Freitag, 8. November 2019

Bauwerkvertrag: Zur Abrechnung von Teilleistungen eines Einheitspreisvertrages, auf die der Auftraggeber verzichtet


Der Streit der Parteien basierte auf einem Bauwerkvertrag, aus dem die Beklagte zwei Leistungen nicht abgerufen habe, die aber von der Klägerin abgerechnet wurden. Das Landgericht gab der Klage statt. Im Rahmen der Berufung der Beklagten wies das OLG darauf hin, dass es beabsichtige die Berufung durch einstimmigen Beschluss nach § 522 ZPO zurückzuweisen, worauf die Beklagte die Berufung zurücknahm (vgl. auch Kostenbeschluss des OLG München vom 06.05.2019 – 28 I 413/19 Bau -).

Das OLG verwies darauf, dass in Literatur und Rechtsprechung streitig sei, wie sich der vollständige Verzicht auf Einzelpositionen bei einem Einheitspreisvertrag auswirke.

Nach dem BGH (Urteil vom 26.01.2012 - VII ZR 19/11 -) sei der Weg über § 2 VOB/B  nur gegeben, wenn es sich um einen Fall der vom dortigen Regelungsumfang erfassten Äquivalenzstörung handele. Danach sei ein interessengerechter Ausgleich für Mengenänderungen vorzunehmen, erweise sich die anfängliche Schätzung als unzutreffend. Dies deshalb, da der zu erwartende Aufwand bei Einheitspreisverträgen geschätzt würde und diese Schätzung Grundlage der Kalkulation sei. Weiche die Schätzung von den tatsächlichen Umständen ab, sei die Geschäftsgrundlage betroffen und der Preis sei anzupassen.

Vorstehendes würde aber nicht den Fall umfassen, dass der Auftraggeber auf eine bestimmte Position aus dem Leistungsverzeichnis verzichte, da der Verzicht nicht mit der Ungenauigkeit einer Prognose zum Umfang/zur Menge vergleichbar sei. Da die Beklagte verzichtet habe, läge keine Störung der Geschäftsgrundlage im Sinne der Wertung nach § 2 VOB/B vor.

Im Hinblick auf von der Beklagten eingewandte Ergänzungsaufträge wies der Senat darauf hin, dass die Klägerin dadurch nichts erspart habe. § 2 Abs. 3 Nr. 3 VOB/B gehe (ähnlich der Wertung des § 8 Abs. 2 VOB/B) von einer Erfassung von Baustelleneinrichtung, Baustellengemeinkosten und allgemeinen Geschäftskosten im Einheitspreis aus, die auch bei Wegfall von Teilleistungen verblieben und nicht nun auf den Unternehmer überwälzt werden könnten. Eine Umlage dieser Kosten über die Einheitspreise für entfallene Leistungen sei aber nicht notwendig, wenn sie durch andere Positionen oder Zusatzaufträge gedeckt werden sollten. Anders verhalte es sich mit dem Gewinn, der über § 2 VOB/B mit eingepreist sei; eine Kompensation sei durch Zusatzaufträge nicht möglich.

Offen bleiben könne, ob im Hinblick auf die nicht abgerufenen Leistungen von einer Teilkündigung auszugehen sei. Für die Abrechnung dieser „Nullpositionen“ käme nur § 8 VOB/B (bzw. § 648 BGB) direkt oder indirekt  in Betracht. Eine Formunwirksamkeit der (Teil-) Kündigung (wie im Verfahren gerügt wurde) läge nicht vor, da es hier um die nicht im Streit stehende grundsätzliche Vergütungspflicht ginge, wenn die Beklagte entgegen der Vereinbarung einseitig auf Vertragsleistungen verzichte. Damit würde dem Umstand Rechnung getragen, dass die Kalkulationsgrundlage der Klägerin der Gesamtauftrag war, wobei der Unternehmer idR. zur Steigerung der Attraktivität des Angebots bestimmte Positionen günstig anbieten würde und seinen Gewinn über andere Positionen (bei denen er z.B. günstige Produktions- oder Beschaffungskosten habe) sichern. Bei einer Teilkündigung oder teilweise fehlenden Abruf von Leistungen wäre das Berechnungssystem nicht mehr gesichert.

Damit stünde dem Unternehmer die vereinbare Vergütung zu, allerdings unter Herausrechnung ersparter Kosten. Deshalb müsse er (wie hier geschehen) für seine entsprechende Abrechnung seine Urkalkulation offen legen und die ersparten Lohn- und Materialkosten herausrechnen. Im Rahmen des § 8 VOB/B seien Zusatzaufträge, die nach Ansicht der Beklagten eine Kompensation darstellen würden, unbeachtlich.


Anmerkung: Problematisch kann sich für den Unternehmer die Erhöhung nach § 2 VOB/B bei Mengenänderungen darstellen, wenn er das Angebot / den Leistungsumfang selbst ermittelt hat. Der Auftraggeber kann sich sowohl in diesem Fall als auch im Falle des Nichtabrufs von Leistungen von einer weitergehenden Zahlungspflicht dann befreien, wenn er mit dem Unternehmer für den Fall der Mengenänderungen vereinbart, dass dies in die Risikosphäre des Unternehmers fällt und eine Nachberechnung nicht möglich ist, und für den Fall des Nichtabrufs von Leistungen oder jedenfalls zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses für die vom Auftraggeber noch nicht als gesichert abzurufenden Leistungen vereinbart, dass diese ersatzlos entfallen können.  



