Samstag, 18. Mai 2019

Nachbarschaftsrecht: Verlangen auf Zurückschneiden von überwachsenden Ästen und Verjährung sowie Verkehrssicherungspflichtiger am Grenzbaum


In Baden-Württemberg lagen drei Grundstück derart nebeneinander, dass sie seinen gemeinsamen Grenzpunkt hatten, in dessen Nähe ein  Fichte stand, deren Stamm sich teilweise auf dem Grundstück des Beklagten und teilweise auf dem Grundstück des dritten Nachbarn befand. Äste dieser Fichte ragten von dem Baumteil, der auf dem Grundstück des Beklagten stand, auf das Grundstück der Klägerin, die von dem Beklagten deren Beseitigung forderte. Das Amtsgericht wies die Klage ab. Die Berufung der Klägerin blieb erfolglos. Auch die vom Landgericht als Berufungsgericht zugelassene Revision wurde zurückgewiesen.

1. Nicht zu beanstanden sie die Annahme der Zulässigkeit der Klage, obwohl die Äste von einem Baum stammen würden, der sich teilweise auf dem Grundstück des Beklagten und teilweise auf dem Grundstück des dritten Nachbarn befände. Dem Anspruch aus § 1004 Abs. 1 BGB stünde dies nicht entgegen, da es sich bei dem Beklagten und dem dritten Nachbarn nicht um notwendige Streitgenossen nach § 62 Abs. 1 2. Alt. ZPO handele. Eine notwendige Streitgenossenschaft erfordere, wenn aus materiell-rechtlichen Gründen nur gemeinsam geklagt werden könne oder gegen diese nur gemeinsam geklagt werden könne. Dieses Erfordernis ergäbe sich aus gemeinschaftlichen Verfügungsbefugnis gem. §§ 747 S. 2, 1008 BGB. Ein solcher Fall läge nicht, da der Beklagte und der dritte Nachbar nicht gemeinschaftlich verpflichtet seien, sondern jeder für sich. Auch aus dem Umstand, dass es sich um einen Grenzbaum iSv. § 923 BGB handele ergäbe sich nichts anderes, obwohl dieser zu jeweils zu dem Teil, zu dem er auf einem Grundstück stünde, in dessen Eigentum stünde (vertikal geteiltes Eigentum). Die Verkehrssicherungspflicht obliege erstrecke sich auf den Teil des Baumes, der auf seinem Grundstück stünde.  Von daher könne die Klägerin hier den Beklagten alleine in Anspruch nehmen, da die Beeinträchtigung von seinem Baumteil ausginge.

2. § 1004 Abs. 1 BGB setze für die Beseitigung von herüberragenden Ästen allerdings voraus, dass dadurch die Nutzung des Nachbargrundstücks beeinträchtigt würde. Läge dies nicht vor, sei das Herüberragen zu dulden. Offen bliebe, ob dies auch für ganz erhebliche Beeinträchtigungen gelte, worauf es vorliegend nach Auffassung des BGH nicht ankäme, wie es auch nicht darauf ankäme und offen bleiben könne, ob die Störungen im Vergleich zur Wirkung des Rückschnitts außer Verhältnis stehen dürften (dazu OLG Saarbrücken, Urteil vom 11.01.2007 - 8 U 77/06 - und OLG Köln, Urteil vom 12.07.2011 - 4 U 18/10 -).

Der von der Klägerin geltend gemachte Anspruch sei verjährt, §§ 195, 199 BGB (anders als der Anspruch nach § 1004 BGB unterliege das Selbsthilferecht des § 910 BGB nicht der Verjährung).

§ 902 BGB (danach unterliegen eingetragene Ansprüche nicht der Verjährung) finde auf Beseitigungsansprüche keine Anwendung. Die Norm umfasse nur die Verwirklichung des Anspruchs, nicht aber die Abwehr von Störungen.

Auch soweit nach der Rechtsprechung des Senats eine Verjährung von Unterlassungsansprüchen nicht in Betracht käme, wenn eine einheitliche Dauerhandlung vorläge, die den rechtswidrigen Zustand fortlaufend aufrechterhalte und deshalb den Lauf einer Verjährungsfrist nicht in Gang setze, könne hier darauf deshalb nicht abgestellt werden, da der Anspruch auf Beseitigung nach § 1004 BGB mit dem hinüberwachsen beginne; nehme dies der Nachbar (in Kenntnis des Hinüberwachsens) länger als drei Jahre hin, könne er die Beseitigung im Interesse des Rechtsfriedens nicht mehr verlangen. Diese Frist von drei Jahren war bei Erhebung der Klage bereits abgelaufen.

Anderes lasse sich auch nicht aus § 23 Abs. 1 NRG BW („Beseitigungsansprüche nach diesem Gesetz verjähren in fünf Jahren. Sind Gehölze im Sinne des § 16 Absatz 1 Nummer 4 oder 5 betroffen, so beträgt die Verjährungsfrist zehn Jahre. Bei Pflanzungen beginnt der Lauf der Verjährungsfrist mit dem 1. Juli nach der Pflanzung. Bei an Ort und Stelle gezogenen Gehölzen beginnt sie am 1. Juli des zweiten Entwicklungsjahres. Bei späterer Veränderung der artgemäßen Ausdehnung des Gehölzes beginnt die Verjährung von neuem; dasselbe gilt im Falle des § 16 Absatz 1 Nummer 4 Buchstabe c, wenn die Umtriebszeit von zehn Jahren überschritten wird.“) oder aus § 26 Abs. 3 NRG BW („Der Anspruch auf das Zurückschneiden der Hecken, auf Beseitigung herüberragender Zweige und eingedrungener Wurzeln sowie auf Verkürzung zu hoch gewachsener Gehölze ist der Verjährung nicht unterworfen.“) ableiten. Dies schon deshalb, da der Landesgesetzgeber nach Art. 124 EGBGB zugunsten des Nachbarn weitergehenden Beschränkungen unterwerfen könne, doch nicht abweichend vom BGB die Verjährungsfristen zu § 1004 BGB (Bundesrecht) regeln könne. Die verfassungskonforme Auslegung des § 26 NRG BW ergebe daher, dass diese Regeln sich nicht auf einen Abwehranspruch nach § 1004 BGB bezögen, da sie sonst nichtig wären.

