaben rechtfertigen könnten. Es müsste sich um eine solche Situation handeln, die einen konkreten Einzelfall betrifft  und sich derart von dem gesetzlichen Regelfall unterscheide, dass dies die Nichtberücksichtigung des normativen Standards rechtfertige. Weiterhin müssten aber auch im Rahmen der Ermessensentscheidung der Zweck der Abstandsflächenregelung, die Belange der Grundstücksnachbarn und öffentliche Belange berücksichtigt werden.

Zwar hätte hier die Antragsgegnerin die Verhältnisse vor Ort erwogen, allerdings verkannt, dass alleine eine fehlende (gravierende) Beeinträchtigung des Nachbarn in Ansehung der topographischen Verhältnisse die Unterschreitung von Abstandsflächen nicht rechtfertige.  Das Gebot der Rücksichtnahme erfordere vielmehr weiterhin, dass Gesichtspunkte hinzukommen, die in den besonders zu berücksichtigenden Verhältnisse auf dem Baugrundstück oder den für das Vorhaben sprechenden Gründen lägen. Es sei also erforderlich, dass Umstände neben der fehlenden oder geringen Auswirkung der Verringerung der Abstandsflächen Verhältnisse aus dem Bauvorhaben heraus oder dem Baugrundstück heraus dies erfordern. Lägen solche Gründe, wie hier, nicht vor, bestünde ein Ermessendefizit bei der Entscheidung durch die Antragsgegnerin, das zur Rechtswidrigkeit die Verkürzung der Abstandsflächen führt. Insbesondere sei nicht festgestellt worden, dass dem Beigeladenen eine sinnvolle Ausnutzung seines Grundstücks ohne diese Genehmigung nicht möglich sei.

HessVGH, Beschluss vom 15.11.2019 - 4 B 1276/19 -

Donnerstag, 2. April 2020

Gerichtsvollzieher: Jeweils Gebühren bei mehreren Versuchen zur gütlichen Erledigung ?


Der Gerichtsvollzier war zunächst mit der Pfändung beauftragt und, sollte der Schuldner mehrfach nicht angetroffen werden,  nach deren Fruchtlosigkeit mit der Einholung einer Vermögensauskunft. In dem für die Beauftragung verwandten amtlichen Formular wurde nicht ausgeschlossen, dass Einverständnis mit dem Versuch des Gerichtsvollziehers zu einer gütlichen Erledigung bestünde. Sowohl im Rahmen eines Anschreibens des Gerichtsvollziehers an den Schuldner, mit dem er sein Erscheinen zur Pfändung ankündigte, als auch mit der Ladung zur Vermögensauskunft wies der Gerichtsvollzieher den Schuldner jeweils auf die Möglichkeit einer gütlichen Erledigung hin. Im Hinblick darauf setzte der Gerichtsvollzieher in seiner Kostenrechnung vom 19.10.2017 (betreffend Pfändungsversuch) als auch ins einer Kostenrechnung vom 07.11.2017 betreffend der Vermögensauskunft eine Gebühr nach KV 208 in Höhe von jeweils € 8,00 zuzüglich (anteilige) Auslagenpauschale an.

Der Bezirksrevisor legte gegen die Berechnung der gebühr mit Rechnung vom 07.11.2017 Erinnerung ein, da der erneute versuch nach drei Wochen, eine gütliche Erledigung zu erreichen, eine fehlerhafte Sachbehandlung darstelle. Das Amtsgericht wies die Erinnerung, das Landgericht die zugelassene Beschwerde. Das OLG hat die zugelassene weitere Beschwerde ebenfalls zurückgewiesen.

Das OLG verwies formal darauf, dass hier  zwei Aufträge gem. § 3 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 GvKostG vorgelegen hätten und für jeden Auftrag  die Gebühr für einen Versuch zur gütlichen Erledigung anfallen würden. Dies gelte dann nicht, wenn der Auftrag zur Abnahme der Vermögensauskunft mit einem Vollstreckungsauftrag verbunden sei (§ 807 Abs. 1 ZPO), es sei denn, der Gerichtsvollzieher nähme die Vermögensauskunft nur deshalb nicht ab, da (wie hier) der Schuldner nicht anwesend ist.