OLG München, Hinweisbeschluss vom 02.04.2019 - 28 U 413/19 Bau -

Montag, 4. November 2019

Rückerwerb von Gesellschaftsanteilen einer grundbesitzhaltenden GmbH und Grunderwerbsteuer


Der Sachverhalt lässt sich wie folgt vereinfacht darstellen: Der Kläger erwarb formgerecht in 2011 die Gesellschaftsanteile von Dritten an einer GmbH, die Grundbesitz hatte, womit er über 95% der Anteile, zuletzt 100% der Anteile an der Gesellschaft hielt. Der Vorgang wurde an die jeweiligen Finanzämter gerichtet, in deren Bezirk der Grundbesitz lag. Mit Bescheid vom 15.03.2013 stellte das für den Sitz der GmbH zuständige Finanzamt (FA) für den Erwerb der Grundstücke aufgrund der Anteilsvereinigung die Besteuerungsgrundlagen gem. § 17 GrEStG gesondert fest. Dagegen legte der Kläger Einspruch ein, in der er vortrug, am 27.11.2012 habe ein Rückerwerb von Anteilen stattgefunden. Der Einspruch wurde zurückgewiesen, da nach Auffassung des FA § 16 Abs. 2 GrEStG gem. § 16 Abs. 5 GrEStG im Hinblick darauf nicht anwendbar sei, da keine ordnungsgemäße Anzeige des Anteilserwerbs nach § 18 bzw. § 19 GrEStG erfolgt sei. Die Klage hatte Erfolg, Auf die Revision des FA wurde das Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Der BFH hielt fest, dass der Anteilserwerb die Voraussetzungen der Grunderwerbsteuerpflicht nach § 1 Abs. 3 Nr. 1 GrEStG erfüllt habe. Durch den Erwerb hätte sich (mittelbar oder unmittelbar) mindestens 95% der Anteile der Gesellschaft in der Hand des Klägers vereinigt. Diese Vereinigung würde grunderwerbsteuerrechtlich so behandelt, als habe der Käufer der Anteile die Grundstücke selbst von der Gesellschaft erworben. Mit dem Erwerb der restlichen Anteile auf 100% wurde er Alleingesellschafter; die Besteuerungsgrundlagen waren nach § 17 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 GrEStG festzustellen, und zwar durch das FA am Sitz der Gesellschaft, auch wenn sich die Immobilien außerhalb dessen Zuständigkeitsbereich befinden.

Grundsätzlich lägen hier auch die Voraussetzungen für die Aufhebung der Feststellung der Besteuerungsgrundlagen nach § 16 Abs. 2 Nr. 1 GrEStG vor. Nach § 16 Abs. 2 Nr. 1 GrEStG würde auf Antrag sowohl für den Rückerwerb als auch den Erwerb die Steuer nicht festgesetzt bzw. die Steuerfestsetzung aufgehoben, erfolgt (wie hier) der Rückerwerb innerhalb von zwei Jahren seit Entstehung der Steuer. Aus § 16 Abs. 5 GrEStG folge, dass dies auch für Erwerbsvorgänge nach § 1 Abs. 2, 2a und 3 GrEStG gelte, was aber die Anwendbarkeit der Begünstigungsnorm des § 16 GrEStG auch auf die Tatbestände des § 1 Abs. 3 GrEStG voraussetze. Ausreichend sei, wenn durch einen Anteilsrückerwerb das Quantum von 95% (hier in der Hand des Klägers) unterschritten würde. Auch wenn dies vorliegend gegeben sei, würde vorliegend der Rückgängigmachung nach § 16 Abs. 2 Nr. 1 GrEStG entgegenstehen, dass der Erwerbsvorgang nicht ordnungsgemäß iSv. § 16 Abs. 5 GrEStG angezeigt worden sei. § 16 Abs. 5 GrEStG diene der Sicherung der Anzeigepflicht nach §§ 18 und 19 GrEStG und soll so dem Anreiz entgegenwirken, durch Nichtanzeige einer Besteuerung zu entgehen. Es soll auch verhindert werden, den steuerlichen Effekt wieder durch Rückerwerb aufzuheben, nachdem der steuerbare Vorgang bei der Finanzbehörde bekannt wurde.

Die Anzeigepflichten seien binnen zwei Wochen nach Kenntnisahme vom anzeigepflichtigen Vorgang zu erfüllen (§ 18 Abs. 3, 19 Abs. 3 GrEStG). Träfe die Anzeigepflicht sowohl den Steuerpflichtigen nach § 18 GrEStG wie auch den Notar nach § 19 GrEStG reiche aus für § 16 Abs. 5 GrEStG aus, wenn einer der Anzeigepflicht ordnungsgemäß nachkäme.  Ordnungsgemäß wären hier die Anzeigen nach §§ 18 Abs. 4 und 19 Abs. 4 GrEStG an die Grunderwerbsteuerstelle des zuständige Finanzamt zu richten gewesen oder es müsste bei Übermittlung an das zuständige Finanzamt jedenfalls deutlich ersichtlich sein, dass es sich um einen Vorgang der Grunderwerbsteuer handele. Dabei hätte hier die Übermittlung an das für die gesonderte Feststellung zuständige Finanzamt gerichtet werden müssen, § 17 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 GrEStG; diese ergäbe sich aus § 17 Abs. 2 S. 3 des Gesetzes über die Finanzverwaltung und den darauf beruhenden landesgesetzlichen Zuständigkeitsverordnungen.