Die Klägerin könne aber auch ihren Anspruch nur aus § 1004 BGB herleiten, nicht aus dem NRG BW. Zwar gewähre § 12 Abs. 2 und Abs. 3 NRG BW Ansprüche auf Rückschnitt für Hecken und sonstige Gehölze im Hinblick auf die Einhaltung eines Grenzabstandes, unabhängig davon, ob darin bereits eine Eigentumsbeeinträchtigung iSv. § 1004 BGB zu sehen sei. Für bestimmte Bäume sei zwar auch ein Zurückschneiden überhängender Äste geregelt (§ 23 Abs. 1 und 2 NRG BW), doch handele es sich hier nicht um einen darunter fallenden Baum, weshalb auf sich beruhen kann, ob diese Regelung nach Art. 122, 111 bzw. 183 EGBGB zulässig vom Landegesetzgeber aufgenommen werden durfte).

BGH, Urteil vom 22.02.2019 - V ZR 136/18 -

Donnerstag, 16. Mai 2019

WEG: „Geburtsfehler“ der Gemeinschaftsordnung und deren Berichtigung


Die Teilungserklärung (TE) der Wohnungseigentümergemeinschaft aus 1984 bestimmte u.a., dass dem „jeweiligen Eigentümer des Teileigentumsrechts G30 die unentgeltliche, ausschließliche Nutzung der Abstellräume I, II und II sowie der Wasch- und Trockenräume A und B“ zustehe. Nach Auseinandersetzungen über die Art der Nutzung, wurde dem Kläger u.a. durch Gerichtsurteil untersagt die Räume als Wohnung zu nutzen. Nunmehr, im vorliegenden Verfahren, verlangte der Kläger die Zustimmung zur Berichtigung der TE dahingehend, dass dem „jeweiligen Eigentümer des Teileigentumsrechts G30 die unentgeltliche, ausschließliche Nutzung der Räume I, II und II sowie der Wasch- und Räume A und B“ zustehe. Das Amtsgericht wies die Klage als unzulässig, das Berufungsgericht als unbegründet ab. Auf die zugelassene Revision hob der BGH das Berufungsurteil auf und verwies den Rechtsstreit an das Berufungsgericht zurück.

Zunächst wäre eine (gegebenenfalls auch ergänzende) Auslegung der TE vor der Prüfung einer Anpassung derselben nach § 10 Abs. 2 S. 3 WEG zu prüfen. Für die Auslegung maßgebend seien der Wortlaut und Sinn der getroffenen Regelungen in der TE, wie er sich aus unbefangener Sicht als nächstliegende Bedeutung der Eintragung ergäbe. Umstände außerhalb der TE / des Grundbuchs dürften nur insoweit herangezogen werden, als sie für jedermann ohne weiteres erkennbar seien. Eine Nutzung über die mit der Einordnung als Wohnungs- oder Teileigentum verbundene Zweckbestimmung hinaus auf lediglich bestimmte Zwecke müsse sich klar und eindeutig aus der TE bzw. Gemeinschaftsordnung (GO) ergeben. Eine schlichte Bezeichnung in dem Teilungsvertrag (TE) könne allerdings bereits ausreichend sein. Eine Zweckbestimmung ergäbe sich hier aus der Angabe als Abstell-, Wasch- und Trockenraum. Dass bereits zum Zeitpunkt der Teilung in den Räumen 18 Wohnungen vorhanden gewesen seien, wie vom Kläger behauptet, sei nicht für jedermann ersichtlich und von daher nicht berücksichtigungsfähig.

Damit sei eine Prüfung nach § 10 Abs. 2 S. 3 WEG geboten. Zwar sei die sachenrechtliche Zuordnung nicht Gegenstand einer Vereinbarung iSv. § 10 WEG, da diese der Regelung der Innenbeziehung der Wohnungseigentümer untereinander diene, also der Schaffung einer GO, die ähnlich einer Satzung die Grundlage des Zusammenlebens der Wohnungseigentümer bilde. Anders läge dies aber bei der Änderung des Inhalts eines dinglichen Sondernutzungsrechts, da dies die sachenrechtliche Zuordnung unberührt lasse. Gegenstand der Klage sei hier der Inhalt des Sondernutzungsrechts. Der Kläger begehre nicht die Umwandlung der im Gemeinschaftseigentum stehenden Dachgeschossräume in Sondereigentum, sondern eine Änderung der Zweckbestimmung, womit das dingliche Recht an den Räumen nicht berührt werde.

§ 10 Abs. 2 S. 3 WEG („Jeder Wohnungseigentümer kann eine vom Gesetz abweichende Vereinbarung oder die Anpassung einer Vereinbarung verlangen, soweit ein Festhalten an der geltenden Regelung aus schwerwiegenden Gründen unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles, insbesondere der Rechte und Interessen der anderen Wohnungseigentümer, unbillig erscheint.“) lasse unter den dort benannten Voraussetzungen  eine abweichende Vereinbarung oder die Anpassung der Vereinbarung zu. Die Kodifizierung der Norm habe gegenüber den bis dahin von der Rechtsprechung verlangten „außergewöhnlichen Umständen“ die Hürde bewusst herabgesenkt, indem nunmehr „schwerwiegende Gründe“ vorausgesetzt würden. Nicht erforderlich sei, dass sich tatsächliche oder rechtliche Umstände nachträglich verändert hätten; anwendbar sei dies auch dann, wenn Regelungen der GO von Anfang an verfehlt oder unbillig waren (sogen. Geburtsfehler; vgl. BT-Drucks. 16/887 S. 19). Die Behebung derartiger, eventuell auch bewusster „Geburtsfehler“ einer GO oder TE zu ermöglichen, sei ein wesentliches Anliegen des Gesetzgebers gewesen.

