Posts mit dem Label abwägung werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label abwägung werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

Dienstag, 6. Dezember 2022

Ordnungsgeld bei Nichtwahrnehmung des Umgangsrechts, § 1684 Abs. 1 BGB

Das Amtsgericht (Familiengericht) hatte das Umgangsrecht des Antragsgegners mit seinen zwei Kinder geregelt, wonach er an jedem ungeraden Kalenderwochenende seine zwei Kinder von Freitag 14 Uhr bis Montag 8 Uhr und in den geraden Wochen Dienstag von 14.30 bis 19 Uhr Umgang mit ihnen haben sollte. Auf Antrag der Antragstellerin verhängte das Amtsgericht, nach vorangegangener Androhung, gegen den Antragsgegner mit diesem am 28.06.2022 zugestellten Beschluss ein Ordnungsgeld in Höhe von € 500,00, nach dieser das Umgangsrecht seit April den Umgang mit den Kindern nicht mehr wahrnahm. Gegen diesen Beschluss legte der Antragsgegner sofortige Beschwerde ein, die vom OLG als unbegründet zurückgewiesen wurde.

Beim Amtsgericht hatte der Antragsgegner argumentiert, er sei finanziell nicht in der Lage, für die Übernachtung seiner Kinder ein geeignetes Umfeld aufzubauen. Im Rahmen der Beschwerde begehrte der Antragsgegner auch neben der Aufhebung des Beschlusses auch die Abänderung der Umgangsregelung; es entspräche nicht dem Kindeswohl, den umgangsunwilligen Elternteil mittels Ordnungsgeld zum Umgang anzuhalten.

Das sah das OLG in Ansehung der tatsächlichen Umstände anders. Grundsätzlich müsse ein Elternteil einen Eingriff in dem Persönlichkeitsschutz im Hinblick auf die den Eltern durch Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG den Eltern auferlegte Verantwortung für ihre Kinder (BVerfGE 121, 68, 95). In § 1684 Abs. 1 BGB sei der Elternverantwortung durch die dort normierte Umgangsverpflichtung als elterliche Pflicht verankert. Damit könne ein Elternteil auch unter Beeinträchtigung seines Persönlichkeitsrechts zum Umgang mit seinen Kindern verpflichtet werden, wenn dies dem Kindeswohl diene. Allerdings habe die zwangsweise Durchsetzung der Umgangspflicht zu unterblieben, gebe es im konkreten Einzelfall keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass der erzwungene Umgang dem Kindeswohl dienen könnte.

Hier nun sah das OLG allerdings keine Gefahr für das Kindeswohl. Es vertrat die Auffassung, dass die Berufung auf finanzielle Erwägungen emotionale Gründe habe, weshalb nicht davon auszugehen sei, dass er bei einem persönliche Umgang mit den Kindern diesen gegenüber Abneigung zum Ausdruck bringen würde, und es könne auch nicht davon ausgegangen werden, dass er bei einem persönlichen Umgang seiner Verantwortung gegenüber den Kindern nicht nachkäme und den Streit mit seiner ehemaligen Frau um Geld nicht vom Verhältnis zu den Kindern trennen könne. Bei der Abwägung seien auch die Folgen einer Entfremdung der Kindern von dem Antragsgegner für ihre psychosoziale Entwicklung zu berücksichtigen. Die Anhörung der Kinder habe zudem ergeben, dass sie in der Vergangenheit problemlos auch bei dem Antragsgegner (der bei seinen Eltern mit seinem Bruder wohne) waren, dort auch früher bereits übernachteten, und  Bindungen zur Großmutter und zum Onkel zum Ausdruck gekommen seien.

Kommentar:

Damit legte das OLG dar, dass die Verweigerungshaltung, Umgang mit den eigenen Kindern Umgang zu pflegen, das Recht weder beeinträchtigt noch aus der dem Recht genüberstehenden Pflicht entbindet. Zwangsmittel, wie hier das Ordnungsgeld, sollen nur erfolgen, wenn diese Mittel dem Kindeswohl dienen. Denn das dem Umgangsrecht innenwohnende Gegenstück, die Umgangspflicht, soll nicht dazu führen, dass durch den erzwungenen Umgang das Kindeswohl gefährdet wird. Angezeigt ist damit ein Ordnungsmittel zur Erzwingung des Umgangs, wen sicher davon ausgegangen werden kann, dass dies nicht dem Kindeswohl entgegenstehen könnte. Ob dies allerdings alleine durch Anhörungen des Umgangsunwilligen und der Kinder geklärt werden kann (wie hier wohl geschehen), lässt sich kaum verallgemeinern, da dann der oder die zur Entscheidung berufenen Richter letztlich psychologische Befähigungen haben müssten, und selbst für Psychologen wäre bei gewissenhafter Expertise nicht eine kurze Anhörung nicht ausreichend. Zutreffend wird allerdings vom OLG darauf verwiesen, dass der fehlende Umgang mit (hier) dem Vater die psychosoziale Entwicklung der Kinder beeinträchtigen könnte. Es handelt sich hier also um einen Balanceakt, den das Familiengericht oder (beim OLG) der Familiensenat vollziehen muss.

Da sich hier offensichtlich der bisherige Umgang des Vaters mit den Kindern nicht al negativ erwies, er insbesondere wohl auch nicht seine Verantwortung den Kindern gegenüber vernachlässigte, dürfte die Entscheidung vor dem Hintergrund richtig sein, dass der Vater auf seine finanziellen Ressourcen zur Verweigerung der Umgangsverpflichtung verwies und wohl noch Auseinandersetzungen zwischen den (ehemaligen) Eheleuten zu finanziellen Fragen anhängig sind, die hier (wohl) vom Vater genutzt wurden. Es ist bedauerlich, wenn die Trennung der Eltern so letztlich über die Kinder ausgetragen werden, weshalb die Entscheidung des OLG zu begrüßen ist.