Vorliegend aber hätten weder der Kläger noch der Notar das danach für die gesonderte Feststellung zuständige Finanzamt informiert. Die Anzeige gegenüber den Finanzämtern, in deren jeweiligen Bezirk sich die Grundstücke befanden, reiche nicht aus.

Anmerkung: Die Entscheidung mag formal richtig begründet sein, stellt sie doch auf die Zuständigkeit des Finanzamtes ab, welches zu informieren ist. Geht man von dem Sinn und Zweck der Norm der Information des Finanzamtes aus, wie auch vom BFH dargelegt, erschließt sich aber, dass bei Übermittlung an ein unzuständiges Finanzamt, der Vorgang an das zuständige Finanzamt weitergeleitet wird. Der Zweck, durch Nichtanzeige einer Steuerfestsetzung zu entgehen, wäre also gewahrt, auch wenn die Anzeige an ein formal unzuständiges Finanzamt erfolgte. Der Gesetzgeber hat hier, gebilligt vom BFH, eine Hürde eingebaut, die für rechtlich oder steuerlich nicht bewanderte Laien schwer fassbar ist und letztlich nicht notwendig wäre. Folge der fehlerhaften Zuleitung ist, wie hier, ein Schaden in Höhe der (doppelten) Grunderwerbsteuer (Kauf- und Rückkaufvorgang). Damit wird sich für den Steuerpflichtigen die Frage stellen, ob er den Notar, der (ebenfalls) seiner Verpflichtung nicht korrekt nachkam, haftbar machen kann.

BFH, Urteil vom 22.05.2019 - II R 24/16 -

Donnerstag, 31. Oktober 2019

Umfang des Umgangsrechts des biologischen (nicht rechtlichen) Vaters


Der Beschwerdeführer (BF) ist der leibliche Vater der 2012 geborenen B., dessen rechtliche Eltern die verheirateten Beteiligten zu 2. und 3. sind. Im Rahmen eines vorangegangenen Verfahrens zum Umgangsrecht schlossen die Parteien einen Vergleich dahingehend, dass der BF seine leibliche Tochter B. jeweils zweiwöchentlich jeweils am Samstag von 9 bis 18 Uhr zu sich nehmen könne. Mit dem streitgegenständlichem Antrag begehrte er die Erweiterung des Umgangsrechts dahingehend, dass er alle 14 Tage seine Tochter von jeweils von Freitag 9 Uhr bis Sonntag 18 Uhr zu sich nehmen könne, sowie eine Ferien und Feiertagsregelung. In einem Zwischenvergleich vereinbarten die Parteien eine Regelung dahingehend, dass der BF an jedem ersten Wochenende im Monat seine Tochter von Samstag 9 Uhr bis Sonntag 18 Uhr zu sich nehmen könne. Im übrigen wurde ein Ruhen angeordnet; nachdem eine weitergehende Einigung nicht stattfand, der BF das Verfahren wieder anrief, beließ es das Amtsgericht bei der bisherigen Regelung nebst dem Zwischenvergleich und wies den weitergehenden Antrag zurück. Die dagegen gerichtete Beschwerde wurde zurückgewiesen.

Das Umgangsrecht des leiblichen Vaters ist in § 1686a Abs. 1 Nr. 1 BGB geregelt. Vorliegend war zudem die gerichtlich gebilligte Umgangsregelung nach § 1696 Abs. 1 BGB zu berücksichtigen. Diese Regelung, so das OLG, könne aus triftigen, das Wohl des Kindes nachhaltig berührenden Gründen angezeigt sein. Insoweit sei nach den vom Amtsgericht getätigten Ermittlungen eine Ausweitung des Umgangsrechts dem Wohl der B. entsprechend im Hinblick auf das erste Wochenende im Monat angezeigt gewesen, wie im Zwischenvergleich festgehalten. Im übrigen lägen aber die gesetzlichen Voraussetzungen nach § 1686a Abs. 1 Nr. 1 BGB nicht vor. Zwar sei vorliegend nicht im Streit, dass der BF als leiblicher Vater ein ernsthaftes Interesse am Kind gezeigt habe und daher nach der Bestimmung ein Umgangsrecht habe, welches dem Kindeswohl diene. Allerdings würde der BF verkennen, dass sich das Umgangsrecht nicht an den zu Art. 6 Abs. 2 GG iVm. § 1684 BGB (Anm.: § 1684 BGB wird explizit für das Recht nach § 1684a Abs. 1 Nr. 1 BG in § 1684a Abs. 2 BGB benannt) entwickelten Kriterien beurteile, da das Recht des leiblichen Vaters nicht durch das Elternrecht des rechtlichen Vaters nach § 1686a BGB geschützt würde. Vielmehr würde sich fad Umgangsrecht des leiblichen Vaters an den zu § 1685 BGB entwickelten Kriterien orientieren, weshalb auch ein 14-tägiger Umgang über das Wochenende des nur leiblichen Vaters nicht als Regelfall nach § 1681a BGB angenommen werden könne. Zwar sei eine Einzelfallbetrachtung geboten, orientiert am Kindeswohl. Zu berücksichtigen sei dabei aber auch, wie groß die Akzeptanz der rechtlichen Familie sei und vor allem der Umstand, ob das Kind durch das Umgangsrecht seines weiteren Vaters in einen Loyalitätskonflikt gebracht werde. Dies sei hier, wie den ausführlichen Berichten des für das Kind bestellten Verfahrensbeistandes zu entnehmen sei, der Fall. B. sei den unterschiedlichen Wünschen der rechtlichen Eltern und des leiblichen Vaters in besonderem Maße ausgesetzt und würde dadurch verunsichert; sie wolle keine der drei Elternteile enttäuschen, was sich auch in den widersprüchlichen Willensäußerungen gegenüber beiden Teilen widerspiegele. Es bedürfe von daher einer stabilen und verlässlichen Umgangsregelung, die dem Kind den inneren Frieden bringe und nicht mit der Gefahr verbunden sei, dass es mit Ablehnung eines Elternteils darauf reagiere. Dies würde durch die vom Amtsgericht getroffene Umgangsregelung getragen, mit der auch der von § 1686a BGB verfolgte Zweck, dem Kind eine Bindung zu seinem leiblichen Vater zu ermöglichen, gesichert sei. Es bedürfe dazu nicht einer darüberhinaus gehenden Übernachtungsregelung, ebensowenig einer Ferien- und Feiertagsregelung. Eine andere Beurteilung könne sich ergeben, wenn B. älter sei und ihrem Willen stärkere Beachtung zu schenken sei, wenn der derzeitige Loyalitätskonflikt abgebaut werden könne.