Schwerwiegende Gründe, die ein Festhalten an der bisherigen Regelung unbillig erscheinen ließen, lägen vor, wenn die von der GO geforderte Zweckbestimmung einer Nutzung der Sondereigentumseinheit entgegenstünde, die nach baulicher Ausstattung der Räume möglich wäre, und wenn ferner objektive Umstände dafür sprächen, dass dem betroffenen Wohnungseigentümer diese Nutzung eröffnet werden sollte. Diese bauliche Ausstattung müsse aber entweder bereits bei Begründung des Wohnungseigentums vorgelegen haben oder im zeitlichen Zusammenhang mit der Aufteilung vorgenommen und von den übrigen Wohnungseigentümern hingenommen worden sein. Eine eigenmächtige Änderung ohne Zustimmung nach § 22 Abs. 1 WEG wäre nicht ausreichend, da dies auf eigenes wirtschaftliches Risiko erfolge. Ferner müssten objektive Umstände vorliegen, die darauf hindeuten, dass die bestehende Regelung die tatsächliche eröffnete Nutzung der Räume nicht wiedergebe, was z.B. dann der Fall sei, wenn die Kostentragungspflicht in einem Missverhältnis zu der wirtschaftlichen Verwertbarkeit stünde, die gegeben wäre, wenn dieses nur dem Inhalts der TE gemäß genutzt werden dürfe. Ferner müsse die verlangte Änderung nach öffentlich-rechtlichen Vorschriften zum Zeitpunkt des Änderungsverlangens zulässig sein. Letztlich müsse die nach der bestehenden Zweckbestimmung zulässige Nutzung zu einer erheblichen Einschränkung der wirtschaftlichen Verwertung führen, die durch die Änderung der Zweckbestimmung behoben werden könne.

Würden die schwerwiegenden Gründe (die vom Berufungsgericht nicht geprüft wurden) bejaht, wäre zu prüfen, welche Interessen der übrigen Wohnungseigentümer gegen die geforderte Anpassung sprächen. Alleine ein abstraktes Vertrauen der übrigen Wohnungseigentümer auf Einhaltung der GO würde die Unbilligkeit iSv. § 10 Abs. 2 S. 3 WEG nicht entfallen lassen. Diesem Vertrauen auf den Bestand würde durch das Erfordernis des schwerwiegenden Grundes Rechnung getragen.

Nach diesen Grundsätzen käme ein Änderungsanspruch des Klägers auf der Grundlage von § 10 Abs. 2 S. 3 WEG in Betracht: Die 18 Wohnungen seien bereits mehr als zwei Jahre vor der Teilung fertiggestellt und vermietet worden; zugewiesen worden sei aber dem Kläger ein Sondernutzungsrecht, das keine Wohnnutzung, sondern nur eine untergeordnete Verwertung der Räume zuließe. Neben der baulichen Ausstattung spräche auch die Größe der dem Kläger zugewiesenen Miteigentumsanteile von 15.013,730/100.000 (dem größten Miteigentumsanteil) und die damit verbundene Kostentragungspflicht, die sich nach der TE nach Miteigentumsanteile richte, was nahelegen würde, dass der wirtschaftliche Wert des Anteils von vorherein in der Wohnnutzung bestanden habe. Dass hier die bestehende Regelung zu einer erheblichen Einschränkung der wirtschaftlichen Verwertung des Sondernutzungsrechts führe, sei klar.

Im Rahmen der vorzunehmenden Interessensabwägung habe besonderes Gewicht, dass die Wohnungen nach dem Vortrag des Klägers bereits seit über 30 Jahren bestanden, ohne dass es Beanstandungen durch die übrigen Wohnungseigentümer gegeben habe. Soweit sich in den letzten Jahren gegen die Wohnungsnutzung gewandt hätten, solle dies nur seinen Grund in der Zweckbestimmung, nicht in möglichen nachteiligen Auswirkungen gehabt haben. Dann aber dürften keine Interessen der übrigen Wohnungseigentümer bestehen, sich der Änderung zu verschließen und den Kläger statt dessen auf eine Änderung des unbilligen Kostenverteilungsschlüssels zu verweisen.

Damit erweise sich das Berufungsurteil als fehlerhaft, welches keine Feststellungen nach § 10 Abs. 3 S. 2 WEG getroffen habe. Allerdings dürfe es nicht „Räume“ heißen, da diese allgemeine Bezeichnung keine Wohnnutzung zuließe; die unbestimmte Bezeichnung „Raum“ würde noch nicht dem Rechtsschutzziel der Wohnnutzung entsprechen (es handelt sich hier ersichtlich um einen bisher von den Instanzgerichten unterlassenen Hinweis an den Kläger nach § 139 ZPO, seinen Antrag entsprechend nach Zurückverweisung zu ändern).

BGH, Urteil vom 22.03.2019 - V ZR 298/16 -

Dienstag, 14. Mai 2019

Leihmutter: Zur Frage der Elternschaft und Anwendung deutschen (Kollisions-) Rechts bei Leihmutter im Ausland (hier: Ukraine)


Die Beteiligten zu 1. und 2. waren deutsche Staatsangehörige Eheleute mit Wohnsitz in Deutschland. Eine mit dem Sperma des Ehemanns befruchtete Eizelle der Ehefrau wurde in der Ukraine einer ukrainischen Leimutter (Beteiligte zu 5.) eingesetzt, die im Dezember 2015 in Kiew das betroffene Kind gebar. Der Ehemann hatte bereits vor der Geburt die Vaterschaft anerkannt und haben er und die Leimutter Sorgerechtserklärungen nach § 1626a BGB abgegeben. Die Leimutter gab nach der Geburt eine Erklärung ab, dass das Kind von ihr in Ersatzmutterschaft geboren worden sei und genetische Ähnlichkeit mit den Beteiligten zu 1. und 2. habe, woraufhin das ukrainische Standesamt die Beteiligten zu 1. und 2. als Eltern registrierte und eine entsprechende Geburtsurkunde ausstellte. Zurückgekehrt nach Deutschland wurde im Januar 2016 die Auslandsgeburt entsprechend der ukrainischen Geburtsurkunde beurkundet; für das Standesamt ergab sich erst später durch eine Anfrage der Deutschen Botschaft in Kiew die Leihmutterschaft. Auf Antrag der Standesamtaufsicht (Beteiligte zu 4.) hat das Amtsgericht das Standesamt angewiesen, die Leihmutter als Mutter einzutragen: Das OLG wies die Beschwerde der Beteiligten zu 1. Und 2. Dagegen zurück. Die vom OLG zugelassene Rechtsbeschwerde gegen die Entscheidung des OLG wurde zurückgewiesen.