OLG Frankfurt, Beschluss vom 22.08.2022 - 6 WF 112/22

Mittwoch, 16. Dezember 2020

Räumungsvollstreckung und COVID-19 im Licht von § 765a ZPO

 

Der Gläubiger betrieb aus einem vollstreckunbaren Zuschlagsbeschluss die Zwangsräumung des ehemals im Eigentum des Schuldners stehenden Grundstücks. Der Antrag des Schuldners auf einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung wurde vom Amtsgericht zurückgewiesen. Die dagegen vom Schuldner eingelegte Beschwerde des Schuldners blieb ohne Erfolg.

Das Landgericht wies in seiner Entscheidung über die Beschwerde darauf hin, dass nach § 765a ZPO eine Zwangsvollstreckung vom Vollstreckungsgericht ganz oder teilweise eingestellt werden müsste, wenn sie unter voller Würdigung des Schutzbedürfnisses des Gläubigers wegen ganz besonderer Umstände für den Schuldner eine Härte darstellen würde, die nicht mehr mit den guten Sitten vereinbar wäre. Zu berücksichtigen sie, dass § 765a ZPO eine Ausnahmevorschrift sei und daher nur Anwendung finden könne, wenn nach Abwägung der Interessen die Vollstreckung durch den Gläubiger zu einem tragbaren Ergebnis führe (BGH, Beschluss vom 24.11.2005 - V ZB 99/05 -). Auf Gläubigerseite sei bei der Abwägung das grundrechtlich geschützte Vollstreckungsinteresse zu berücksichtigen, da dem Staat auch die Pflicht obliege, titulierte Ansprüche notfalls im Weger der Zwangsvollstreckung durchzusetzen. Eine sittenwidrige Härte wäre die Vollstreckung dann, wen sie den Schuldner schädige, ohne dem Gläubiger Nutzen zu bringen. Ebenso sei die Vollstreckung unzulässig, wenn sie das Leben oder die Gesundheit des Schuldners (so bei Suizidgefahr) oder eines seiner Angehörigen unmittelbar gefährde.

Diese Voraussetzungen für eine einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung nahm das Landgericht hier nicht an. Dabei würden die mit einer Vollstreckung regelmäßig einhergehenden Belastungen des Schuldners nach der zugrundeliegenden Wertung nicht das Vollstreckungsinteresse des Gläubigers aufwiegen können.

Der Schuldner wies auf durch COVID-19 bedingte Kotaktbeschränkungen hin. Dies würden (zum Zeitpunkt des Erlasses des Beschlusses) derzeit nicht bestehen, doch würden diese auch die Vollstreckung nicht hindern können. Es sei nämlich zwischen dem Gerichtsvollzieher und dem Gläubiger kein physischer Kontakt bei der Räumung notwendig. Letztlich läge dies am Verhalten des Schuldners.

Ebenso sei bei der Zwangsräumung ein unmittelbarer Kontakt des Schuldners mit dem Gläubiger erforderlich, da der Gläubiger nicht anwesend sein müsse. Im Übrigen würde der Gerichtsvollzieher entscheiden, inwieweit und mit welchen Maßnahmen eine Vollstreckung durchführbar sei. Auch stehe es dem Schuldner fei. Jederzeit freiwillig vor Eintreffen des Gerichtsvollziehgers auszuziehen, wobei sich der Schuldner auch eines Umzugsunternehmens bedienen könne. Ebenso könne auch eine Ersatzwohnung mittels elektronischer Kommunikationsmittel kontaktlos erfolgen.

Soweit die Gefahr einer Beeinträchtigung des Grundrechts auf Leben du körperliche Unversehrtheit behauptet wurde, müsse der Eintritt dieser Gefahr anhand objektiv feststellbarer Umstände mit hinreichend er Wahrscheinlichkeit nachgewiesen werden. So sei ein nicht substantiiertes ärztliches Attest aussagelos. Den entsprechenden AnfordeRungen sei der Vortrag des Schuldners nicht gerecht geworden.

Die Erhöhung eines Infektionsrisikos mit Corona könne durch geeignete Maßnahmen auf ein Minimum reduziert werden und läge insbesondere im Einflussbereich des Schuldners.

Einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung wegen eines grippalen Infekts ließe sich keine Ursächlichkeit der Erkrankung durch die Räumung entnehmen, würde diese Erkrankung aber auch der Räumung nicht entgegenstehen. Sollte mit der Bescheinigung angedeutet werden, dass sich der Schuldner mit dem Corona-Virus infiziert habe, wäre dies fernliegend, da sei dem 01.04.2020 (vor Erstellung der Bescheinigung) der gesonderte Diagnoseschlüssel U07.1 ! und U07.2 ! gelten würden und auf der Bescheinigung der Schlüssel für eine „akute Infektion der oberen Atemwege, nicht näher bezeichnet“ stünde, ohne dass dies durch den Schuldner spezifiziert worden wäre.

Den Erwägungen des Schuldners würde das überwiegende Vollstreckungsinteresse des Gläubigers entgegenstehen.

LG Verden, Beschluss vom 08.05.2020 - 6 T 33/20 -

Donnerstag, 16. April 2020

Grundrechtsabwägung: Glaubensfreiheit versus körperliche Unversehrtheit bei Corona-Bekämpfung


Der Antragsteller, Katholik, wandte sich gegen § 1 Abs. 5 der Vierten Verordnung zur Bekämpfung des Corona-Virus der hessischen Landesregierung vom 17.03.2020, zuletzt geändert 20.03.2020, in der Zusammenkünfte in Kirchen, Moscheen, Synagogen und Zusammenkünfte anderer Glaubensgemeinschaften untersagt wurden. Nachdem der HessVGH mit Beschluss vom 07.04.2020 – 8 B 892/20.N – eine einstweilige Anordnung auf Aussetzung bis zur Entscheidung in der Hauptsache ablehnte, beantragte der Antragsteller beim BVerfG eine einstweilige Anordnung. Diese wurde abgelehnt.

Das BVerfG geht nicht auf die Frage der grundsätzlichen Rechtmäßigkeit der Verordnung ein. Gegenstand ist vielmehr vor dem Hintergrund der Begründung durch den Antragssteller, dass dieser regelmäßig wöchentlich die Heilige Messe (Eucharistiefier) und die Gottesdienste an den Osterfeiertagen besuche, die Abwägung der Grundrechte, da der Antragsteller die Ansicht vertrat, ein vollständiges Zurücktreten des Grundrechts auf Glaubensfreiheit in Gestalt ungestörter gemeinsamer Religionsausübung  hinter das kollidierende Grundrecht auf Leben bzw. körperliche Unversehrtheit sei unverhältnismäßig.