OLG Frankfurt, Beschluss vom 11.06.2019 - 5 UF 72/19 -

Montag, 28. Oktober 2019

Kein Zinsanspruch der Rechtsschutzversicherung gegen Anwalt mangels Vertrags- oder Vertrauensverhältnis


Die Klägerin als Rechtsschutzversicherer des Mandanten R. der Beklagten hatte Deckungsschutz für das Klage-, Berufungs- und Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren erteilt. Der Mandant der Beklagten (und Versicherungsnehmer [VN] der Klägerin) obsiegte schließlich vor dem BGH. Auf die Kostenfestsetzungsbeschlüsse des Landgerichts zahlte der Prozessgegner eingehend bei der Beklagten Anfang November 2012 die festgesetzten Beträge sowie Zinsen, die die Beklagte Ende November 2012 an den Mandanten R. auszahlte, auch soweit die Klägerin mit Zahlungen für diese Beträge in Vorlage getreten war. Nachdem sich die Klägerin im Juni 2015 bei der Beklagten über den Verfahrensstand informierte und diese die Zahlung an den Mandanten/VN R. mitteilte, forderte sie von dort die Zahlung an. R. zahlte den von der Beklagten an ihn gezahlten Betrag an die Klägerin im August 2015. Mit der Begründung, die Beklagte habe direkt nach Eingang bei ihr den Betrag an die Klägerin weiterleiten müssen, nahm sie diese auf Zahlung von Zinsen für den Zeitraum November 2012 bis August 2015 in Höhe von € 1.081,16 in Anspruch. Das Amtsgericht wies die Klage ab; die von der Klägerin eingelegte Berufung wurde vom Landgericht zurückgewiesen. Eine vom Landgericht zugelassene Revision der Klägerin wurde vom BGH zurückgewiesen.

Der BGH hielt fest, dass die Rechtsschutzversicherung eine Schadensversicherung sei, für die § 86 Abs. 1 S. 1 VVG gelte, derzufolge ein dem VN gegen einen Dritten zustehender Ersatzanspruch gegen den Prozessgegner durch die Zahlung durch die Klägerin auf diesen (aufschiebend bedingt mit der Zahlung im Rahmen des Prozesses) auf diese übergeht. Damit sei der Kostenerstattungsanspruch des VN hier auf die Klägerin übergegangen und habe ihr ein Anspruch gegen die Beklagte auf Auskehrung der Zahlungen zugestanden. Die Empfangsberechtigung der Klägerin ergäbe sich aus Gesetz ohne Dispositionsbefugnis des VN. Die Beklagte, die durch die an sie erfolgten Zahlungen der Klägerin über das Bestehen der Rechtsschutzversicherung informier war, habe sich durch die (versehentliche) Weiterleitung der Gelder an R. von ihrer Leistungsverpflichtung gegenüber der Klägerin nicht befreien können.

Allerdings bestünde kein Verzinsungsanspruch der Klägerin für den benannten Zeitraum. Dieser setze Verzug nach §§ 280 Abs. 2, 286 Abs. 1, 288 Abs. 1 S. 1 BGB voraus, der mangels einer Mahnung der Klägerin hier nicht vorliege. Durch die Weiterleitung an den Mandanten R. habe aber die Beklagte das Geld nicht für sich verwandt. Anders wäre es nur zu beurteilen, wenn die Beklagte über das Geld wie ein Berechtigter verfügt hätte (z.B. bei einem Geschenk oder Darlehensgewährung an Dritte).  Eine entsprechende Stellung habe sich aber hier die Beklagte nicht angemaßt. Das Übersehen des Forderungsübergangs gem. § 86 Abs. 1 S. 1 VVG mache aus der Weiterleitung an den Mandanten keine Eigenverwendung iSv. § 668  BGB.