Die Eintragung im ukrainischen Geburtsregister und dortige Ausstellung einer Geburtsurkunde  habe keine einer Gerichtsentscheidung gleichkommende Wirkung, weshalb es sich nicht um eine anerkennungsfähige Entscheidung iSv. § 108 FamFG handele, weshalb hier die Berichtigung nach §§ 47, 48 PStG möglich sei.

Es sei deutsches Recht anzuwenden. Art. 19 Abs. 1 S. 1 EGBGB regele, dass die Abstammung eines Kindes dem Recht des Staates unterliege, in dem es seinen gewöhnlichen Aufenthalt habe; auch könne im Verhältnis zu jedem Elternteil das anzuwendende Recht nach dem Recht bestimmt werden, dem dieser Elternteil angehöre, Art. 19 Abs. 1 S. 2 EGBGB.  Bei verheirateten Müttern könne die Abstammung zudem nach dem Recht bestimmt werden, dem die allgemeinen Wirkungen ihrer Ehe bei der Geburt nach Art. 14 Abs. 1 EGBGB unterliegen, Art. 19 Abs. 3 S. 1 1. Hs. EGBGB. Die Alternativen in Art. 19 Abs. 1 EGBGB seien gleichwertig. Heimat- und Ehewirkungsstatut der Beteiligten zu 1. und 2. Würden daher vorliegend zur Anwendbarkeit deutschen Rechts führen.

Der gewöhnliche Aufenthalt sei der Schwerpunkt der Bindungen der betroffenen Person, der sogen. Daseinsmittelpunkt. Ein vorübergehender Aufenthalt in einem Staat begründe noch keinen gewöhnlichen Aufenthalt. Bei minderjährigen Kindern, insbes. Neugeborenen, sei azf die Bezugspersonen abzustellen, die es zu versorgen und zu betreuen hätten sowie deren soziales und familiäres Umfeld.

Sei die rechtliche Abstammung von keinem Elternteil zweifelsfrei feststellbar, da die in Betracht kommenden Rechtsordnungen in dieser Frage zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen, sei drauf abzustellen, ob das Kind seinen Aufenthalt alsbald wechseln würde oder an seinem gegenwärtigen Aufenthalt verbleiben würde. Es käme hier auf die soziale Integration an, was von tatsächlichen als auch rechtlichen Faktoren abhängen könne, wenn diese den künftigen Aufenthalt wirksam bestimmen würden. Dabei sei insbesondere darauf Rücksicht zu nehmen, welche Person faktisch über den Aufenthalt bestimmen würde. Danach sei für das Kind für dessen gewöhnlichen Aufenthalt von Deutschland auszugehen. So habe von vornherein bereits die übereinstimmende Absicht bestanden, dass das Kind alsbald nach der Geburt mit den Beteiligten zu 1. und 2. nach Deutschland gelange und dort verbleiben solle. Die Rechtsposition des Ehemanns sei zudem rechtlich nach deutschen und ukrainischen Recht gesichert, da er jeweils als Vater anzusehen sei.  Die rechtliche Vaterschaft des Ehemanns begründe daher auch eine deutsche Staatsangehörigkeit des Kindes, § 4 Abs. 1 StAG, weshalb es der Leihmutter in Ansehung der Mitsorgeberechtigung des Ehemanns nicht möglich sei, das Kind in die Ukraine zu verbringen. Das ukrainische Recht sehe hier keine Abstammungszuordnung des Kindes zur Ehefrau vor. Auf die Frage eines Statutenwechsels (bisher nicht entschieden) käme es nicht an, da zum Einen eine Abstammung von der Ehefrau als „Wunschmutter“ nach ukrainischen Recht nicht begründet wurde, zum Anderen die deutsche Staatsangehörigkeit der Beteiligten zu 1. und 2. einen starken Inlandsbezug aufweise, demzufolge das deutsche Kollisionsrecht schon auf die Rechtslage des Kindes bei Geburt unmittelbar Anwendung fände (BGHZ 210, 59).

Dass die Leihmutter die Übernahme einer Elternstellung ablehne, sei aufgrund der bewusst getroffenen gegenläufigen gesetzgeberischen Entscheidung in § 1591 BGB unbeachtlich. Um die gewünschte Rechtswirkungen auch für die Ehefrau herzustellen, seien die Beteiligten zu 1. und 2. auf das Adoptionsverfahren zu verweisen.

BGH, Beschluss vom 20.03.2019 - XII ZB 530/17 -

Freitag, 10. Mai 2019

WEG: Zur allgemeinen Öffnungsklausel in der Teilungserklärung und Verbot kurzzeitiger Vermietungen


In der Teilungserklärung (TE) der Wohnungseigentümergemeinschaft (WEG) war geregelt, dass eine vorübergehende oder wechselnde Vermietung der Wohnungen (z.B. an Feriengäste) gestattet sei. Ein Öffnungsklausel in der TE sah vor, dass mit einer Mehrheit von 75% aller Miteigentumsanteile die TE geändert werden kann. Mit einer entsprechenden Mehrheit fassten die Eigentümer am 29.03.2017 den Beschluss zur Änderung der TE, wonach nunmehr die Wohnungen nur noch zu Wohnzweken genutzt und vermietet werden dürften und die Überlassung an täglich oder wöchentlich wchselnde Feriengäste oder andere Personen zur kurzfristigen Beherbergung von Personen pp. ausdrücklich ausgeschlossen wurde. Der Kläger hatte diesen Beschluss angefochten. Das Amtsgericht gab der Klage statt. Die Berufung der Beklagten wurde zurückgewiesen; auch der BGH wies die zugelassene Revision zurück.