Formal bezieht sich das BVerfG auf § 32 Abs. 1 BVerfGG, wonach es einen Streitfall durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln könne, wenn dies „zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten“ sei. Die die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsaktes betreffenden Gründe hätten außer Betracht zu bleiben, es sei denn die Verfassungsbeschwerde erweise sich von vornherein als unbegründet oder unzulässig; diese Begründung beinhaltet inzident die Aussage, eine offensichtlich zulässige und begründete Verfassungsbeschwerde kann auch nicht notwendig bereits Erfolg im Rahmen einer einstweiligen Anordnung haben. Bei danach anzunehmenden offenen Ausgang der Verfassungsbeschwerde seien die Folgen abzuwägen, die bei unterlassener einstweiliger Anordnung im Falle späteren Erfolgs der Verfassungsbeschwerde entstünden, gegen jene Folgen, die im Falle der Stattgabe der einstweiligen Anordnung bei späterer Erfolglosigkeit der Verfassungsbeschwerde eintreten würden (BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des 1. Senats vom 10.03.2020 - 1 BvQ 15/20 -).

Da die (noch zu erhebende) Verfassungsbeschwerde nicht offensichtlich unzulässig oder unbegründet wäre, sei vorliegend die Abwägung vorzunehmen. Die für eine vorläufige Regelung durch das BVerfG sprechenden Gründe müssten so schwerwiegend sein, dass sie den Erlass der einstweiligen Anordnung unabweisbar machen würden. Es seien die Folgen nicht nur für den Antragsteller, sondern auf alle von der Regelung Betroffenen zu berücksichtigen.

Auf der einen Seite sei hier zu berücksichtigen, dass – nach der nachvollziehbaren Darlegung des Antragstellers –  die gemeinsame Feier der Eucharistie ein zentraler Bestandteil des Glaubens sei, der nicht durch alternative Formen ersetzbar sei. Daher würde es sich um einen schwerwiegenden Eingriff in das Recht zur Glaubens- und Bekenntnisfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 und 2 GG handeln. Hätte mithin eine Verfassungsbeschwerde Erfolg, läge ein irrevisibler Eingriff in das Recht vor.

Wenn aber die einstweilige Anordnung erlassen würde, eine Verfassungsbeschwerde dann aber  keinen Erfolg haben würde, sei davon auszugehen, dass sich viele Menschen zu Gottesdiensten in Kirchen versammeln, insbesondere an den Osterfeiertagen. Die Gefahr der Ansteckung mit dem Virus, der Erkrankung von vielen Personen und der Überlastung der gesundheitlichen Einrichtungen und schlimmstenfalls auch des Todes von Menschen würde sich erhöhen. Dabei bliebe diese Gefahr durch Folgeinfektionen auch nicht auf die Teilnehmer der Gottesdienste beschränkt.

Der Staat sei zum Schutz der Grundrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 2 GG verpflichtet (u.a. BVerfG, Beschluss vom 06.12.2005 - 1 BvR 347/98 -). Hinter dieser Verpflichtung müsse das Recht auf die gemeinsame Feier von Gottesdiensten zurücktreten. Der schwerwiegende Eingriff in die Glaubensfreiheit zum Schutz von Gesundheit und Leben sei auch deshalb vertretbar, da die Verordnung vom 17.03.2020 und damit auch das in Rede stehende Verbot zeitlich bis zum 19.04.2020 befristet sei. Es sei damit sichergestellt, dass nach Maßgabe der Entwicklung der Corona-Pandemie eine Fortschreibung erfolge.

BVerfG, Beschluss vom 10.04.2020 - 1 BvQ 28/20 -

Donnerstag, 26. März 2020

Die Corona-Allgemeinverfügung und der einstweilige Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO



Man kann schon häufig Zweifel haben, ob die von den Ländern erlassenen Rechtsverordnungen bzw. Allgemeinverfügungen der Gemeinden und Landkreise zur Bekämpfung der Verbreitung des Coronavirus (SARS-CoV-2) zu deren einzelnen Regelungen eine Rechtsgrundlage haben. Vorliegend hatten sich die Antragsteller gegen eine Allgemeinverfügung des Antragsgegners gewandt, mit der die Antragsteller (die Antragstellerin litt an einer Lungenerkrankung) zum Verlassen ihrer Nebenwohnung aufgefordert wurden. Der zulässige Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs gem. § 80 Abs. 5 VwGO wurde abgewiesen.


Das OVG ging davon aus, dass im Rahmen der gebotenen summarischen Prüfung sich nicht feststellen ließe, ob die einen Verwaltungsakt darstellende Allgemeinverfügung offensichtlich rechtmäßig oder offensichtlich rechtswidrig sei. Damit sei eine weitere Interessensabwägung erforderlich, bei der auf der einen Seite die Auswirkungen in Bezug auf das öffentliche Interesse  für den Fall einer Stattgabe des Antrages, auf der anderen Seite die Auswirkungen für den Betroffenen für den Fall der Ablehnung des Antrages und eines erfolgreichen Rechtsbehelfs in der Hauptsache gegenüber zu stellen seien. Im Rahmen dieser Abwägung sei das jeweilige Vorbringen der Parteien als wahr zu unterstellen, soweit es substantiiert sei und nicht ohne weiteres erkennbar unwahr (OLG Schleswig, Beschluss vom 13.09.1991 - 4 M 125/91 -). .

Rechtsgrundlage der Allgemeinverfügung könnte § 28 Abs. 1 S. 1 IfSG sein, nach der die zuständige Behörde bei ansteckendem Krankheiten die notwendigen Schutzmaßnahmen zu treffen habe, um eine Verbreitung zu verhindern. Die Art des Eingriffs läge im Ermessen der Behörde, was damit zu begründen sei, da dies im Vorfeld nicht festgelegt werden könne. Beschränkt würde das Ermessen durch die Notwendigkeit der Schutzmaßnahme zur Verhinderung der Verbreitung der Krankheit und das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Je größer und folgenschwerer möglicherweise eintretende Schäden seien, umso geringer seien die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit von deren Eintreten, wofür das Ziel des Gesetzes zur effektiven Gefahrenabwehr spräche (§§ 1 Abs. 1, 28 Abs. 1 IfSG; vgl auch VG Bayreuth, Beschluss vom 11.03.2020 - B 7 S 20.223 -).