Ohne den Schuldnerverzug durch Mahnung nach § 286 BGB käme dann nur noch ein deliktischer Anspruch nach § 849 BGB für den Zinsersatz in Betracht. Die Voraussetzungen lägen aber nicht vor, da der allein in Betracht kommende Anspruch nach § 823 BGB  am Fehlen eines Schutzgesetzes scheitere. Insbesondere stelle § 43a Abs. 5 S. 2 BRAO kein Schutzgesetz dar, der vom Anwalt bei der Behandlung anvertrauter Vermögenswerte die erforderliche Sorgfalt verlange (S. 1) und ferner verlange, dass der Anwalt fremde Gelder unverzüglich an den Empfangsberechtigten weiterleite (S. 2). Im Rahmen des § 823 Abs. 2 BGB sei Voraussetzung, dass sich im konkreten Schaden die Gefahr verwirklicht habe, vor die die betreffende Norm schützen soll; der Schaden müsse also in den sachlichen Schutzbereich der Norm fallen als auch müsse der Geschädigte zu dem Kreis derjenigen Personen gehören, deren Schutz die Norm bezwecke. Konkretisiert würde dies in § 4 BORA, wobei der Weiterleitung von Fremdgeldern der Vorrang vor deren Verwaltung auf Anderkonten habe. Es handele sich bei der BORA (Berufsordnung) und BRAO (Bundesrechtsanwaltsordnung) nicht um Gesetze, sondern um autonomes Satzungsrecht eines Berufsstandes, welches aus verfassungsrechtlichen Erwägungen heraus im Allgemeinen die (privat-) rechtliche Beziehung des Rechtsanwalts zu Außenstehenden nicht regeln dürfe. Da die Klägerin Außenstehende sei, scheide § 4 BORA als Schutzgesetz aus.  § 43a Abs. 5 S. 2 BRAO gebe keinen eindeutigen Hinweis, ob sie eine schützende Funktion für den jeweiligen „Empfangsberechtigten“ habe. Geschützt würden in der BRAO das allgemeine Vertrauen in die Korrektheit und Integrität der Anwaltschaft in allen finanziellen Fragen und damit die Funktionsfähigkeit der Anwaltschaft in der Rechtspflege, weshalb es dieses Allgemeininteresse rechtfertige, die rein zivilrechtlichen Pflichten aus einem Anwaltsvertrag als berufsrechtliche Pflichten auszugestalten und deren Verletzung anwaltsgerichtlich zu ahnden. Der Umstand, dass die „Empfangsberechtigten“ als Teil der Allgemeinheit auch auf die Integrität des Anwalts in finanziellen Angelegenheiten vertrauen würden, begründe aber keinen Individualschutz, sondern ebenso wie z.B. die Verschwiegenheitspflicht (§ 43a Abs. 2 BRAO) einen Schutz der Interessen des Mandanten, deren Verletzung zu einem vertraglichen Schadensersatzanspruch und bei gleichzeitiger Verletzung von Strafgesetzen, zu einem deliktischen Anspruch nach § 823 BGB führen würden. Ob § 43a Abs. 5 BRAO auch Schutzgesetz iSv. § 823 Abs. 2 BGB sei, sei umstritten, könne hier aber dahinstehen; selbst wenn die gesetzgeberische Tendenz zugunsten des Mandanten bestünde, dürfte sie sachlich nicht dem deliktsrechtlichen Schutz gegen eine unverzügliche, aber versehentliche Weiterleitung der Gelder an den falschen - nicht berechtigten – Empfänger umfassen. Es gäbe keine Anhaltspunkte, dass § 43a BRAO dem individuellen Schutz des Rechtsschutzversicherers dienen solle. Mit ihm würde den Anwalt kein Vertrag oder sonstiges Vertrauensverhältnis verbinden.

BGH, Urteil vom 23.07.2019 - VI ZR 307/18 -

Dienstag, 22. Oktober 2019

Streupflicht auf Parkplatz eines Lebensmittelmarktes


Die Beklagte zu 1. betrieb einen Lebensmittelmarkt, dessen Parkplatz den Kunden zur Verfügung gestellt wird aber auch von Anwohnern (insbesondere nachts) genutzt wird. Der Beklagte zu 2. war von der Beklagten zu 1. mit dem Winterdienst beauftragt. Die Klägerin will an einem Dezembertag am Vormittag gegen 8.15 Uhr in der Nähe des Eingangs zum Markt ihr Fahrzeug auf einer markierten Parkfläche abgestellt haben um einzukaufen. Es habe allgemein Glätte geherrscht. In der Nähe ihres Parkplatzes sei eine Vertiefung im Bodenbelag gewesen, in der sich gefrorenes Wasser befunden habe. Hier sei sie beim Aussteigen aus dem Fahrzeug ausgerutscht und habe sich verletzt.

Die Klage wurde in allen Instanzen abgewiesen. Der BGH bestätigte die Vorentscheidungen, nach der die Beklagten die ihnen obliegende Streupflicht nicht verletzt hätten, da weder vorvertragliche Schutzpflichten nach §§ 311 Abs. 2 Nr. 2, 241 Abs. 1, 280 BGB verletzt worden seien noch eine Verkehrssicherungspflichtverletzung nach § 823 Abs. 1 BGB vorläge.

Grundvoraussetzung für eine Verletzung der Verkehrssicherungspflicht wegen Verstoßes gegen die Räum- und Streuverpflichtung sei entweder das Vorliegen einer allgemeinen Glätte oder das Bestehen erkennbarer Anhaltspunkte für eine drohende Gefahr aufgrund einzelner Glättestellen. Aber auch bei allgemeiner Glättebildung bestünde keine uneingeschränkte Räum- und Streupflicht. Inhalt und Umfang der Räum- und Streupflicht seien von den Umständen des Einzelfalls abhängig, weshalb sich eine gleichmäßig geltende Regel für alle Parkflächen nicht aufstellen ließe. Es müssten nur wirkliche Gefahren beseitigt werden, nicht aber müsste bloßen Unbequemlichkeiten vorgebeugt werden. Entscheidend sei, was zur gefahrlosen Sicherung des Verkehrs, dem die Einrichtung diene, erforderlich sei und dem Pflichtigen zumutbar sei, unabhängig davon, ob es sich um einen öffentlichen oder privaten Parkplatz handele.