Der Beschluss beinhalte keine Gebrauchsregelung iSv. § 15 Abs. 2 WEG, sondern eine Änderung der Vereinbarung iSv. § 15 Abs. 1 WEG. Würden Einheiten wie vorliegend zu Wohnzwecken dienen, sei dies als Zweckbestimmung mit Vereinbarungscharakter anzusehen. Die zulässige Wohnnutzung umfasse auch die Vermietung an täglich oder wöchentlich wechselnde Feriengäste (BGH, Urteil vom 15.01.2010 - V ZR 72/09 -). Vorliegend sei auch ausdrücklich geregelt gewesen, dass eine entsprechende Vermietung zulässig sei. Die vorgenommene Änderung einer Vereinbarung durch Mehrheitsbeschluss bedürfe der formellen Legitimation durch Kompetenzzuweisung, die im Gesetz geregelt sein könne oder sich aus einer Vereinbarung (§ 10 Abs. 2 S. 2 WEG) ergeben könne. Vorliegend erlaube die in der Teilungserklärung enthaltene allgemeine Öffnungsklausel, die Regelungen der Gemeinschaftsordnung (als Teil der Teilungserklärung) mit qualifizierter Mehrheit zu ändern, weshalb eine Beschlusskompetenz gegeben sei.

 Die Öffnungsklausel habe lediglich die Funktion, zukünftige Mehrheitsentscheidungen formell zu legitimieren, ohne sie materiell zu rechtfertigen. Daher sei ein Änderungsbeschluss auf der Grundlage einer Öffnungsklausel nicht bereits deshalb rechtmäßig, da er die Anforderungen der Ermächtigungsgrundlage erfülle. Vielmehr seien insbesondere zum Schutz der Minderheit bestimmte fundamentale inhaltliche Schranken zu beachten. Diese ergäben sich aus §§ 134, 138m 242 BGB und den zum Kernbereich  des Wohnungseigentumsrechts zählenden Vorschriften, wozu auch unentziehbare und unverzichtbare Individualrechte gehören würden. Was nicht durch Vereinbarung geregelt werden könne, entziehe sich auch einer Regelung im Beschlussweg aufgrund einer Öffnungsklausel., weshalb ein gleichwohl gefasster Beschluss aus materiellen Gründen nichtig sei (BGH, Urteil vom 10.10.2014 - V ZR 315/13 -). Aber auch wenn es sich um ein unentziehbares, wohl aber verzichtbares Mitgliedschaftsrecht handele, sei der Beschluss aufgrund der Öffnungsklausel nur wirksam, wenn die hiervon nachteilig betroffenen Wohnungseigentümer zustimmen würden (BGH, Urteil vom 10.10.2014 - V ZR 315/13 - zur Überbürdung der bisher der Gemeinschaft obliegenden Instandhaltungspflicht auf einen Sondernutzungsberechtigten).

Vorliegend würde es sich um ein verzichtbares Individualrecht handeln, da die Wohnungseigentümer auf das ihnen bisher eingeräumte Recht zur kurzzeitigen Vermietung verzichten könnten, weshalb dies einer Vereinbarung der Wohnungseigentümer zugänglich wäre.  

Die Zweckbestimmung würde vorgeben, wie die Einheit zulässigerweise genutzt werden dürfe. Daher träfen Änderungen oder Einschränkungen in substanzieller Weise die Nutzung des Sondereigentums. Sie würden deshalb der Zustimmung des Eigentümers der Einheit bedürfen, deren Zweckbestimmung geändert werden soll, was sich aus einer verfassungskonformen Auslegung der allgemeinen Öffnungsklausel ergäbe, die dem Umstand Rechnung trage, dass das Sondereigentum als echtes Eigentum iSv. § 903 BGB und Art. 14 GG ausgestaltet sei. Gleiches gelte für Teileigentum.

Vermietungsverbote würden in die Zweckbestimmung des Wohnungseigentums eingreifen. Es würde zu einer massiven Einschränkung des in § 13 Abs. 1 WEG gewährleisteten Rechts jedes Wohnungseigentümers eingreifen, mit dem in seinem Sondereigentum stehenden Gebäudeteilen nach Belieben zu verfahren und sie insbesondere zu vermieten. Dies Einschränkung könnte daher nur rechtmäßig sein, wenn nicht nur die aktuell vermietetenden, sondern alle Wohnungseigentümer zustimmen würden, denn auch die nicht vermietenden Eigentümer seien im Hinblick auf eine künftige Nutzung eingeschränkt.

 Dabei käme es nicht darauf an, dass zwar kein generelles, sondern nur ein spezielles Vermietungsverbot beschlossen worden sei. Auch dieses würde die zuvor weite Zwekbestimmung einschränken.

Das Eigentumsrecht der übrigen Wohnungseigentümer sei auch nicht außer Acht gelassen. Diesen würden bei Störungen durch Feriengäste durch Überbelegung, fortwährende Verstöße gegen die Hausordnung oder Lärmbelästigung durch Feriengäste Unterlassungsansprüche gem. § 15 Abs. 3 WEG zur Seite stehen.

Auch der Hinweis der Beklagten, die Regelung zu Feriengästen sei in die TE aufgrund eines „kollusivem Zusammenwirkens“ des Klägers mit dem Bauträger erst aufgenommen worden, verhelfe hier den Beklagten nicht weiter, da auch ohne diese Regelung die entsprechende Vermietung zulässig sei.  

Damit sei der Beschluss rechtswidrig, da der Kläger ihm nicht zugestimmt habe.