Zulässig sei es auch, Schutzmaßnahmen nicht nur gegen Kranke pp. getroffen werden, sondern erforderlichenfalls auch gegen Dritte. Da es sich bei CIVUD-19 um eine übertragbare Krankheit handele, sei Abschnitt 5 des Gesetzes eröffnet, und es spräche vieles dafür, soweit notwendig auch zum Verlassen des Ortes der Nebenwohnung zur Sicherstellung der ausreichenden Versorgung der Bevölkerung  mit erforderlich werdenden Notfallbehandlungen und zur Eingrenzung der Verbreitung zu zwingen. Eine abschließende Prüfung sei der Kammer „in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit“ nicht möglich. Es sei bekannt, dass derzeit und auf absehbare Zeit nicht genügend Intensivbetten und Pflegepersonal zur Verfügung stünden und die Sicherung der Leistungskapazität davon abhänge, dass sich nicht noch weitere auswärtig ansässige Personen (wobei es sich hier um eine Gemeinde mit vielen Ferienwohnungen handele) im Gebiet des Antragsgegners aufhielten.

Anmerkung dazu: Bedenklich ist, auf die Schwere der möglichen Einwirkung abzustellen, um damit die Wahrscheinlichkeit des Eintritts vernachlässigen zu können, und so einen Eingriff in ein Grundrecht (Freizügigkeit, Art. 11 Abs. 1 GG) zu rechtfertigen. Das Leben gilt als ein besonders schützenswertes Rechtsgut. Doch würde es das Leben evtl. einer Person rechtfertigen können, die Freizügigkeit aller Bewohner Deutschlands einzuschränken ?  Abzustellen wäre auf eine Abwägung der jeweiligen betroffen Rechtsgüter / Grundrechte. Unter dieser Prämisse wäre gegen die Aussage nichts einzuwenden.

Bei dem Interesse der Antragsteller stellte die Kammer darauf ab, dass diesen noch eine Hauptwohnung zur Verfügung stünde. Sollten sich hier Komplikationen ergeben, müssten sich die Antragsteller an die zuständigen Behörden des Hauptwohnsitzes wenden. Individuelle Gründe, die hier einen Verweis auf die Hauptwohnung unzumutbar machen würden, sah die Kammer nicht. Dies sei z.B. dann der Fall, wenn die Rückreise zur Hauptwohnung selbst eine schwerwiegende gesundheitliche Gefahr darstelle oder aber diese Gefahr sich durch die Ankunft und den weiteren Verbleib in der Hauptwohnung ergäbe. Die Lungenerkrankung der Antragstellerin stelle keine außergewöhnliche Härte dar, die hier einen Aufschub vor dem geschilderten öffentlichen Interesse gebieten könne. Zwar sei verständlich, wenn die Antragsteller die lungenkranke Antragstellerin vor jeder Risikoerhöhung schützen wollen, doch würden sie sich in A-Stadt in einer Lage befinden, in der sich viele Familien mit nur einem Haushalt befänden. Auch dort müsste bei entsprechenden Vorerkrankungen dem Risiko mir bekannten Vorsorgemaßnahmen (Abstandhalten, Reinigung der Hände) begegnet werden. In der Wohnung selbst wären die Antragsteller keinem erhöhten Risiko ausgesetzt.

Anmerkung dazu: Die Abwägung der Kammer basiert auf dem zugunsten des öffentlichen Interesses angenommenen Ermessen der Behörde, bei dem die Wahrscheinlichkeit des Eintritts einer Infektion zurücktreten entsprechend der Größe und Folgenschwere eines möglicherweise eintretenden Schadens. Es verwundert, dass dieser Grundsatz augenscheinlich nicht bei dem entgegenstehenden Interesse jedenfalls der Antragstellerin berücksichtigt wurde, die Lungenkrank ist und von daher zu einer besonderen Risikogruppe gehört, die gerade zu schützen wäre. Dabei mag es wohl sein, dass die Hauptwohnung ebenso sicher oder unsicher ist wie die Nebenwohnung; aber die Reise von der Nebenwohnung zur Hauptwohnung stellt sich als besonderer Gefahrenmoment dar, der hier von der Kammer nicht berücksichtigt wurde. Es handelt sich diesbezüglich nicht um einen Umstand, der jeden Haushalt betrifft, in dem eine Person wohnt, die zur Risikogruppe gehört.

Schleswig-Holsteinisches VG, Beschluss vom 22.03.2020 - 1 B 17/20 -

Donnerstag, 27. Februar 2020

Pflegeheim: Haftung für Sturz eines Demenzkranken (zum Kriterium Intimsphäre) ?


Klagen aufgrund von Schadensfällen in Alten- und Pflegeheimen sind nicht selten und werden meist von dem Krankenversicherer des Geschädigten geführt. Grundlage sind auf den Krankenversicherer  übergegangene Ansprüche, § 116 SGB X. Während der Krankenversicherer regelmäßig eine unzureichende Überwachung geltend macht, berufen sich die Betreiber auf eine – noch im Rahmen der Leistungen insbesondere der Pflegekassen – hinnehmbare Versorgung wie auch auf die Bedeutung der Privat- sowie Intimsphäre des Versicherten.