Da aber auch der Gerichtsvollzieher den Schuldner jeweils nicht angetroffen habe, konnte er auch nicht einschätzen, inwieweit der Schuldner evtl. zu einer gütlichen Erledigung bereit wäre (LG Verden, Beschluss vom 23.10.2018 - 6 T 121/18 -).  Es läge daher auch kein Verstoß gegen ein Kostenminderungsgebot nach § 802a Abs. 1 GVG bzw. § 58 GVGA vor.

Ebenfalls läge keine unrichtige Sachbehandlung vor, § 7 Abs. 1 GvKostG. Es müsste ein Verstoß gegen eindeutige Gesetzesbestimmungen einschl. Verwaltungsbestimmungen (wie GVGA oder SB-GvKostG) vorliegen. Im Rahmen möglichen Ermessens des Gerichtsvollziehers würde erst die Überschreitung desselben unrichtig sein. Alleine eine bestimmte Beurteilung zu einer in der obergerichtlichen Rechtsprechung nicht geklärten Sachfrage würde keine unrichtige Sachbehandlung auslösen.

Anmerkung: In der Praxis habe ich bisher noch keinen für den Gläubiger vorteilhaften Fall erlebt, bei dem er im Falle einer „gütlichen  Erledigung“, gar über den Gerichtsvollzieher, ein mit einer Zwangsvollstreckung angestrebtes Ziel besser oder schneller erreicht hätte. Von daher wird bei hier betriebenen Vollstreckungsmaßnahmen ein Erledigungsversuch durch den Gerichtsvollzieher regelmäßig ausgeschlossen. Damit wird auch verhindert, dass mit minimalsten Raten, deren Auszahlungen häufig nicht einmal die Kontoführungsgebühren decken, letztlich nur Arbeit verursacht wird, ohne dass die eigentliche Schuld getilgt wird. Verhindert wird zudem ein Anwachsen von Gebühren und damit Kosten für den vertretenen Gläubiger durch in der Regel (wie im vorliegenden Fall) ineffektive Maßnahmen. Das aber wird jeder Gläubiger für sich abzuwägen haben, und er sollte es auch vorab abwägen, insbesondere ob er, wie im vorliegenden Fall, für jede Vollstreckungsmaßnahme diesen Erledigungsversuch wünscht und sich davon einen Vorteil in Bezug auf einen Vollstreckungserfolg  erhoffen kann.

OLG Oldenburg, Beschluss vom 11.03.2020 - 2 W 9/20 -

Mittwoch, 1. April 2020

Schadensersatz: Unbegründete Klage im Rahmen der gewillkürten Prozessstandschaft bei Zession an Dritte ?


Unstreitig verschuldete der Versicherungsnehmer der beklagten Versicherung alleine einen Verkehrsunfall, an dem neben diesem der Kläger beteiligt war. Der Kläger holte ein Sachverständigengutachten ein  und ließ sodann die Reparatur durchführen; seine Ansprüche diesbezüglich trat er an die Werkstatt bzw. den Sachverständigen in Höhe von deren jeweiligen Forderungen ab.  Teilweise wurde seitens der Beklagten auf die Rechnungen der Werkstatt und des Sachverständigen Zahlung geleistet. In Ansehung der Restforderungen erhob der Kläger Klage und machte geltend, er könne die Ansprüche in gewillkürter Prozessstandschaft geltend machen.

Das Amtsgericht wies die Klage ab. Mit der Abtretung seiner Forderungen könne der Kläger nicht mehr Freistellung (§ 257 BGB) oder Zahlung an sich begehren (§ 250 S. 2 BGB). Zwar würde hier der Kläger dementsprechend auch nicht Zahlung an sich, sondern an die Werkstatt bzw. den Sachverständigen fordern, doch würde ihm hier die (von Amts wegen zu prüfende) Prozessführungsbefugnis fehlen und ein Fall gesetzlicher Prozessstandschaft nicht vorliegen. Aber auch einen Fall der gewillkürten Prozessstandschaft negierte das Amtsgericht.