BGH, Urteil vom 12.04.2019 - V ZR 112/18 -

Donnerstag, 9. Mai 2019

Unterlassen der beantragten Anhörung des gerichtlich bestellten Sachverständigen


Der Beklagte wandte sich mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde zum BGH gegen ein Urteil des OLG Frankfurt und rügte die Verletzung des rechtlichen Gehörs durch das OLG. Dem lag zugrunde, dass der Beklagte  eine Wohnungseigentumsanlage mit Tiefgarage errichtete und die klagende Wohnungseigentümergemeinschaft von ihm einen Kostenvorschuss für die Beseitigung eines Mangels des Tiefgaragenbodens begehrte. Die Klägerin hatte zunächst ein selbständiges Beweisverfahren durchgeführt, in dem der vom Gericht bestellte Sachverständige ein schriftliches Gutachten und drei schriftliche Ergänzungen vorlegte. Auf der Grundlage dieser Gutachten im Beweisverfahren gab das Landgericht der Klage statt. Die Berufung, in deren Rahmen die Beklagte die unterlassene, von ihm aber beantragte mündliche Anhörung des Sachverständigen rügte, wurde vom OLG ohne Anhörung des Sachverständigen zurückgewiesen.

Der BGH sah das rechtliche Gehör des Beklagten (Art. 103 GG) in entscheidungserheblicher Weise als verletzt an. Nicht nur verlange Art. 103 Abs. 1 GG, dass das Gericht die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis nehmen und in Erwägung zu ziehen habe, sondern auch, dass es erhebliche Beweisanträge berücksichtigt. Dieses Recht ergäbe sich bereits aus §§ 397, 402 ZPO und sei Teil des Grundrechts auf Gewährung rechtlichen Gehörs , womit eine Nichtberücksichtigung eines solchen Beweisangebots gegen Art. 103 Abs. 1 GG verstoße, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze fände.

Im Berufungsverfahren habe der Beklagte bereits die Verletzung rechtlichen Gehörs durch das Landgericht gerügt, da trotz seines Antrags der Sachverständige nicht mündlich angehört worden sei, womit er ersichtlich an seinem entsprechenden Anhörungsantrag aus erster Instanz festgehalten habe. Weder habe das OLG diesen Antrag erwähnt noch ausgeführt, weshalb es den Sachverständigen nicht angehört habe. Es käme nicht darauf an, ob das Gericht noch Erläuterungsbedarf sähe oder zu erwarten sei, dass der Sachverständige seine bisherige Ansicht ändere, ebensowenig darauf, ob das Gutachten Mängel aufweise. Die Parteien hätten nach §§ 397, 402 ZPO einen Anspruch darauf, dem Sachverständigen Fragen zu stellen, die sie zur Aufklärung des Sachverhalts für wesentlich ansehen, wobei dieses Recht unabhängig von § 411 Abs. 3 ZPO (Möglichkeit des Gerichts, von sich aus den Sachverständigen zum Termin zu laden) bestünde. Auch sei hier kein Ausnahmefall ersichtlich, bei dem trotz Antrag von der Anhörung abgesehen werden könne (BGH, Urteil vom 29.10.2002 - VI ZR 353/01 -: Rechtsmissbrauch und Prozessverschleppung).

Das Urteil des OLG beruhe auch auf dem Verfahrensverstoß, da sich das OLG auf dieses Gutachten beziehe und nicht ausgeschlossen werden könne, dass es nach Anhörung des Sachverständigen zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre.

Von daher wurde das Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit an das OLG zurückverwiesen, welches nun den Sachverständigen anzuhören hat. Der BGH wies zudem drauf hin, dass die Feststellung der allgemein anerkannten Regeln der Technik vom Gericht regelmäßig nur aufgrund sachverständiger Beratung getroffen werden könne.

BGH, Beschluss vom 06.03.2019 - VII ZR 303/16 -

Sonntag, 5. Mai 2019

Filesharing: Familie und prozessuale Darlegungslast


Die beklagten Eheleute des Ausgangsverfahrens (und Beschwerdeführer) wandten sich mit ihrer Verfassungsbeschwerde gegen die Entscheidung des BGH vom 30.03.2017 - I ZR 19/16 - und deren Vorentscheidungen, in denen es um die Geltendmachung urheberrechtlicher Ansprüche wegen unerlaubten Zugänglichmachens eines Musikalbums im Internet ging und die Beschwerdeführer zur Zahlung von Schadensersatz an die klagende Tonträgerherstellerin verurteilt wurde, da über deren Internetanschluss mittels Filesharing-Software auf einer Internet-Tauschbörse zum Herunterladen angeboten wurde. Begründet wurden die Verurteilung der Beschwerdeführer durch das Landgericht damit, diese hätten die Vermutung ihre Urheberschaft als Anschlussinhaber des Internetanschlusses entkräften und damit im Rahmen ihrer sekundären Darlegungslast darlegen und beweisen müssen,  ob und inwieweit andere Personen zu ihrem Internetanschluss Zugang gehabt hätten und als Täter in Betracht kämen. Ihre als Zeugen benannten Kinder hätten von den diesen zustehenden Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht, weshalb es bei der Vermutung der Täterschaft verbliebe. Das OLG verwies darauf, es wäre von den Beschwerdeführern im Einzelnen im Rahmen der sekundären Darlegungslast zu erklären gewesen, wie es zu den Rechtsverletzungen aus der Familie heraus gekommen sei. Der BGH sah in der Entscheidung des OLG keinen Rechtsfehler.

  
Von den Beschwerdeführern wurde im Rahmen der Verfassungsbeschwerde eine Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 6 Abs. 1 GG, wonach Ehe und Familie unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stehen, geltend gemacht, da der BGH keinen schonenden Ausgleich zwischen den betroffenen Grundrechte im Sinne einer praktischen Konkordanz vorgenommen habe.
  