Im Zusammenhang mit der Klage des Krankenversicherers eines geschädigten Mitgliedes sah sich das OLG veranlasst, die vom Krankenversicherer als notwendig angesehene Beaufsichtigung des Mitgliedes  vor dem Hintergrund dessen Intimsphäre zu beleuchten. Der Heimvertrag würde dem Betreiber des Pflegeheims (der Beklagten) nach § 11 Abs. 1 S. 1 SGB XI Obhutspflichten zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit des Versicherten auferlegen, die sich auf die in Pflegeheimen üblichen Maßnahmen beziehen würden, die mit vernünftigen finanziellen und personellen Aufwand realisierbar seien. Maßstab seien Erforderlichkeit und Zumutbarkeit. In diesem Zusammenhang wies das OLG aber auch darauf hin, dass im Rahmen dieser Abwägung zu beachten sei, dass „beim Wohnen in einem Heim die Würde sowie die Interessen und Bedürfnisse der Bewohner vor Beeinträchtigungen zu schützen und die Selbständigkeit, die Selbstbestimmung und die Selbstverantwortung der Bewohner zu wahren und zu fördern“ seien (BGH, Urteil vom 28.04.2005 - III ZR 3994 -). Da es sich um teilweise schwierige Entscheidungen handele, sei den Pflegenden ein Beurteilungsspielraum einzuräumen. Zu prüfen sei danach, ob die Entscheidung in der konkreten Situation vertretbar sei.

Damit begründete das OLG seine Ansicht, dass es nicht darum gehen würde und könne, jeden Unfall durch umfassende Sicherungsmaßnahmen zu verhindern (OLG Koblenz, Urteil vom 21.03.2002 - 5 U 1648/01 -). Es seien hier nicht die für Krankenhäuser entwickelten Grundsätze anzuwenden. Speziell eine Beaufsichtigung beim Toilettengang sei immer von der konkreten Hilfsbedürftigkeit des Patienten abhängig. Hier wäre insbesondere die Intimsphäre des Patienten (Versicherten) zu berücksichtigen. Eine weitgehend restriktive Handhabung im Umgang mit dem Patienten aus dem Gesichtspunkt der Sicherungsfunktion heraus würde auf Kosten eines menschenwürdigen Daseins und Alltagsleben dieser Menschen gesehen. Es müssten damit besondere Umstände vorliegen, die diesen Eingriff in die Intimsphäre rechtfertigen könnten. Hier sei  - bestätigt von einem Pflegegutachten -  vom Betreiber korrekt eingestuft worden, dass aufgrund bisheriger Erfahrungen und Verhaltensweisen der Patientin, auch wenn diese an Demenz erkrankt sei (deren Grad nicht festgestellt wurde), nicht damit gerechnet werden musste, diese würde alleine von dem WC-Sitz aufstehen oder im Sitz den Halt verlieren. Deshalb sei unter Beachtung der zu wahrenden Intimsphäre  die Entscheidung der fehlenden Sicherung bei diesen Verrichtungen der Patienten nicht zu beanstanden.  

Der weitere Versuch des Krankenversicherers, eine Pflichtwidrigkeit des Betreibers daraus ableiten zu wollen, dass es an einem generellen Pflegeplan ermangelte, wurde auch vom OLG zurückgewiesen. Es käme, wie vom Sachverständigen geäußert, auf die Tagesverfassung des Patienten an, weshalb eine einheitliche Pflegeplanung nicht möglich sei und die die fachliche geeigneten Pflegekräfte könnten hier eine eigene Einschätzung vornehmen und ihr Verhalten danach ausrichten.

OLG Karlsruhe, Urteil vom 18.09.2019 - 7 U 21/18 -

Freitag, 8. Juni 2018

Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG) versus Persönlichkeitsrecht(Art. 2 Abs. 1 iVm. 1 Abs. 1 GG) bei Straßenfotografie


Der Beschwerdeführer nahm an einer Straßenausstellung („Ostkreuz: Wetswärts. Neue Sicht auf Charlottenburg“), teil, in deren Rahmen 24 Ausstellungstafeln mit 146 Fotografien im öffentlichen Bereich gezeigt wurden. Auf einem der Fotos, gefertigt vom Beschwerdeführer und Beklagten des vorangegangenen Verfahrens) war die Klägerin des vorangegangenen Verfahrens zu sehen, die mit einer Handtasche in der einen Hand, einer Plastiktüte in der anderen Hand an einer Ampel eine Straße überquerte und in Richtung der Kamera zu blicken scheint, wobei ihr Gesicht gut erkennbar war. Die Person der Klägerin nahm auf dem Bild, welches eine Ausstellungstafel von 120 x 140cm füllte, einen Anteil von 1/3 ein. Der Beschwerdeführer hatte die Klägerin nicht um Erlaubnis gefragt, die diesen abmahnte; die strafbewehrte Unterlassungserklärung gab der Beschwerdeführer ab, zahlte aber nicht die dann im Zivilverfahren streitgegenständlichen Anwaltsgebühren und begehrten fiktiven Lizenzkosten; Der Beschwerdeführer wurde zur Zahlung der Anwaltsgebühren verurteilt; die fiktiven Lizenzkosten wurden der Klägerin versagt. Der Beschwerdeführer wandte sich mit der Verfassungsbeschwerde gegen seine Verurteilung zur Zahlung der Anwaltsgebühren von € 795,46.

Die Verfassungsbeschwerde wurde zurückgewiesen.

Das Foto stelle ein unverfälschtes Abbild der Realität dar. Dies würde nicht einem Kunstwerk entgegenstehen, da ersichtlich würde, dass der Beschwerdeführer ersichtlich die Wirklichkeit künstlerisch gestalten wollte. Ziel einer Straßenfotografie sei gerade, die Realität unverfälscht abzubilden, wobei das spezifisch Künstlerische in der Auswahl des Realitätsausschnitts läge und in der Gestaltung mit fotografischen Mitteln zum Ausdruck käme. Es handele sich damit bei dem Foto um ein Kunstwerk, bei dem Einrücke, Erfahrungen und Erlebnisse des Künstlers durch das Medium Fotografie zur Anschauung gebracht würden.

Von der Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 3 S. 1 G) sei nicht nur die Anfertigung der Fotografie umfasst, sondern auch deren öffentliche Ausstellung.