Selbst bei Annahme der von der Klägerin behaupteten allgemeinen Glättebildung habe hier eine Verpflichtung nicht bestanden, die Sturzstelle, die sich im Bereich der markierten Stellfläche befand, zu streuen. Dabei sei zu berücksichtigen, dass dieser Bereich nur zum Ein- und Aussteigen betreten werden müsse und man am Fahrzeug Halt fände.

Zwar müssten besondere Gefahren berücksichtigt werden. So sei bei einem Gastwirt zu berücksichtigen, dass damit gerechnet werden müsse, dass sich Besucher durch den Genuss alkoholischer Getränke unverständig verhalten könnten und in ihrer Gehsicherheit beeinträchtigt wären.  Von daher sei hier auch zu berücksichtigen, dass der Betreiber eines Lebensmittelmarktes durch seinen Kundenparkplatz eine bequeme Parkmöglichkeit für potentielle Kunden schaffen wolle, um diese so zum Besuch des Marktes zu veranlassen. Er habe daher im Rahmen des Zumutbaren nicht nur den gefahrlosen Zugang zu den Fahrzeugen auf dem Parkplatz zu ermöglichen, sondern auch das sichere Be- und Entladen der Fahrzeuge. Dazu sei aber nicht das Räumen und Streuen der markierten Stellflächen erforderlich. Den Kunden sei es zumutbar, ihr Fahrzeug bei winterlichen Verhältnissen ihr Fahrzeug so abzustellen, dass bei Räumen und Streuen der Fahrfläche ein sicheres und gefahrloses Verstauen von Einkäufen im Heck des Fahrzeuges sichergestellt werden könne. Mehr als dies könne nicht erwartet werden.

In Ansehung der bei zumutbarer Eigenvorsorge des Kunden geringen vorhersehbaren Sturzgefahr im Bereich der markierten Stellflächen habe von den Beklagten nicht erwartet werden können, diesen Bereich bei Glättebildung ständig geräumt und gestreut zu halten. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts handele es sich um einen großen Parkplatz mit ständigem Fahrzeugwechsel, wobei zwischen den Fahrzeugen ein maschinelles Streuen nicht möglich sei. Eine kontinuierliche Kontrolle und gfl. Händischer Bestreuung sei den Beklagten angesichts des damit verbundenen hohen Aufwandes nicht zumutbar.

Da der Parkplatz (nachts) auch von Anwohnern genutzt würde, könne auch nicht vor der Markteöffnung der gesamte Parkplatz geräumt und gestreut werden. Es würde die Anforderung der Verkehrssicherungspflicht auch überspannen, verlange man von dem Betreiber des Marktes eine nächtliche Sperrung des Parkplatzes um ein Räumen und Streuen der Fläche insgesamt zu ermöglichen.

Auch der von der Klägerin benannte Umstand des Sturzes auf einer überfrorenen Bodenvertiefung, die sie aufgrund schlechter Lichtverhältnisse und der Lage im Schatten anderer Fahrzeuge nicht gesehen habe, stelle sich nicht als haftungsbegründend dar. Mit gewissen Vertiefungen im Belag und damit der Glatteisbildung in diesen Bereichen sei stets zu rechnen, insbesondere auch in den Morgenstunden im Dezember.

BGH, Urteil vom 02.07.2019 - VI ZR 184/18 -

Sonntag, 20. Oktober 2019

Übersetzung eines Verfügungsantrages gegen ein ausländisches Social-Media-Unternehmen ?


Der Antragsteller wandte sich mit einem Verfügungsantrag gegen eine Sperrmaßnahme des verklagten Social-Media-Unternehmens, welches seinen Sitz im (englischsprachigen) europäischen Ausland hat. Das Landgericht hatte den Antrag zurückgewiesen, da es die Dringlichkeit verneint. Auf die Beschwerde wurde dem Antrag durch das OLG stattgegeben. U.a. setzte sich das OLG mit der Frage auseinander, ob die (hier vom OLG vorgenommene) Anhörung der Antragsgegnerin durch Übersetzung der Antragsschrift hätte erfolgen müssen.

Das OLG hatte der Antragsgegnerin vor dem den Antrag stattgebenden Beschluss durch Zustellung der Antragsschrift die Möglichkeit zur Stellungnahme im schriftlichen Verfahren eingeräumt. Die Antragsgegnerin sah die Zustellung im Hinblick auf Art. 14, 8 Abs. 1, 3 EuZustVO (VO (EG) Nr. 1393/2007) als unwirksam an und wies sie zurück, da eine englischsprachige Übersetzung nichtbeigefügt worden sei. Dem folgte das OLG nicht. Die Zustellung sei unter Verwendung der Formblätter (EuGH, Beschluss vom 28.04.2016 - C-384/14 -) ordnungsgemäß durchgeführt worden, weshalb bei der Prüfung von Amts wegen nach Art. 19 EuZustVO auf die lex fori (internationales Privatrecht, welches am Gerichtsort gilt) abzustellen sei. Diese Zustellungsfiktion sei nach nicht zu beanstanden (EUGH aaO.).