Das BVerfG verwies darauf, dass bei Auslegung und Anwendung des Urheberrechts die vom Gesetz vorgesehene Interessensabwägung zwischen dem Eigentumsschutz der Tonträgerhersteller und den damit konkurrierenden Grundrechtspositionen nachzuvollziehen seien und unverhältnismäßige Grundrechtsbeschränkungen zu vermeiden seien. Sollten bei der Auslegung und Anwendung von einfachrechtlichen Normen mehrere Deutungen möglich sein, so verdiene jene den Vorzug, die den Wertentscheidungen der Verfassung entspräche und die Grundrechte der Beteiligten möglichst weitgehend in praktischer Konkordanz zur Geltung brächte. Die Schwelle zu einem ein Eingreifen des Verfassungsgerichts zwingenden Verfassungsverstoß sei erst erreicht, wenn die Auslegung der Zivilgerichte Fehler erkennen lasse, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung der Grundrechte beruhen würden und auch in ihrer materiellen Bedeutung für den Einzelfall von einigem Gewicht seien.

Richtig sei zwar, dass die Entscheidungen die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht aus Art. 6 Abs. 1 GG beeinträchtige. Denn damit seien Bestimmungen unvereinbar, welche die Familie schädigen. Der Schutzbereich umfasse auch das Verhältnis zwischen Eltern und volljährigen Kindern. Diese Umstände müssten bei der Auslegung und Anwendung einfachen Rechts Berücksichtigung finden.
  
Allerdings würde Art. 6 Abs. 1 der Annahme einer zivilprozessualen Obliegenheit nicht entgegenstehen, derzufolge die Beschwerdeführer zur Entkräftung der Vermutung ihrer Täterschaft als Anschlussinhaber ihre Kenntnisse über die Umstände einer eventuellen Verletzungshandlung mitzuteilen haben, mithin also auch aufdecken müssen, welches ihrer Kinder die Verletzungshandlung begangen habe, sofern sie davon Kenntnis erlangt haben. Hier käme dem Schutz des Art. 14 GG (Eigentum) des Rechtsinhabers bei Abwägung der widerstreitenden Grundrechtsgüter ein erhebliches Gewicht zu. Die Abwägung im Ausgangsverfahren trage dem Erfordernis der praktischen Konkordanz ausreichend Rechnung und sei bei der Auslegung von § 138 ZPO (Erklärungspflicht über Tatsachen) hinreichend beachtet worden.

Zwar sei auch im Zivilrechtsstreit niemand zur Selbstbezichtigung verpflichtet und fände die Wahrheitspflicht einer Partei dort ihre Grenze, so sie gezwungen würde, eine strafbare Handlung zu offenbaren bzw. Umstände zu offenbaren, die ihr zur Unehre gereichen. Dies dürfte auch dann gelten, wenn nahe Angehörige betroffen seien. In diesen Fällen könne aber der im Hinblick darauf nicht weiter verpflichteten Partei das Risiko einer für sie ungünstigen Tatsachenwürdigung auferlegt werden, da ein weitergehender verfassungsrechtlicher Schutz nicht geboten sei.

Mit der Anwendung dieser Grundsätze im Rahmen der sekundären Darlegungslast trage der BGH der Tatsache Rechnung, dass der Rechteinhaber zur Durchsetzung seiner Rechte in Filesharing-Verfahren regelmäßig keine Möglichkeit habe, zu Umständen aus dem ihrem Einblick vollkommen entzogenen Bereich der Internetnutzung durch den Anschlussinhaber vorzutragen oder Beweis zu führen. Damit würden zu seinen Gunsten in Ansehung des unter Art. 14 GG fallenden Leistungsschutzrechts deren Interesse an einer effektiven Durchsetzung des Urheberrechts gegenüber unberechtigten Verwertungshandlungen geschützt. Die Beeinträchtigung der familiären Beziehung würde sich demgegenüber in Grenzen halten, da ein Vortrag der Eltern zur Täterschaft ihrer Kinder gerade nicht erzwingbar sei; die Eltern würden insoweit nur das Risiko einer für sie ungünstigen Tatsachenwürdigung tragen. Die sekundäre Darlegungslast würde im übrigen auch nicht weiter reichen als die tatsächlichen Kenntnisse der  Beschwerdeführer (wo es vorliegend keiner Entscheidung bedürfe, ob sie eine Nachfrage- und Nachforschungsobliegenheit hätten und dies offen bliebe).


BVerfG, Beschluss vom 18.03.2019 - 1 BvR 2556/17 -

Donnerstag, 2. Mai 2019

Meinungsfreiheit: Schranken zur Annahme von Schmähkritik im Rahmen (kommunal-) politischer Auseinandersetzung


Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) musste sich mit einer Verfassungsbeschwerde gegen ein Urteil des OLG Karlsruhe auseinandersetzen, nach welchem dem dortigen Beklagten und jetzigen Beschwerdeführer (BF) unter Abänderung der landgerichtlichen Entscheidung untersagt wurde, bestimmte Äußerungen (nachfolgend unterstrichen) zu tätigen. Die Verfassungsbeschwerde führte zur Aufhebung des Urteils und zur erneuten Entscheidung an das OLG zurückverwiesen. Kläger und Beklagter des Ausgangsverfahrens waren Fraktionsvorsitzende unterschiedlicher Fraktionen eines Gemeinderates. Der Kläger sprach sich für die Verwirklichung eines Bauvorhabens durch den gleichen Bauträger für ein weiteres, umstrittenes Bauprojekt anlässlich der Eröffnung eines Bauprojekts dieses Bauträgers aus. Auf eine Anfrage eines anderen Bewerbers bei dem BF (Beklagten), unter welchen Bedingungen er auch mit einer Genehmigung er für ein von ihm geplantes Objekt rechnen könne, antwortete der BF per Mail (abschriftlich den anderen Fraktionen und dem Oberbürgermeister zugesandt), dieser möge sich an eine bestimmte Person wenden, die sich dann „nach Erfüllung bestimmter Voraussetzungen bestimmt auch ohne jegliche Einschränkung für Ihr Bauvorhaben einsetzen und sich über alle Bedenken von Fachleuten und Gremien hinwegsetzen (wird), Ihnen alle mögliche Befreiungen zu gestehen“ würde, unabhängig von städtebaulichen Belangen. Er solle die „brutalstmögliche Ausdehnung“ seines Projekts in Bezug auf Grenzabstände, GFZ und GRZ beantragen und auf das Bauvorhaben des anderen Bauträgers verweisen.  Weiter hieß es. „Unter welchen Bedingungen diese Zustimmung zu erhalten ist müssen Sie natürlich mit ihm selbst ausloten.“ Die Fraktion des benannten Ansprechpartners würde dann sicherlich zustimmen.