Im Rahmen des Abwehranspruchs der Klägerin nach §§ 1004 Abs. 1 S. 2 iVm. 823 Abs. 1 BGB, 22ff KUG habe das Kammergericht im Berufungsrechtszug die Bedeutung und Tragweite der Kunstfreiheit richtig gewürdigt. Der Einfluss der Grundrechte auf die Auslegung und Anwendung der zivilrechtlichen Normen sei nicht auf Generalklauseln beschränkt, sondern erstrecke sich auf alle auslegungsfähigen und –bedürftigen Tatbestandsmerkmale der zivilrechtlichen Vorschriften. Eine Korrektur durch das Verfassungsrecht sei nur möglich, wenn Fehler im Urteil erkennbar wären, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung der Grundrechte beruhen würden, insbesondere zum Schutzbereich, und auch in ihrer materiellen Bedeutung für den konkreten Rechtsfall von einigem Gewicht seien, insbesondere wenn darunter die Abwägung der beiderseitigen Rechtspositionen im Rahmen der privatrechtlichen Regelungen leiden würde.

Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG gewährleiste zwar die Kunstfreiheit vorbehaltslos, aber nicht schrankenlos. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht nach Art 2 Abs. 1 iVm. 1 Abs. 1 GG würde Grenzen der Kunstfreiheit ziehen. Zum Persönlichkeitsrecht würden das Verfügungsrecht über die Darstellung der eigenen Person, die soziale Anerkennung und die persönliche Ehre gehören. Außerhalb der Voraussetzungen einer örtlichen Abgeschiedenheit könne dem Persönlichkeitsrecht ein erhöhtes Gewicht zukommen, so bei Abbildungen des Betroffenen in Momenten der Entspannung oder des Sich-Gehen-Lassens außerhalb der Einbindung in die Pflichten des Berufs und des Alltags.

Auch die Kunstfreiheit würde für das Persönlichkeitsrecht Grenzen ziehen, weshalb es nicht ausreichend wäre, eine Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts festzustellen. Zu klären wäre im Einzelfall, ob die Beeinträchtigung derart schwerwiegend ist, dass die Freiheit der Kunst zurücktreten müsse, Eine schwerwiegende Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts ließe sich durch die Kunstfreiheit nicht rechtfertigen.

Für die Lösung der Spannungslage könne auch nicht alleine auf die Wirkung des Kunstwerks im außerkünstlerischen Sozialbereich abgehoben werden, vielmehr müsse auch kunstspezifischen Gesichtspunkten Rechnung getragen werden.

Das Kammergericht habe die Bedeutung und Tragweite der Kunstfreiheit bei der Zuordnung des Bildes zum Anwendungsbereich des § 23 Abs. 1 Nr. 4 KUG und in das Ergebnis seiner Abwägung im Rahmen des § 23 Abs. 2 KUG einbezogen und sei damit auch den Eigengesetzlichkeiten der Straßenfotografie gerecht geworden. Die Schwere der Beeinträchtigung habe es aus der Art der Präsentation des Bildes als großformatigen Blickfang an einer belebten öffentlichen Straße in einer Millionenstadt hergeleitet und dabei auch erkannt, dass es mit der Kunstfreiheit nicht vereinbar wäre, den Wirkbereich von vornherein auf Galerien, Museen oder sonstige räumlich begrenzte Ausstellungsflächen zu begrenzen. Damit sei auch vom Kammergericht nicht von vornherein die ungestellte Abbildung von Personen (ohne ihre Erlaubnis) nicht generell unmöglich gemacht.

BVerfG, Beschluss vom 08.02.2018 - 1 BvR 2112/15 -

Donnerstag, 20. Juli 2017

Zwangsversteigerung und Suizidgefahr

Die Suizidgefahr hindert häufig eine Vollstreckung einer Wohnung, sei es im Rahmen der Räumungsvollstreckung aus einem in einem Mietrechtsverfahren erwirkten Titel, sei es im Rahmen eines Zwangsversteigerungsverfahrens. Vorliegend musste sich der BGH mit der Frage auseinandersetzen, ob ein Zuschlagsbeschluss in einem Zwangsversteigerungsverfahren bei psychischer Erkrankung des Schuldners, bei der ernsthaft mit seinem Suizid gerechnet werden muss, ergehen darf.

Im Laufe des Verfahrens hatte der Schuldner mehrfach erfolgreich einen Zuschlag auf Grund seines gesundheitlichen Zustandes verhindert. Teilweise hatte er auch eine (nicht erfolgreiche) Therapie wahrgenommen. Schließlich versagte das Amtsgericht neuerlich einen Zuschlag in Ansehung der Suizidgefahr bei dem Schuldner, setzte das Verfahren zeitlich befristet aus und gab dem Schuldner die Auflage zur Aufnahme einer psychotherapeutischen Maßnahme mit dem Hinweis, bei Nichtbefolgung keinen weiteren Vollstreckungsschutz zu gewähren. Vor einem auf dem 30.06.2016 bestimmten erneuten Zwangsversteigerungstermin stellte der Schuldner erneut einen Vollstreckungsschutzantrag mit der Begründung, er sei zu einer Therapie nicht in der Lage gewesen und außerdem sei seine Skepsis an einem Behandlungserfolg geblieben. Am 14.07.2016 wies das Amtsgericht den Vollstreckungsschutzantrag zurück und erteilte dem Ersteher den Zuschlag. Das Beschwerdegericht hat nach Einholung gutachterlicher Stellungnahmen der Amtsärztin die Suizidgefahr für begründet angesehen und die Auffassung vertreten, dass keinerlei Aussicht darauf bestehe, dass der Schuldner eine längerfristige Psychotherapie aufnehme und keine Aussicht darauf bestehe, dass sich der Zustand des Schuldners in den nächsten Jahren verändern würde. Auch eine Unterbringung käme nicht in Betracht, da diese nicht dauerhaft helfen würde. Damit käme allenfalls eine dauerhafte Einstellung des Zwangsversteigerungsverfahrens ohne Auflagen in Betracht, was aber einem Eingriff in das Eigentumsrecht des Gläubigers gleichkäme. Von daher wies es die Beschwerde des Schuldners zurück.

Auf die Rechtsbeschwerde hob der BGH die Entscheidung des Beschwerdegerichts auf und verwies zur erneuten Entscheidung an das Beschwerdegericht zurück.

Zutreffend sei, so der BGH, dass die Interessen des Schuldners an Lebensschutz mit jenen des Gläubigers nach Art. 14 und 19 Abs. 4 GG abzuwägen sind.