Nach Art. 8 EuZustVO sei anerkannt, dass es weder auf die Sprachkenntnis der Organe der betroffenen juristischen Person noch derjenigen Person ankomme, die die Zustellung im Ausland persönlich annehme. Ausreichend sei, wenn im Rahmen einer üblichen dezentralen Organisationsstruktur eines Unternehmens die mit der Sache befasste Abteilung über einen entsprechenden Sprachkundigen verfüge, dessen Einschaltung in die Übersetzung des Schriftstücks nach den gesamten Umständen erwartet werden könne. Berücksichtigungsfähig sei dabei, ob auf Grund der Geschäftstätigkeit in einem bestimmten Land davon ausgegangen werden könne, dass in dem Unternehmen  Mitarbeiter tätig sein müssten, welche sich um rechtliche Auseinandersetzungen mit den jeweiligen Kunden kümmern (zu Irland bereits LG Heidelberg, Beschluss vom 04.10.2018 - 1 O 71/18; auch OLG Frankfurt, Beschluss vom 01.07.2014 - 6 U 104/14 -). Alleine eine einvernehmlich verwandte Vertragssprache etc. sei zwar noch nicht ausreichend, sondern stelle nur einen Anhaltspunkt dar (EuGH, Urteil vom 08.05.2008 - C-14/07 -). Vom nationalen Gericht seien alle in den Alten befindlichen Informationen gebührend zu berücksichtigen, um zum einen die Sprachkenntnisse des Empfängers festzustellen, zum anderen um zu entscheiden, on in Ansehung des zuzustellenden Schriftstücks eine Übersetzung erforderlich sei. In jedem Einzelfall sei für einen ausgewogenen Schutz der Rechte der betroffenen Parteien Sorge zu tragen, indem das Ziel der Wirksamkeit und Schnelligkeit der Zustellung im Interesse des Antragstellers und das Ziel eines effektiven Schutzes von Verteidigungsrechten des Empfängers abgewogen werden müssten.

Vorliegend sei zu berücksichtigen, dass die Antragsgegnerin nicht nur Millionen deutsche Kunden habe und diese, wie aktenkundig aus dem Kommunikationsverkehr belegt würde, auch durchgehend auf Deutsch selbst in Fragen des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (NetzDG) umfassend „bedienen“ würden. Vielmehr sei die Antragsgegnerin schon nach dem NetzDG gehalten, entsprechende Stellen im Unternehmen zu ertüchtigen und vorzuhalten, womit sie auch entsprechende Öffentlichkeitsarbeit betreibe (vgl. letzten Transparenzbericht). Auch wenn sich die Antragsgegnerin erfolgreich dagegen wehren könne, dass ihre inländischen Zustellungsvertreter nach § 5 NetzDG als allgemein zustellungsbevollmächtigt auch in Sachen wie vorliegend gelten (OLG Köln, Beschluss vom 11.01.2019 - 15 W 59/18 -), sei es der Antragsgegnerin zuzumuten, ihren Betrieb in Irland entsprechend aufzustellen und die organisatorisch vorhandenen und sachkundigen Stellen dann intern mit Zustellungen wie vorliegend zu befassen. Für die Antragsgegnerin, deren Algorithmen die öffentliche Meinung weltweit zu beeinflussen in der Lage sein dürften, erscheine es daher zumutbar, eine Zustellung eines deutschen Gerichts der entsprechenden deutschsprachigen Abteilung zuzuordnen, der es dann möglich sein müsste festzustellen, weshalb man sich hier nicht an die dem Antragsteller gegebene Zusage der Aufhebung der Sperre gehalten habe.

Damit hat das OLG Köln deutlich postuliert, dass durch den Sitz des Social-Media-Unternehmens in Irland und die „Sprachbarriere“ eine Erschwerung bzw. Verzögerung einer Prozessführung nicht dadurch von diesem Unternehmen erreicht wird, dass es eine Übersetzung der Antragsschrift und möglicher Anlagen begehrt. Es obliegt vielmehr diesem Unternehmen selbst dafür Vorsorge zu treffen, im Rahmen von Zustellungen deutscher Gerichte überlassene Unterlagen ggf. ins Englische zu übersetzen.

OLG Köln, Beschluss vom 09.05.2019 - 15 W 70/18 -

Sonntag, 13. Oktober 2019

Rechtliches Gehör: Rechtzeitiger Hinweis auf vom Erstgericht abweichende Auffassung durch Berufungsgericht


Das rechtliche Gehör (Art. 103 GG) ist ein Grundpfeiler der Rechtsordnung. Es dient einem fairen Verfahren. Seine Verletzung führt notwendig dazu, dass ein Urteil aufzuheben ist (und der Rechtstreit an das zuvor befasste Gericht zurückverweisen wird), wenn dessen Entscheidung auf der Verletzung rechtlichen Gehörs beruht. Und immer wieder werden Urteile von Instanz- und Obergerichten veröffentlicht, die gerade dies thematisieren.