Die gewillkürte Prozessstandschaft setze ein schutzwürdiges Interesse des Rechtsinhabers als auch des Dritten voraus. Es lägen nur die einseitigen Erklärungen der Zessionare vor, woraus das Amtsgericht mutmaßt, dass die Werkstatt und er Sachverständige mit einem „Abtretungsmodell“ arbeiten würden. De facto würde der Kläger den Prozess für die Werkstatt und den Sachverständigen führen, habe den Prozess vorfinanziert und trage das Prozessrisiko. Bemerkenswert sei, dass der Kläger den teuren Prozess „altruistisch (?)“ führe, was aber wohl der im Zuge des Abtretungsmodells getroffenen Vereinbarung geschuldet sei. Jedenfalls läge kein anzuerkennender Fall einer zulässigen Klage in gewillkürter Prozessstandschaft vor. Das Erfordernis, dass der Prozess im wohlverstandenem objektiven Interesse des Klägers als ursprünglicher Forderungsinhaber läge, sei nicht gegeben. Hier hätte der Kläger zeitnah nach dem Unfall in eigener Sache auf Freistellung klagen können. Statt dessen habe er sich aus unbekannten Gründen zur Abtretung entschlossen an Dritte entschlossen, deren Prozesse er nunmehr führe. Das schutzwürdige Interesse des Prozessstandschafters zur Geltendmachung fremder Rechte könne nur bejaht werden, wenn die Entscheidung de eigene Rechtslage beeinflusse (wozu nichts vorgetragen worden sei). Es bliebe offen, ob die Forderungen der Zessionare durch die Abtretungen endgültig erloschen sind (Abtretung an Erfüllungs statt, § 364 BGB). Da dann auch keine Ansprüche mehr gegen den Kläger geltend gemacht werden könnten, würde es ihm an einem eigenen Rechtsschutzinteresse ermangeln. Dies sei aber auch im Falle der Abtretung erfüllungshalber anzunehmen, auch wenn in diesem Fall der Kläger ein wirtschaftliches Interesse hätte, dass seine Zahlungspflicht gegenüber den Zedenten nicht wieder auflebt. Allerdings sei signifikant, dass das auf die Prozessebene erweiterte Abtretungsmodell zur Beeinträchtigung der Rechte des Prozessgegners führe: So seien geschwärzte Rechnungen vorgelegt worden und zum Beweis der Höhe auf das Zeugnis der Zessionare Bezug genommen worden, die im eigenen Prozess als Zeugen ausscheiden würden. Das hier verwandte gewerbsmäßige Abtretungsmodell dürfe nicht auf die prozessuale Ebene erweitert werden, da es die Versicherungswirtschaft bzw. Versichertengemeinschaft in deren schutzwürdigen Belangen beeinträchtige.

Anmerkung: Letztlich sieht das Amtsgericht (nicht zu Unrecht) die Gefahr, dass bestimmte Werkstätten und Sachverständige diesen Weg wählen, um überhöhte Forderungen nicht der Prüfung durch Gericht und Gegner auszusetzen. Bei veranlassen den Geschädigten zur Abtretung deren Forderung an sie, und soweit die Schädigerseite (idR. eine Versicherung) nicht zahlt, muss der Geschädigte (für die Zessionare) klagen. Damit muss keine Rechnung vorgelegt werden, aus der sich die Aufschlüsselung der (überhöhten) Forderung ergeben könnte, sondern kann zum Beweis der Leistungspflicht auf das Zeugnis der Zessionare abgestellt werden, zumal sich der klagende Geschädigte auch darauf berufen kann, dass er eine evtl. eingewandte Überteuerung jedenfalls nicht hätte erkennen können. Der rechtsdogmatische Weg des Amtsgerichts ist nachvollziehbar.

AG Bremen, Urteil vom 27.03.2020 - 9 C 513/19 -