Kann der Suizidgefahr nach polizeirechtlichen Vorschriften oder durch Unterbringung nach einschlägigen Landesgesetzen oder betreuungsrechtliche Unterbringung (§ 1906 BGB) abgewendet werden, scheidet eine Aussetzung des Zwangsversteigerungsverfahrens aus. Das Vollstreckungsgericht sei daher gehalten, die einschlägigen Stellen zu beteiligen, wenn entsprechende Maßnahmen als Alternative zur einstweiligen Einstellung in Betracht kämen.

Würde allerdings fest stehen oder ist aller Voraussicht nach davon auszugehen, dass dies zu einer dauerhaften Verwahrung führt, würde dies Verfahren ausscheiden und sei (gegebenenfalls wiederholt) auf Zeit das Verfahren einzustellen. Dies würde auch dann gelten, wenn der Gefahr der Selbsttötung nur durch eine jahrelange Unterbringung ohne therapeutischen Nutzen begegnet werden könnte.  Anders würde es sich nur verhalten, wenn innerhalb eines überschaubaren Zeitraums die Freiheitsentziehung eine Chance zur Stabilisierung durch therapeutische Maßnahmen biete.

Diese Vorgaben habe das Beschwerdegericht nicht beachtet. Der Umstand, dass psychotherapeutische Behandlungen durch den Schuldner abgebrochen bzw. gar nicht erst aufgenommen würden, ließe nicht den Schluss zu, dass eine Unterbringung auch nicht erfolgversprechend ist. Gerade die Feststellung des Beschwerdegerichts zur Antriebslosigkeit des Schuldners schließe einen Erfolg einer Unterbringung nicht aus. Das Beschwerdegericht hätte die Amtsärztin bzw. einen psychiatrischen Sachverständigen befragen müssen.

Auch die Ausführung des Beschwerdegerichts, eine Unterbringung käme vorliegend nicht in Betracht, könne die Entscheidung nicht stützen. § 11 Abs. 1 PsychKG NRW erlaube eine Unterbringung, wenn und solange eine krankheitsbedingte Selbstgefährdung bestehe und nicht anders abgewendet werden kann. Damit hätte das Beschwerdegericht die für den Antrag auf Unterbringung zuständige örtliche Ordnungsbehörde nach § 12 PsychKG NRW einschalten müssen.

Im Übrigen käme auch eine Unterbringung nach dem Betreuungsrecht (§ 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB) in Betracht, wenn zwar keine akute, unmittelbare Gefahr für den Betreuten bestünde, aber eine ernstliche und konkrete Gefahr für dessen Leib und Leben (ohne dass die Anforderungen hier überspannt werden dürften). Zwar dürfe gegen den freien Willen eines Volljährigen ein Betreuer nicht bestellt werden (§ 1896 Abs. 1a BGB), doch habe das Beschwerdegericht keine Feststellungen dazu getroffen, ob sich der Schuldner einer solchen Betreuung widersetzen würde.

Das Beschwerdegericht müsste also zum einen das Betreuungsgericht einschalten, gegebenenfalls gleichzeitig die nach § 12 PsychKG NRW zuständige örtliche Stelle.

Auch wenn das Beschwerdegericht abschließend zu dem Ergebnis gelangt, dass eine zeitweise Unterbringung des Schuldners vor dem Zuschlagsbeschluss keine Aussicht auf Erfolg hat oder aus rechtlichen Gründen nicht möglich ist, so könne es nicht eine befristete Einstellung mit den genannten Erwägungen ausschließen, selbst wenn die Aussichten auf eine Besserung des Gesundheitszustandes des Schuldners gering sein sollten.

Anmerkung: Der BGH folgt schon vom Ergebnis nicht der Annahme des Beschwerdegerichts, dass bei geringer Aussicht auf Erfolg für eine Änderung der psychischen Situation des Schuldners eine weitere Einstellung nicht in Betracht käme und dem Eigentumsrecht des Gläubigers Rechnung getragen werden müsse.


BGH, Urteil vom 16.03.2017 - V ZB 150/16 - 

Sonntag, 11. September 2016

Schmähkritik/Beleidigung versus Wahrnehmung berechtigter Interessen bei Justizkritik

Der Angeklagte hatte in einem Beschwerdeverfahren vor dem OLG München eine Anhörungsrüge erhoben, mit der er sich gegen die Nichteinleitung eines Ermittlungsverfahrens wegen einer von ihm erstatten Strafanzeige und seiner Verwerfung seines Klageerzwingungsantrags durch das OLG wandte. Hier führte er u.a. aus:

"Ihr Gefühl von Machtvollkommenheit kennt offenbar keine Grenzen, keine Scham. Anders ist es nicht zu erklären, dass Sie … den reinen Unsinn fabrizieren. ..
Der Unterschied zwischen Ihnen und Roland Freisler liegt in Folgendem: Während Roland Freisler im Gerichtssaal schrie und tobte und überhaupt keinen Wert darauf legte, das von ihm begangene Unrecht in irgendeiner Weise zu verschleiern, gehen Sie den umgekehrten Weg: Sie haben sich ein Mäntelchen umgehängt, auf dem die Worte "Rechtsstaat" und "Legitimität" aufgenäht sind. Sie hüllen sich in einen Anschein von Pseudolegitimität, die sie aber in Wahrheit in keiner Weise für sich beanspruchen können. Denn in Wahrheit begehen Sie - zumindest in diesem vorliegenden Justizskandal - genauso schlicht Unrecht, wie es auch Roland Freisler getan hat. So betrachtet ist das Unrecht, das Sie begehen noch viel perfider, noch viel abgründiger, noch viel hinterhältiger als das Unrecht, das ein Roland Freisler begangen hat: Bei Roland Freisler kommt das Unrecht sehr offen, sehr direkt, sehr unverblümt daher. Bei Ihnen hingegen kommt das Unrecht als unrechtmäßige Beanspruchung der Begriffe Rechtsstaatlichkeit und Demokratie daher: Sie berufen sich auf die Begriffe Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, handeln dem aber - zumindest in dem vorliegenden Justizskandal - zuwider.".