So auch vorliegend. Das LAG Berlin-Brandenburg hatte darüber zu entscheiden, ob das beklagte Land dem schwerbehinderten Kläger Vergütung für den Zeitraum Dezember 2016 bis Mai 2017 zu zahlen hatte, was mit der Begründung eines Annahmeverzugs des Klägers unterlassen wurde. Dabei war zu klären, ob der Kläger für die vereinbarte Vollzeittätigkeit in der Datenverarbeitung dauerhaft krankheitsbedingt leistungsunfähig war und daher ein Annahmeverzug nach § 297 BGB ausgeschlossen war. Das Arbeitsgericht hatte die Klageabgewiesen; das LAG hatte ihr im Wesentlichen stattgegeben. Dabei negierte es, anders als noch das Arbeitsgericht, eine ausreichende Indizwirkung von drei vom beklagten Land vorgelegten vertrauensärztlichen Stellungsnahmen (eine vor, eine während und eine nach dem streitgegenständlichem Zeitraum) , die für den fraglichen Zeitraum eine Leistungsunfähigkeit des Klägers bejahten.

Nach Ansicht des BAG hatte das LAG deshalb gegen den Anspruch des beklagten Landes auf rechtliches Gehör verstoßen, da es einen gebotenen Hinweis auf seine vom Arbeitsgericht abweichende Auffassung nicht rechtzeitig gegeben und damit dem beklagten Land die Möglichkeit abgeschnitten habe, dazu mit erläuterndem oder ergänzenden Sachvortrag zu reagieren.

Würdige ein Gericht einen Sachverhalt oder Vorbringen in einer Weise, mit der ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Verfahrensverlauf nicht rechnen müsse, verstoße das Gericht elementar gegen seine Hinweispflicht nach § 139 Abs. 1 ZPO und damit das Gebot des rechtlichen Gehörs aus Art. 103 GG, wenn es nicht darauf hinwirke, dass sich die Partei rechtzeitig und  vollständig über alle erheblichen Tatsachen erklärt und gegebenenfalls ergänzt und Beweismittel benennt. Deshalb dürfe ein Berufungsbeklagter grundsätzlich darauf vertrauen, dass ihm das Berufungsgericht einen Hinweis nach § 139 ZPO erteilt, wenn es von der Beweiswürdigung des Erstgerichts abweichen wolle, wobei er einen Anspruch darauf habe, dies so rechtzeitig vor einem Termin zu erfahren, dass er noch rechtzeitig vor dem Termin darauf reagieren könne (BVerfG, Beschluss vom 01.08.2017 - 2 BvR 3068/14 -).

Diese Grundsätze zur Beweiswürdigung würden auch dann gelten, wenn (wie hier) das Erstgericht sich vom Arbeitgeber zu eigen gemachte ärztliche Stellungnahmen als ausreichend ansehe, ein den Annahmeverzug ausschließendes Unvermögen des Arbeitnehmers iSd. § 297 BGB zu indizieren. Das sei vom LAG verkannt worden.

Der Berufung des Arbeitgebers auf eine Leistungsunfähigkeit iSd. § 297 BGB des Arbeitnehmers stelle sich als eine beachtliche Einwendung dar. Für diese sei er darlegungs- und beweisbelastet (BAG, Urteil vom 22.08.2018 - 5 AZR 592/17 -). Ein Arbeitgeber habe regelmäßig keine eigenen näheren Kenntnisse über den Gesundheitszustand seines Arbeitnehmers, weshalb er seiner primären Darlegungslast durch Hinweis auf die Leistungsunfähigkeit hindeutende Umstände genüge. Deshalb genüge auch die Vorlage einer gutachterlichen Stellungnahme (so auch vom Betriebsarzt), wenn er sich diese zu eigen mache (BAG, Urteil vom 22.08.2018 aaO.).

Ob hier vorgelegte ärztliche Stellungnahmen als Privatgutachten zu qualifizieren seien, sei eine der Beweiswürdigung unterliegende tatrichterliche Wertung. Deshalb könne ein Brufungsbeklagter bei beabsichtigter anderweitiger Würdigung durch das Berufungsgericht darauf vertrauen, ihn gem. § 139 ZPO rechtzeitig einen rechtlichen Hinweis erteilt und ihm die Gründe für seine vom Erstgericht abweichende Würdigung mitteilt.

Das sei hier nicht erfolgt. Erstmals sei das beklagte Land im Rahmen der Berufungsverhandlung der Hinweis erteilt worden, die vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen würden nach Ansicht der Berufungskammer kein Indiz für eine Leistungsunfähigkeit des Klägers darstellen. Dem beklagten Land sei damit die Möglichkeit genommen worden, zu einer Kernfrage des Rechtstreits (die das Arbeitsgericht noch zu seinen Gunsten beantwortete), der abweichenden Annahme des LAG entgegenzutreten. Da das beklagte Land auch nach dem Protokoll der Verhandlung eine Schriftsatzfrist zu den Hinweis erbat, habe das LAG auch nicht davon ausgehen dürfen, es wolle dazu keine weiteren Rechtsausführungen oder weiteren Vortrag halten.

Da das beklagte Land im Rahmen seiner Nichtzulassungsbeschwerde zum BAG dargelegt habe, mit welchen Erwägungen es auf einen rechtzeitigen Hinweis des LAG reagiert hätte, um dessen Bedenken gegen eine Indizwirkung zu zerstreuen, könne nicht ausgeschlossen werden, dass das LAG bei Kenntnis seine Ansicht geändert hätte und doch angenommen hätte, dass das beklagte Land seiner primären Darlegungslast genügte. In diesem Fall hätte das LAG zu prüfen gehabt, ob dem der Kläger ausreichend substantiiert entgegen getreten sei und ob – evtl. nach Beweisaufnahme – eine Leistungsunfähigkeit des Klägers vorlag oder nicht.

BAG, Beschluss vom 28.08.2019 - 5 AZN 381/19 -