Das OLG vertrat die Ansicht, ein Anspruch auf Unterlassung der Äußerungen bestehe, da diese dahingehend auszulegen seien, der Kläger sei bestechlich. Einer Abwägung der einschlägigen Grundrechte (wie vom Landgericht vorgenommen) im Hinblick auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Klägers auf der einen Seite und der Meinungsfreiheit auf Seiten des BF bedürfe es daher nicht.

Dem folgte das BVerfG nicht und sah den BF in seinem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG (Meinungsfreiheit) verletzt an. Dabei wies es darauf hin, dass dieses Grundrecht zwar Werturteile als auch Tatsachenbehauptungen schütze, allerdings nicht vorbehaltlos. Nach Art 5 Abs. 2 GG finde es seine Schranken in allgemeinen Gesetzen (so § 823 Abs. 1 BGB , § 1004 Abs. 1 S. 2 BGB analog), doch erfordere eine gerichtliche Untersagung einer grundsätzlich nach Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG geschützten Meinungsäußerung eine Abwägung mit dem betroffenen allgemeinen Persönlichkeitsrecht (BVerfGE 99, 185, 196f sowie BVerfGE 114, 339, 348). Zu berücksichtigen sei dabei insbesondere, dass nach Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG nicht nur sachlich-differenzierte Äußerungen geschützt würden, sondern auch pointiert, polemisch und überspitzte Kritik geschützt würde, weshalb die Grenze zulässiger Meinungsäußerung nicht bereits da läge, wo eine polemische Zuspitzung für die Äußerung sachlicher Kritik nicht erforderlich wäre (BVerfGE 82, 272, 283f und BVerfGE 85, 1, 16).

Nur bei einer Formalbeleidigung oder sogen. Schmähkritik würde die Meinungsfreiheit hinter dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht zurücktreten (BVerfGE 82, 43, 51; BVerfGE 90, 241, 248; BVerfGE 93, 266, 294). Allerdings seien an die Annahme des Vorliegens einer Formalbeleidigung bzw. Schmähkritik strenge Anforderungen zu stellen, da sie die jeweilige Meinungsäußerung aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit unabhängig von einer Abwägung mit dem Persönlichkeitsrecht ausschließen würden. Stünde die Äußerung in einem Kontext einer Sachauseinandersetzung könne nicht mehr von einer Schmähung ausgegangen werden. Die Qualifikation als Schmähung verlange daher regelmäßig die Berücksichtigung von Anlass und Kontext der Äußerung. Davon könne nur dann abgesehen werden, wenn die die Äußerung einer derartigen diffamierenden Gehalt habe, dass sie in jedem denkbaren Zusammenhang nur noch als Herabsetzung des Betroffenen aufgefasst werden müsse. Dies sei möglicherweis bei Verwendung von besonders schwerwiegenden Schimpfwörtern (etwa aus der Fäkalsprache) der Fall. Bi einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage liege Schmähkritik nur ausnahmsweise vor, sie bleibe bliebe grundsätzlich auf die Privatfehde beschränkt (BVerfGE 7, 198, 212; BVerfGE 93, 266, 294).

Wenn ein Gericht fälschlich eine Äußerung als Formalbeleidigung oder Schmähung betrachte, weshalb es eine notwendige Abwägung unter Berücksichtigung aller Umstände unterlässt, so läge darin ein verfassungsrechtlich erheblicher Fehler, der zur Aufhebung der Entscheidung führe, wenn diese darauf beruhe.

Nach diesen Grundsätzen sah das BVerfG die Entscheidung des OLG als fehlerhaft an. Es habe die Voraussetzungen für ein Unterlassen einer Abwägung verkannt. Vom OLG sei alleine deshalb ein Sachbezug negiert worden, da die Vorwürfe gegen den Kläger mit den Genehmigungsvoraussetzungen von Bauvorhaben nichts zu tun hätten. Es habe dabei verkannt, dass sich der Kläger für die Genehmigung eines bestimmten umstrittenen Bauvorhabens öffentlich eingesetzt ausgesprochen habe und als Mitglied des Gemeinderates aktiv an der Baupolitik mitwirke. Hintergrund sei, was vom OLG im Tatbestand des Urteils auch aufgenommen worden sei, die Behandlung des Bauvorhabens im Gemeinderat gewesen.  Die Äußerung des BF auf eine Anfrage eines konkurrierenden Bauträgers habe damit ersichtlich nicht im Zusammenhang mit einer persönlichen, sondern politischen Auseinandersetzung zwischen dem BF und dem Kläger gestanden; das OLG habe verkannt, dass der sachliche Bezug einer Äußerung nicht mit deren Anlass zusammenfallen müsse.  Es dürfte zur Eigenart politischer, insbesondere parteipolitischer Auseinandersetzungen gehören, dass konkrete Vorgänge zum Anlass einer allgemeineren politischen Auseinandersetzung genommen würden, wie es vorliegend geschehen sei .

Auch habe das OLG den weiteren Inhalt der Mail nicht berücksichtigt. Die Wortwahl der weiteren Äußerungen („brutalstmögliche Ausdehnung“) würde den Ausführungen einen spöttisch-satirischen Charakter verleihen und verdeutlichen, dass die Äußerungen auf eine (wenn auch polemische) Kritik am politischen Gegner und dessen Baupolitik zielen würden. Damit sei der Bezug zur allgemeinen baupolitischen Auseinandersetzung verstärkt worden und würde dagegensprechen, in den Äußerungen nur eine bei dieser Gelegenheit gegen den Kläger als solchen gerichtete Diffamierung als „bestechliche Person“ zu sehen.  

Mit der Zurückverweisung wurde das OLG angehalten, die bisher unterlassene Abwägung vorzunehmen.

BVerfG, Beschluss vom 19.02.2019 - 1 BvR 1954/17 -