Das Amtsgericht verurteilte den Angeklagten wegen Beleidigung. Die Berufung wurde vom Landgericht verworfen. Im Rahmen der von ihm erhobenen Revision zum OLG, mit der er u.a.  geltend machte, dass seine Anhörungsrüge, die beanstandet wurde, eine Änderung der Sachentscheidung bezwecken sollte und das Landgericht die Reichweite der Meinungsfreiheit von Rechtsanwälten im Lichte der Rechtsprechung des EGMR verkannt habe. Auf die Revision wurde das Urteil aufgehoben und das Verfahren zur weiteren Sachverhaltsaufklärung an das Landgericht (zu einer anderen Strafkammer) zurückverwiesen.

Vom OLG wurde darauf hingewiesen, dass § 193 StGB eine Ausprägung des Grundrechts auf freie Meinungsfreiheit sei, Art. 5 Abs. 1 GG. Dieses Grundrecht wäre allerdings nur im Rahmen der allgemeinen Gesetze, so dem Strafrecht, gewährleistet. Diese allgemeinen Gesetze müssten allerdings im Lichte des Grundrechts im freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat ausgelegt werden.

Eine ehrverletzende Äußerung läge dann vor, wenn die Grenze zur Schmähkritik überschritten sei. Selbst eine überzogene und eine ausfällige Kritik mache allerdings diese noch nicht zu Schmähkritik. Diese läge nur vor, wenn in ihr nicht mehr die Auseinandersetzung mit der Sache , sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund stünde. Hier habe sich der Angeklagte konkret im Zusammenhang mit dem Verfahren unter Bezugnahme auf vorherige Schreiben geäußert und ausgeführt, dass er das Vorgehen des Landgerichts im Zivilverfahren und der Staatsanwaltschaft für rechtswidrig hält und sein Unverständnis darüber zum Ausdruck über den Senat des OLG zum Ausdruck gebracht, der in keine Sachprüfung einstieg. Von daher könne nicht davon ausgegangen werden, dass eine Diffamierung von Mitgliedern des Senats im Vordergrund stand. Zwar habe der Angeklagte harsche Worte gebraucht; allerdings sei deswegen die Grenze zur Schmähkritik nicht überschritten, da die mittelbare Kritik an der Person nicht die sachliche Kritik in den Hintergrund treten ließ. Auch könne dem Landgericht bei seiner Begründung der Zurückweisung der Berufung nicht gefolgt werden, dass das beanstandete Schreiben keine verfahrensrelevante Bedeutung mehr gehabt habe: Das Landgericht habe damit das Wesen der Anhörungsrüge verkannt, die bei Vorliegen einer hier behaupteten Verletzung rechtlichen Gehörs zur Nachprüfung der Entscheidung zwinge.


OLG München, Beschluss vom 11.07.2016 – 5 OLG 13 Ss 244/16 -

Sonntag, 21. August 2016

Verkehrsunfall: Begegnungsverkehr auf schmaler Straße und Haftungsquotelung

Auf einer 5,8m breiten Straße begegneten sich die Traktoren (nebst angehängten Arbeitsgeräten) der Parteien.  Das klägerische Gespann fuhr mit einer Geschwindigkeit von 35 – 40km/h, das Gespann des Beklagten mit ca. 30km/h. Die angehängten Arbeitsgeräte hatten eine Breite von 2,85 bzw. 3,03m.  Als die Fahrzeuge etwa auf gleicher Höhe waren, lenkte der Fahrer des klägerischen Gespanns dieses nach rechts auf die dortige Grasnarbe und geriet dabei in eine überwachsene Bodenmulde, wodurch das Gespann umkippte. Das Landgericht hat mangels Nachweises eines Verschuldens eine beiderseitige Betriebsgefahr angenommen und den Schaden zu je ½ gequotelt. Die dagegen gerichtete Berufung des Belagten wurde vom OLG zurückgewiesen.

Das OLG wies darauf hin, dass es für eine Haftung nicht erforderlich wäre, dass sich die Fahrzeuge berührt hätten. Die Haftung wäre bereits dann gegeben, wenn der Unfall auch nur mittelbar durch das andere Fahrzeug verursacht wurde. Dafür sei die bloße (zeitliche und örtliche) Anwesenheit noch nicht ausreichend. Es müsse eine Verkehrsbeeinflussung vorliegen, die zur Schadensentstehung beigetragen habe. Ausreichend sei insoweit, wenn die Fahrweise den anderen Verkehrsteilnehmer zu einer Ausweichbewegung veranlasse.

Vorliegend, so das OLG, erfolgte die Ausweichbewegung bei Annäherung beider Traktoren und galt ersichtlich mit Blickt auf den Traktor des Beklagten. Damit ist eine Abwägung nach § 17 Abs. 2 StVG vorzunehmen.

Zu berücksichtigen wäre zum einen die von beiden Verkehrsteilnehmern ausgehende Betriebsgefahr. Allerdings wäre zusätzlich auch ein unfallursächliches verschulden gem. § 1 Abs. 2 StVO in die Abwägung mit einzustellen. Denn beide sind den an sie gestellten Anforderungen einer besonderen Sorgfaltspflicht auf schmaler Straße nicht nachgekommen. Eine Begegnung dürfe mit zügiger fahrt nur stattfinden, wenn zwischen den sich begegnenden Fahrzeugen unter Berücksichtigung eines nötigen Abstandes zum jeweiligen rechten Fahrbahnrand ein Seitenabstand von mindestens 1m eingehalten würde. Kann dieser Abstand nicht gewahrt werden, muss dieser Umstand durch Reduzierung der Geschwindigkeit ausgeglichen werden. Reicht auch das nicht, hätten beide Fahrzeuge anzuhalten und die Fahrer müssten sich verständigen, welcher Fahrer am stehenden Fahrzeug vorbeifährt. Gegen diese Pflicht nach § 1 Abs. 2 StVO hätten beide Fahrzeugführer schuldhaft verstoßend, da der Abstand zwischen beiden Gespannen nicht hätte 1m betragen können.


OLG Hamm, Urteil vom 07.06.2016 – 9 U 59/14 -